daran. „Ich werd verruckt, das mu? ein Traum sein.“ „Also stimmt es doch, da? ihr hier entlanggekommen seid“, sagte Dick. „Ich hab manchmal daran gezweifelt, dachte, die Siedlung existiere schon immer.“
„Wei?t du, das dachte ich manchmal fast selber“, gestand Thomas lachelnd. Er nahm einen Schluck der Flasche, blinzelte. „Ich werde am Leben bleiben“, sagte er und fing an zu husten. Er lachelte, trotzdem weiter.
Marjana sammelte die Konservendosen ein und packte sie in den Sack. Die Ziege seufzte ein ums andre Mal und jammerte — ihr behagten die Buchsen nicht, sie waren etwas Fremdes.
„Du brauchst sie nicht mitzuschleppen“, sagte Thomas lachend, „wirklich nicht. Sie sind doch leer. Du kannst dir bei Bedarf tausend andere nehmen, verstehst du?“
„Na, ich wei? nicht“, sagte Marjana sachlich. „Wenn wir keine mehr finden, kommen uns auch die zupa?. Dann kehren wir wenigstens nicht mit leeren Handen heim. Vater kann aus diesen Buchsen alles mogliche herstellen.“
„Dann nimmst du sie auf dem Ruckweg mit“, sagte Oleg. Er wollte gern von dem Kognak kosten, der Thomas so froh stimmte.
„Und wenn andere sie mitnehmen?“ fragte Marjana.
„Wer denn?“ antwortete Thomas. „Volle sechzehn Jahre hat niemand sie angeruhrt. Ziegenbocke aber konnen nichts damit anfangen.“
Marjana sammelte dennoch alle Buchsen ein, sogar die lochrigen. „La? mich mal einen Schluck nehmen, Thomas“, sagte Dick. „Aus der Flasche.“
„Es wird dir nicht schmecken“, erwiderte Thomas. „Fur Kinder und Wilde ist Kognak nicht gut.“ Er reichte Dick dennoch die Flasche.
Man mu? nur darum bitten, dachte Oleg. Wahrend ich mir alles immer blo? wunsche, greift Dick einfach zu.
„Aber vorsichtig“, warnte Thomas. „Nur kleinen Schluck.“
„Keine Angst“, sagte Dick, „wenn’s dir nicht schadet, dann mir um so weniger. Ich bin kraftiger als du.“
Thomas gab keine Antwort. Oleg hatte den Eindruck, da? er lachelte. Dick setzte die Flasche an und nahm einen Zug. Offenbar war dieser Kognak sehr bitter, denn Dick lie? das Gefa? fallen und fing, die Hand am Hals, furchterlich an zu husten. Thomas konnte die Flasche gerade noch auffangen.
„Ich habe dich gewarnt“, sagte er vorwurfsvoll, ohne jede Spur von Mitleid.
Marjana sturzte zu Dick, der hochrot und unglucklich dastand.
„Das brennt ja scheu?lich!“ brachte er schlie?lich heraus.
„Warum haben Sie das zugelassen?“ sagte Marjana argerlich zu Thomas. Sie rannte zu ihrem Sack und begann darin zu wuhlen. Oleg wu?te, da? sie nach einem Mittel gegen Verbrennungen suchte. „Es geht gleich vorbei“, sagte Thomas. „Du bist doch ein Wilder, Dick. Folglich mu?t du eine dir unbekannte Flussigkeit kosten, als ware es Gift. Mit der Zungenspitze …“
Dick winkte wutend ab. „Ich hab dir vertraut“, sagte er, „eben einfach vertraut. Du hast doch auch davon getrunken.“
Dick fuhlte sich erniedrigt, das vertrug er nicht.
„Hier“, sagte Marjana, „kau dieses Kraut. Es hilft.“
„Nicht notig“, knurrte Dick.
„Es ist schon vorbei“, sagte Thomas. „Jetzt ist es ihm angenehm.“
„Stimmt nicht“, erwiderte Dick, aber das war geschwindelt.
„Hat noch jemand Lust, sich zu verbrennen.“ fragte Thomas. „Na, wie sieht’s aus, meine tapferen Stammesbruder? Ubrigens bezeichneten die amerikanischen Indianer dieses Zeug als Feuerwasser.“
„Spater ergaben sie sich dann dem Trunk und verkauften ihr Land fur ein Spottgeld an die wei?en Siedler“, erinnerte sich Oleg an seine Geschichtstunden.
„Das also ist der bewu?te Branntwein?“
„Genau. Nur da? ihr Gesoff nicht diese Qualitat, hatte.“
Thomas hangte sich die Flasche um. Dick bedachte sie mit einem langen Blick — er hatte den verdammten Kognak mit Vergnugen ausgekippt und stattdessen Wasser eingefullt. Sie lie?en sich auf Steinen nieder und machten Rast.
Marjana teilte jedem eine Handvoll getrockneter Pilze und ein Stuck Dorrfleisch zu. Auch die Ziege bekam Pilze.
