„Die giftigen Elefanten.“

„Das sind bose Geister“, sagte Marjana, „Kristina hat immer davon erzahlt.“

„Bose Geister gibt es nicht“, sagte Oleg.

„Geh nur ein Stuck tiefer rein in den Wald“, sagte Dick.

„Ruhe jetzt“, befahl Thomas.

Ganz dicht jagten die Ziegenbocke vorbei, hinter ihnen, weich und selten auftretend, der Verfolger. Die kleine Menschengruppe verschanzte sich hinter dem Feuer, das sich jetzt zwischen ihnen und dem Zeltvorhang befand. Sie hielten die Waffen im Anschlag. Unbekannte Tiere flo?ten stets Furcht weil man ihr Verhalten nicht kannte.

Der Vorhang wurde zur Seite gerissen, in seiner ganzen Lange aufgeschlitzt, und in die Hohle sturmte ein grunes behaartes Wesen von der Gro?e eines Menschen, nur viel runder, vierbeinig und mit einem knochigen Ruckenkamm, der aus dem Fell ragte wie eine Hugelkette aus dem Wald. Das Tier zitterte leise am ganzen Korper. Seine kleinen roten Augen blickten stumpfsinnig und verloren.

Dick legte schon die Armbrust an, es sollte ein Todesschu? werden. „Halt“, rief Marjana, „das ist doch ein Ziegenbock!“

„Genau“, flusterte Dick, ohne sich von der Stelle zu ruhren, nicht einmal die Lippen bewegte er dabei, „das da ist Fleisch.“

Aber Marjana ging bereits, einen Bogen um das Feuer machend, auf das Tier zu.

„So warte doch“, Thomas wollte sie zuruckhalten, aber das Madchen schuttelte seine Hand ab.

„Das ist mein Ziegenbock“, sagte sie.

„Deiner hat schon langst das Zeitliche gesegnet“, erwiderte Dick, lie? jedoch die Hand mit der Armbrust sinken. Sie hatten noch Fleischvorrate, und einfach so zu toten widerstrebte ihm. Die Jager erlegten nur das, was sie forttragen konnten.

Der Ziegenbock begann langsam zuruckzuweichen.

Dann erstarrte er reglos. Offenbar war das, was ihn drau?en erwartete, schlimmer als Marjana. Das Madchen buckte sich, holte schnell einen schmackhaften Trockenpilz aus dem Sack und hielt ihn dem Ziegenbock hin. Das Tier seufzte, schnupperte, ri? seinen nilpferdartigen Rachen auf und schnurpste das Geschenk gehorsam auf.

Die erste Wache ubernahm Oleg. Der Ziegenbock machte keine Anstalten, seinen Zufluchtsort zu verlassen. Er quetschte sich an die Wand, als wollte er eins werden mit ihr, sah Oleg unverwandt mit einem Auge an und seufzte von Zeit zu Zeit gerauschvoll auf. Dann begann er sich an der Wand zu reiben.

„Du setzt uns noch Flohe her“, sagte Oleg. „Steh still, oder ich jag dich raus.“

Der aufmerksame, reglose Blick des Tieres erweckte den Eindruck, als hore es zu und verstehe ihn, in Wirklichkeit jedoch lauschte es nur nach drau?en.

Oleg, das niederbrennende Feuer beobachtend, nickte unmerklich ein. Er glaubte eindeutig wach zu sein, die blauen Funken uber den Holzscheiten aufsteigen zu sehn, die einen Reigen bildeten und tanzten. Doch plotzlich stie? der Ziegenbock ein erschrockenes Meckern aus und begann mit den Hufen zu scharren. Oleg fuhr hoch, begriff nicht gleich, wo er sich befand, und brauchte ein, zwei Sekunden, ehe ihm bewu?t wurde, da? der Bock nicht mehr an seinem fruheren Platz stand, sondern ins Innere der Hohle gesprungen war. Durch das Loch im Vorhang aber kroch langsam eine graue, blasenschlagende Masse, ergo? sich wie Teig in die Hohle. Moglicherweise war sie aber auch nicht grau, sondern, angestrahlt vom letzten Widerschein des Feuers, rosafarben; auf jeden Fall schien ihr eine stumpfe Neugier, eine gelassene Beharrlichkeit innezuwohnen. Der Ziegenbock meckerte verzweifelt, flehte um Hilfe, er nahm wohl an, das Gebilde sei eigens seinetwegen hergekommen. Oleg uberlegte sich fluchtig, da? diese teigige Masse fur eine nachtliche Vision reichlich ha?lich war. Er tastete mit den Handen das Gestein um sich her ab, konnte aber die Armbrust nicht finden. Er war allerdings auch nicht in der Lage, den Blick von dem immer naher kommenden Gebilde zu losen, das einen sauerlichen, geradezu betaubenden Geruch ausstromte. Plotzlich nahm er wahr, da? sich ein federbesetzter Pfeil in die Flanke des teigigen Gebildes bohrte, fast bis zur Halfte darin verschwand, um dann ganzlich hineinzutauchen. Der Teig straffte sich leicht und behende, zog sich zusammen und loste sich in Nichts auf, die Rander des Vorhangs schlossen sich wieder, und er bauschte sich trage.

