Felsen herab. Ihn zu erklimmen, war jedoch schwierig. Thomas war so von Kraften, da? sie ihn buchstablich hinaufziehen mu?ten. Die Ziege wurde am Seil hochgezerrt, und es grenzte fast an ein Wunder, da? niemand verletzt wurde, als das verangstigte Tier mit den spitzen, hart gepanzerten Hufen dabei wild um sich schlug.

Es war schon eine seltsame Empfindung: Mehrere Stunden lang waren sie die enge, halbdunkle Schlucht emporgeklommen, hatten nur das Rauschen des Wassers vernommen, plotzlich jedoch standen sie im Banne von so viel Raum und Weite, wie es Oleg noch nie gesehen hatte.

Die schneebedeckte, hier und da das Gestein freigebende Hochebene erstreckte sich uber mehrere Kilometer und stie? gegen eine Gebirgswand. Hinter ihnen dagegen fiel sie als endloser steiler Hang ab und verlor sich in einem breiten Tal, das zunachst kahl und steinig, danach aber von Gebusch— und Baumtupfen bedeckt war. Erst zum Horizont hin ging das Grun ineinander uber und verschmolz zu dichtem, unubersehbarem Wald. Dort, drei Tage Wegstrecke von ihnen entfernt, lag auch die Siedlung, die man von dieser Stelle aus freilich nicht sehen konnte.

„Hier“, sagte Thomas, noch immer nach Luft ringend, „hier begriffen wir, da? wir gerettet waren. Wir kamen von den Bergen, doch was hei?t kamen, wir krochen, zogen, selber halb erfroren, die Kranken hinter uns her, glaubten schon an nichts mehr und gelangten urplotzlich an den Rand dieser Hochebene. Sie steigt, wie ihr sehen konnt, leicht bis zu uns an, deshalb wu?ten wir erst, als wir hier anlangten, da? es wieder Hoffnung fur uns gab. Damals herrschte ein heftiges Schneetreiben … ja, wer war seinerzeit eigentlich der erste? Ich glaube, Boris. Aber naturlich, es war Boris. Er eilte etwas voraus und blieb plotzlich stehen. Ich wei? noch genau, wie unvermittelt er innehielt, war aber zu erschopft, um zu begreifen, weshalb er das tat. Als ich dann ankam, sagte er kein Wort. Er weinte, und sein Gesicht war ganz vereist. Die Sicht war an diesem Tag schlecht, doch mitunter lichtete sich der Schneeschleier fur eine Minute, und wir begriffen, da? dort unten ein Tal lag, in dem Baume wuchsen. Das aber bedeutete Leben …“

Wind ging, zum Gluck nicht sehr stark, die Ziege tobte ausgelassen umher, freute sich an der Weite, vollfuhrte, das zottige Hinterteil hochwerfend und tiefe dreieckige Spuren auf dem Schneelaken hinterlassend, gro?e Sprunge. Sie blieb an einer braunen Stelle stehen und begann die gefrorene Erde mit dem Hornhocker auf der Nase aufzurei?en. Dabei seufzte sie und meckerte begehrlich offenbar steckte etwas ungemein Schmackhaftes im Boden.

„Hier gibt’s kein Wild“, sagte Dick vorwurfsvoll zu Thomas, als sei der schuld. „Wenn alles normal verlauft, sind wir in drei oder vier Tagen am Ziel“, erwiderte Thomas.

„Ich denke, ihr habt zwei Wochen gebraucht.“

„Ja, dreizehn Tage. Damals herrschte starker Frost, wir hatten viele Kranke und Verletzte bei uns, jetzt dagegen sind wir fast ohne Gepack. Erstaunlich, wirklich … Als war’s erst gestern — Boris und ich stehen hier an dieser Stelle und schaun hinunter ins Tal. Und wir begreifen, da? es Hoffnung gibt.“

Bis Einbruch der Dunkelheit brachten sie die Hochebene hinter sich und erreichten das Gebirgsvorland.

In der Nacht wurde es kalter, fiel die Temperatur unter Null. Dick und Oleg schliefen au?en, Marjana und Thomas in der Mitte. Thomas hatte sich im Laufe des Tages so verausgabt, da? er nicht mal protestierte. Er gluhte, konnte aber dennoch nicht warm werden, und als er bald darauf von trockenem Husten geschuttelt wurde, nahm Oleg ihn in die Arme, versuchte ihm von seiner Warme abzugeben.

Marjana gab ihm eine Hustenmixtur zu trinken, die sie selbst gebraut hatte. Das Madchen konnte nicht schlafen und unterhielt sich, um die Nacht zu verkurzen, flusternd mit Oleg. Dick storte das, und er fauchte demonstrativ.

Schlie?lich sagte er: „Morgen gibt’s keine Tagesrast, ist das klar?“

„Na und?“ erwiderte Oleg. „Ich la? euch marschieren, und wenn ihr noch so pennen wollt.“

„Keine Bange“, sagte Oleg, „unsretwegen wird’s keine Verzogerung geben.“

„Egal, wegen wem.“

Oleg widersprach nicht, obwohl er genau begriff, da? Thomas gemeint war. Er dachte, der Kranke schliefe und hore es nicht, doch das war nicht der Fall. Thomas sagte: „Ich glaube, ich habe eine Lungenentzundung.