Dick quittierte das mit einem unzufriedenen Blick, schwieg aber. Das Tier schnurpste die Mahlzeit manierlich auf und schaute das Madchen fragend an — vielleicht war eine Zugabe drin. Die Ziege hatte es in dieser Gegend schwer, Nahrung zu finden, deshalb war sie hungrig.
„Und euer ganzes Essen war in diesen Buchsen?“ fragte Oleg.
„Nicht nur“, antwortete Thomas. „Es befand sich auch in Kisten, Schachteln, Containern, Flaschen, Tuben, Ballons, Sacken und was wei? ich sonst. Zu essen hatten wir jede Menge, das kann ich euch versichern, meine Freunde. Und dann gab’s da noch Zigaretten, von denen ich oft traume.“
Oleg begriff schlagartig, da? die Flasche, die Konservendosen und die anderen Spuren, auf die sie gesto?en waren, nicht nur ihn und Dick beeindruckten. Am meisten wirkte das alles auf Thomas. So als hatte er bis zu diesem Augenblick selbst nicht recht daran geglaubt, irgendwann einmal jenseits des Passes gewesen zu sein, eine Beziehung zu jener anderen Welt besessen zu haben, wo aus glanzenden Konservendosen gegessen und Kognak aus der Flasche getrunken wurde. Und diese, fremde, von Oleg erwunschte, fur Dick freilich unnutze Welt lie? Thomas ein wenig von ihnen abrucken. Denn in Wirklichkeit gehorte Thomas zu jenen Leuten, die bereits tot waren oder an ihrem Lebensende standen. Fur sie symbolisierten der Wald und die Gletscher eine Sackgasse und Ausweglosigkeit, fur Oleg hingegen, noch viel mehr aber fur Dick, bedeuteten sie den einzigen angestammten Platz im ganzen Universum.
„Gehen wir“, sagte Thomas und erhob sich. „Jetzt bin ich fast uberzeugt, da? wir’s schaffen, auch wenn die schwierigste Wegstrecke noch vor uns liegt.“
Sie marschierten weiter. Marjana hielt sich Dicks Nahe auf, denn sie furchtete, ihm konnte noch schlecht sein. Sie hatte die Eigenschaft, alle und jeden zu bemitleiden.
Mitunter fand Oleg das ruhrend, diesmal jedoch argerte es ihn. Man sah schlie?lich auf den ersten Blick, da? Dick in bester Verfassung war. Lediglich seine Augen glanzten, und er sprach lauter als gewohnlich.
„Das ist gewisserma?en eine Tur“, sagte Thomas, der neben Oleg ging. „Eine Tur, hinter der meine Erinnerungen beginnen. Verstehst du das?“
„Ja“, sagte Oleg.
„Bis jetzt existierte alles nur in meiner Vorstellung“, fuhr Thomas fort. „Ich hatte diesen Gebirgspa? vollig vergessen. Deine Mutter trug dich auf den Armen. Sie war schon ganz von Kraften, uberlie? dich aber keinem anderen. Du warst sehr still. Dick dagegen brullte, wie es sich fur einen hungrigen und unglucklichen Saugling gehorte. Wirklich, du hast keinen Laut von dir gegeben. Und Egli war standig um deine Mutter herum, beide waren hochstens funfundzwanzig, fast noch Madchen und schon lange befreundet. Egli wollte immerzu uberprufen, ob du noch am Leben bist, doch deine Mutter lie? das nicht zu.
Ihr war nichts geblieben au?er dir. Sie klammerte sich an dich.“
Thomas wurde plotzlich von heftigem Husten geschuttelt. Er klappte zusammen wie ein Taschenmesser, stutzte sich mit der Hand gegen eine Stein, und Oleg bemerkte, wie gelb und dunn seine Finger waren. Dick und Marjana waren schon vorausgegangen und hinter einer Wegbiegung verschwunden.
„Geben Sie Ihren Sack her, ich trage ihn“, sagte Oleg schuldbewu?t.
„Nicht notig, es geht gleich voruber. Warte, gleich …“
Thomas lachelte schuldbewu?t. „Eigentlich mu?te ich euch Jungen ja mit gutem Beispiel vorangehen, euch fuhren, statt dessen schleppe ich mich nur so dahin … Ich glaubte, es wurde besser werden, wenn ich von dem Kognak trinke.
Wie naiv …“
„Nehmen Sie doch noch einen Schluck“, schlug Oleg vor.
„Das nutzt nichts, ich bin’s nicht mehr gewohnt.
Au?erdem hab ich Temperatur. Ach, wenn wir den Gebirgspa? doch erreichen wurden. Ich mu?te ins Krankenhaus, brauchte Ruhe und Behandlung statt heldenhafter Bergbesteigungen.“ Nach zwei Stunden hatten sie die Schlucht hinter sich gebracht. Der Bach sturzte jetzt als kleiner Wasserfall von einem etwa zwei Meter hohen