war’s einfacher, sie waren gesund und hatten sich schon besser angepa?t.
„Thomas“, rief Oleg leise, „mir ist jetzt warm, la? uns wieder tauschen.“
„Nicht notig“, flusterte Thomas, doch die Lippen gehorchten ihm kaum.
Oleg diskutierte nicht weiter, kroch uber den Alteren hinweg. Die Fischhaut des Zeltes war kaltedurchlassig, und in dieser Nacht schliefen alle unter der Decke, selbst Dick, der behauptete, sogar auf blankem Schnee schlafen zu konnen.
„Danke“, sagte Thomas, er klapperte vor Kalte.
Marjana erwachte und begriff sofort. „Ich mach Wasser warm“, sagte sie und band raschelnd die Sacke auf.
Der Ziegenbock merkte, da? die Leute erwacht waren, sprang auf, begann umherzutappen und freudig zu meckern — offenbar war ihm die Nacht lang geworden.
Dick warf Thomas seine Decke uber und kletterte eilig ins Freie. „Das Wichtigste ist Bewegung“, rief er von drau?en, „schaut nur, wie gut das tut!“
Oleg zwang sich, es Dick nachzumachen.
Das Tal, das sie gestern abend erreicht hatten, war mit in der Nacht gefallenem Schnee bedeckt. Er war wei? und sauber, viel heller als die Wolken, die im Gegensatz dazu direkt violett wirkten. Der Ziegenbock stand etwas abseits und klaubte sich die Eisstuckchen aus dem Fell. Das wei?e Linnen des Tals stie? gegen den steilen Hang der Hochebene. Die Busche, die am Hang wuchsen, bewegten sacht die Zweige und wirbelten kleine Schneewolkchen auf.
Dick war unzufrieden, weil das Holz schneller verbraucht wurde als vorgesehen, sprach aber nur mit Oleg daruber, leise, als sie sich ein Stuck vom schmutzigen Zelthugel entfernt hatten.
„Wir hatten Thomas nicht mitnehmen sollen“, sagte er, „er wird blo? krank.“
„Ohne ihn kommen wir nur schwer uber den Pa?“, entgegnete Oleg.
„Mit ihm wird’s noch schwerer“, sagte Dick und scho? einen Pfeil in die dunkle Felsspalte, in der Oleg nicht das geringste entdeckt hatte. Doch aus dem Spalt stiebte Schnee auf, und gleich darauf sauste ein Hase hervor, setzte in gro?en Sprunge davon, den kleinen Russel auf dem Rucken. In seiner Spur sah man dunkel ein paar Blutstropfen.
„Ich hol ihn“, sagte Dick, ohne seine Meinung uber Thomas zu widerrufen.
Mit Dick war schwer zu streiten, weil er nicht lange argumentierte, wenn er von etwas uberzeugt war, sondern einfach wegging. Die besten Worte aber kamen Oleg erst hinterher, so da? Dick stets die Oberhand behielt, selbst wenn er unrecht hatte.
Wie sollten sie denn ohne Thomas ans Ziel kommen, argumentierte Oleg in Gedanken weiter. Das Entscheidende war nicht die Wegstrecke selbst, sondern wie sie das Wrack finden und sich an Ort und Stelle verhalten sollten. Sie waren dort doch die reinsten Welpen, hatten keine Ahnung, was die Dinge bedeuteten, hatten wie die Wilden noch nie ein Fahrrad gesehen, weshalb sie nicht wissen konnten, ob sich vor ihnen ein Fahrrad oder eine Dampflok befand. Dick glaubte zwar, er wisse alles, sei den Leuten in der Siedlung und im Wald unentbehrlich, doch vielleicht hatte er blo? Angst, plotzlich in eine Welt verschlagen zu werden, wo nicht er der Starkste, Geschickteste, der Schnellste war.
Marjana hatte Feuer gemacht. Der Ziegenbock, der sich mittlerweile daran gewohnt hatte, glaubte wohl, die Flammen konnten ihm nichts anhaben, und wollte schnurstracks mitten in die Warme. Marjana rief Oleg zu, er solle das vertrackte Vieh zuruckhalten, doch einen ausgewachsenen Ziegenbock an seinem Vorhaben zu hindern, war ein Ding der Unmoglichkeit. Dennoch gab sich Oleg redliche Muhe.
Er schlug mit dem Lanzenschaft auf den Bock ein. Der allerdings schien anzunehmen, man liebkose ihn, und jaulte begeistert. Thomas lief im Schnee auf und ab, um warm zu werden, er hatte sich in die Decke gehullt und ging so krumm, da? Oleg ihn fur einen alten Mann hielt. Dabei wu?te er, da? Thomas gerade mal vierzig war. Egli hatte einmal gesagt, die Alterungsprozesse wurden in der Siedlung aus irgendwelchen Grunden schneller verlaufen, worauf Tante Luisa erwiderte, da? sie bei solch einer Diat eigentlich schon langst hatten alle den Loffel abgeben mussen. Sie litten samtlich unter standiger Kolitis, unter Gastritis und Allergien, und die altere Generation hatte es durchweg mit den Nieren. Die Kinder freilich waren verhaltnisma?ig gesund. Dabei hatten die Leute in der Siedlung noch Gluck, da? sich die meisten einheimischen Mikroben dem menschlichen Stoffwechsel nicht anzupassen vermochten.