Entschuldigt, Freunde, da? alles so dumm gekommen ist.“

Sie hatten das Zelt in einer gro?en Felsnische aufgeschlagen, denn hier war es warmer als auf offenem Gelande. Die Ziege machte sich neben ihnen zu schaffen, wuhlte raschelnd im Boden.

„Was sucht sie blo??“ flusterte Marjana.

„Schnecken“, antwortete Oleg. „Ich hab gesehen, wie sie eine gefunden hat.“

„Ich dachte, den Schnecken war’s hier zu kalt.“

„Wir leben ja auch, folglich konnen’s andere genauso.“

„Hier gibt's nicht das geringste“, knurrte Dick, „schlaft jetzt.“

Thomas begann wieder zu husten, und Marjana gab ihm erneut zu trinken. Man horte seine Zahne gegen den Becherrand schlagen.

„Du solltest doch lieber umkehren“, sagte Dick.

„Zu spat“, erwiderte Thomas, „bis zur Siedlung schaffe ich es nie.“ „Du bist ein Dummkopf, Dick“, sagte Marjana „hast unsere Gesetze vergessen.“

„Ich habe gar nichts vergessen“, widersprach Dick laut.

„Ich wei?, da? wir uns um die Kranken kummern mussen.

Ich wei?, was Pflicht bedeutet, wei? es nicht schlechter als du. Andererseits ist mir immer wieder eingebleut worden: Wenn wir’s diesmal nicht zum Pa? schaffen, wenn wir nicht Eisen und Instrumente herbeischleppen, kann es das Ende der Siedlung bedeuten. Das hab nicht ich mir ausgedacht. Ich glaub sowieso nicht, da? die Siedlung zu zugrunde geht. Wir leben auch ohne Eisen und ahnliche Dinge ausgezeichnet. Ich kann mit meiner Armbrust einen Baren auf hundert Schritt Entfernung erlegen.“

„Kunststuck“, sagte Oleg, „hast schlie?lich Eisenspitzen auf den Pfeilen. Wenn Sergejew sie nicht geschmiedet hatte, mocht ich dich den Baren mal erlegen sehn.“

„Ich kann solche Spitzen auch aus Stein herstellen. Es geht nicht ums Material, sondern ums Geschick. Jetzt aber scheucht man uns in diese Berge …“

„Niemand scheucht dich, du bist freiwillig mitgegangen“, erwiderte Oleg.

„Also gut, freiwillig. Ich hab ja auch keine Angst, nur ihr wi?t selber — in ein paar Tagen gibt’s Schnee, und wenn wir uns weiterhin so langsam bewegen, kommen wir nie uber den Pa?. Moglicherweise auch nie wieder zuruck.

Das aber ware ausgesprochen dumm.“ „Was also schlagst du vor?“ fragte Oleg. Weder Thomas noch Marjana mischten sich in ihren Streit ein, horten nur aufmerksam zu. Oleg kam es so vor, als sei sogar die Ziege still geworden, um zu lauschen.

„Ich schlage vor, da? Marjaschka und Thomas hierbleiben. Wir geben ihnen Decken und Nahrung, lassen ihnen alles da, wir beide aber laufen ohne jedes Gepack zum Pa?.“

Oleg gab keine Antwort. Er begriff, da? sie Thomas unter keinen Umstanden zurucklassen durften. Sie durften ihm sein Ziel nicht nehmen, das wurde ihn toten … Wenn Dick nun aber dachte, er, Oleg, hatte Angst, mit ihm allein weiterzugehn?

„Hast wohl Angst gekriegt?“ fragte Dick.

„Nicht um mich“, erwiderte schlie?lich Oleg. „Wenn Thomas krank ist, kann er Marjana nicht beschutzen. Und Marjana ihn ebensowenig. Was aber ist, wenn Tiere kommen? Raubtiere? Wie soll sie mit ihnen fertig werden?“

„Du wirst doch mit ihnen fertig, Marjaschka?!“ Dick fragte nicht, er befahl, als hatte er das Recht, Befehle zu erteilen.

„Ich schaffe es schon“, sagte Thomas, „habt keine Angst, Freunde, ich schaffe es. Ich mu? einfach … ich geh doch seit sechzehn Jahren zum Pa?, versteht ihr, seit sechzehn Jahren …“ Thomas sprach hastig, mit hei?er Stimme, wie unter Tranen.

„Dann schlaf jetzt“, sagte Dick nach einer langeren Pause, in der niemand sprach, niemand ihm zustimmte oder ihn vom Gegenteil uberzeugte.

Am nachsten Morgen aber fand die Auseinandersetzung ganz von allein ein Ende. Aus einem einfachen Grund.

Oleg stand als erster auf: mit schmerzendem Kopf und Beinen wie aus Holz; sein Rucken war eiskalt bis hin zur Wirbelsaule. Er kroch aus der Nische und entdeckte auf der wei?en Flache des Hochplateaus eine Reihe von Vertiefungen, die er nicht sofort als Fahrte erkannte. Es sah aus, als hatte jemand gro?e Fasser in den Schnee

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