Da erst wagte Oleg, den Blick abzuwenden. Die Armbrust, die er suchte, lag zwei Zentimeter von seinen gespreizten Fingern entfernt. Neben ihm sa? Dick, stramm, kraftig und frisch, als hatte er sich gar nicht erst schlafen gelegt. Er lie? die Armbrust sinken und sagte: „Vielleicht hatte ich nicht schie?en, sondern erst mal abwarten sollen.“

„Weshalb hast du's dann getan?“ fragte Marjana, die mit ausgestreckter Hand, ohne aufzustehen, die dunnen, mit einem Panzer bedeckten Beine des Ziegenbocks streichelte.

Das Tier schluchzte leise vor sich hin, wie ein Kind, klagte Marjana seine Angst. „Weil Oleg wie versteinert dasa?“, erwiderte Dick, „und dieses Zeug schon ganz dicht an ihn heran war.“ Er wollte Oleg weder kranken noch ihm einen Vorwurf machen, er sagte einfach das, was er dachte. „Ich hatte keine Zeit mehr, nach einem Holzscheit zu greifen.“

„Warst du eingeschlafen?“ fragte Thomas Oleg.

Thomas lag, unterm Kopf den Sack mit dem Dorrfleisch, in eine Decke gewickelt da. Er fror mehr als die anderen, konnte sich einfach nicht an die Kalte gewohnen. Wenn erst der richtige Frost kommt, dachte Oleg, wird er’s am allerschwersten haben.

„Ja, ich war eingenickt“, sagte er, „ich hab es selbst nicht bemerkt. Der Ziegenbock hat mich geweckt.“

„Bist ein Prachtbockchen“, sagte Marjana zu dem Tier.

„Ein Gluck, da? er dich geweckt hat“, sagte Dick und legte sich auf die Seite. Seine Hand lag auf dem Armbrustgriff, einer gelungenen, hubschen Schnitzerei.

Dick hatte ihn selbst gefertigt. „Das Gebilde hatte uns allesamt verschlungen …“ Er schlief ein, ohne den Satz zu vollenden.

Thomas hatte kein Verlangen nach Schlaf. Er stand auf und loste Oleg ab, der zwar zum Schein protestierte, dann jedoch zustimmte, denn ihm fielen Augen zu. Er machte sich sogleich auf dem Boden lang. Thomas warf sich die Decke uber die Schultern, er hatte gern noch etwas Holz nachgelegt, doch sie mu?ten sparsam damit umgehn, sie hatten nicht genug, und bald wurde es richtig kalt werden. Er erinnerte sich an die Kalte, als sie das vorige Mal zum Gebirgspa? aufgebrochen waren, dachte an den todlichen, hoffnungslosen Frost. Das war vor vier Jahren gewesen.

Und zuvor vor acht Jahren. Das allererste Mal aber ein Jahr nachdem sie die Siedlung errichtet hatten. Beim zweiten Mal waren sie am weitesten gekommen. Allerdings waren von diesem Gang auch nur zwei Mann zuruckgekehrt — er und Waitkus.

Thomas betrachtete die jungen Leute. Warum spurten sie nicht, da? es sich auf den Steinen hart und kalt lag?

Welche Veranderungen waren in ihrem Organismus, ihrem Stoffwechsel vor sich gegangen? Das hier waren Wilde, die ihn, den Alten, mit der hoflichen Herablassung von Aborigines betrachteten. Wilde, die sich mit jedem Jahr Schritt um Schritt besser in diese Welt der Einsamkeit und der Wolken hineinfanden, so sehr Boris auch bestrebt war, sie daran zu hindern. Boris aber hatte recht und zugleich unrecht. Recht hatte er darin, da? der Ubergang zum Wilden unausweichlich war. Thomas konnte das an seiner eigenen Tochter, aber auch an den anderen Kindern beobachten. Doch offenbar war eben das der einzige Ausweg, die einzige Moglichkeit zu uberleben. Der Gebirgspa? hingegen war ein Symbol, an das schon niemand mehr glaubte, auf das man allerdings auch nicht verzichten konnte.

Der Ziegenbock vertrat sich die Beine, seine Hufe schlugen gegen den Stein. Dick offnete die Augen, lauschte reglos und sofort hellwach ins Dunkel, dann schlief er wieder ein. Marjana rollte sich im Schlaf an Olegs Seite und legte ihm den Kopf auf die Schulter — so war es behaglicher. Fern im Wald war ein Krachen zu vernehmen, danach ein langsames, allmahlich stiller werdendes Grollen. Thomas wahlte ein moglichst dunnes Holzscheit aus und legte es aufs Feuer.

Als es hell wurde und blaulicher Nebel sich durch den Ri? im Vorhang ergo?, als fern im Wald mit frohlichem Gezirp die Grashupfer den neuen Tag begru?ten, legte Dick, der den Rest der Nacht am erloschenen Feuer gewacht hatte, die dabei geschnitzten Pfeilschafte sorgfaltig in einen Sack und schlief ruhig ein. Deshalb bemerkte auch niemand, da? der Ziegenbock die Hohle verlie?. Marjana, als sie erwachte, war bekummert, sie sprang ins Freie, lief die Felsen ringsum ab — nirgends auch nur die kleinste Spur.

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