Noch nicht, wie Tante Luisa sagte.
„Schade, da? es hier keinen Sumpf gibt“, sagte Marjana, „ich wurde euch schon die notigen Graser sammeln.“
„Und warum hast du’s nicht eher getan?“ fragte Oleg.
Marjana kannte sich im Dorf am besten von allen in Krautern aus, sie schien sie formlich mit der Haut zu spuren.
„Du bist vielleicht komisch“, erwiderte Marjana erstaunt. „Dieses Gras mu? man sofort essen, solange es noch frisch ist, wie willst du es denn aufheben?“ Sie wunderte sich immer, da? andere nicht sahen, was fur sie augenscheinlich war. Oleg schaute sich um. Wenn es hier Sumpfe gab, waren sie uber Nacht zugefroren. Doch wahrscheinlich existierten gar keine — dieses Gelande lag hoher als die Siedlung, war trockener und steiniger.
„Oleshka“, rief Thomas, „komm mal her.“ Er hatte sich hingesetzt und verzog schmerzhaft das Gesicht. „Wieder mal der Rucken“, sagte er, „mein Hexenschu?.“
„Ich reib Sie nachher ein“, erbot sich Marjana.
„Danke, aber es hilft nicht“, Thomas lachelte gequalt.
Er ahnelte einem Raben, wie ihn der Alte im Biologieunterricht immer zeichnete: ein dunkler Vogel mit gro?er spitzer Nase. „Sag mal, du wei?t doch noch, wo ich die Karte aufbewahre? Fur den Fall, da? mir was zusto?t.“
„Ihnen wird nichts zusto?en“, erwiderte Oleg, „wir sind doch zusammen.“
„Trotzdem wollen wir kein Risiko eingehn. Verstehst du dich aufs Kartenlesen?“
Die Skizze befand sich auf einem kleinen Blatt Papier, dem wertvollsten Gut im Dorf. Oleg verspurte gegenuber Papier stets ein merkwurdiges, besonderes Gefuhl. Papier, selbst ein unbeschriebenes Blatt, war auf Zauberart mit Wissen verbunden, dazu geschaffen, Wissen auszudrucken, so etwas wie eine gottliche Offenbarung.
Thomas, immer wieder von Husten geschuttelt, lie? Oleg auf der Karte die Route zum Gebirgspa? nachvollziehn. Der Weg war bekannt; sie alle hatten ihn zusammen mit Waitkus und dem Alten mehrmals durchgesprochen. Freilich war es eine Sache, die Strecke in der Siedlung durchzugehen, etwas vollig anderes jedoch, sie dann in der Praxis zuruckzulegen, die Entfernung und die Kalte zu spuren. Denn im Haus war es warm gewesen, die Lampen hatten behaglich gebrannt, und drau?en hinter der Wand war leise rauschend der Regen herabgestromt … Dick kam mit einem Hasen zuruck. Der Ziegenbock geriet beim Anblick des kleinen leblosen Korpers in Panik und sturzte mit gro?en Sprungen zum Hang davon, wo er stehenblieb und verwundert den Kopf schuttelte.
„Er ahnt, was ihn erwartet“, sagte Dick und warf den Hasen auf die Steine. „Wir wollen ihn lieber gleich essen, dann macht das Laufen mehr Spa?. Dir, Thomas, tut es auch gut. Noch besser war es ja, wenn du tuchtig von dem hei?en Blut trinken wurdest, das mache ich wahrend der Jagd immer. Aber das willst du wahrscheinlich nicht, oder?“
Thomas schuttelte den Kopf.
„Und was treibt ihr da“, erkundigte sich Dick, „studiert ihr die Karte?“
„Thomas bestand darauf, da? ich den Weg nochmals durchgehe. Fur den Fall, da? ihm was passiert.“
„Ist doch Unsinn“, sagte Dick, ging in die Hocke und begann geschickt den Hasen auszunehmen, „du haltst schon noch eine Weile durch. Sollte es schlechter werden, kehren wir um.“ Oleg begriff, da? Dick den anderen nicht kranken wollte. Er hatte ja mit seiner Meinung, Thomas konnte unterwegs schlappmachen, von Anfang an nicht hinterm Berg gehalten.
„Trotzdem“, erwiderte Thomas und gab mit keiner Regung zu erkennen, da? ihm der gleichgultige Ton Dicks unangenehm war, „sicher ist sicher.“
Als sie dann Tee tranken — hei?en Wurzelaufgu? —, fa?te sich der Ziegenbock ein Herz und kam naher, freilich nicht von jener Seite, wo Dick das Hasenfell hingeworfen hatte, sondern von der anderen; er schirmte sich durch Zelt und Lagerfeuer gleichsam dagegen ab. Der Bock seufzte schwer, und Marjana warf ihm ein paar