„Denk an das Papier“, wiederholte der Alte, „und wenn’s ein Dutzend Blatter sind.“

„Du bekommst dein Papier“, sagte Thomas.

Jene, die aufbrechen sollten, versammelten sich am Zauntor, die anderen fanden sich zu ihrer Verabschiedung ein. Alle gaben sich den Anschein, als handle es sich um einen gewohnlichen Marsch, etwa zum Sumpf, um Wurzeln zu holen, doch das Lebewohl war wie fur immer.

So jedenfalls empfand es Oleg.

Wer fortging, war warm angezogen — man hatte in der ganzen Siedlung gesammelt. Tante Luisa hatte die Sachen eigenhandig zusammengetragen und fur den Betreffenden passend gemacht. Oleg konnte sich nicht entsinnen, da? er jemals so warm ausstaffiert war. Nur Dick nahm nichts Uberflussiges mit. Er nahte sich auch alles selbst. Der Regen hatte fast aufgehort, in den Pfutzen um die Zaunpfosten tummelten sich laut piepsend die Schwimmkafer. Das verhie? gutes Wetter.

Thomas, mit einem Blick auf die Schwimmkafer, sagte: „Wenn der Regen aufgehort hat, mu?ten die Pfosten befestigt werden.“

„Mach dir daruber keine Gedanken“, erwiderte Tante Luisa, „wir kommen schon ohne dich zurecht.“

„Bringst du mir was Schones mit, Papa?“ fragte die rothaarige Ruth, Thomas’ Tochter.

„La? das“, sagte seine Frau, „nicht mal denken solltest du an so etwas. Das wichtigste ist, da? Papa zuruckkehrt … Bind dir was um den Hals, du hustest wieder.“

„Vom Pa? aus mu?t du dich rechts halten“, sagte Waitkus zu Thomas. „Erinnerst du dich?“

„Ja“, Thomas lachelte. „Ich wei? es noch wie heute.

Aber du solltest dich jetzt hinlegen, du mu?t morgen fruh raus.“

Die Mutter hielt Olegs Hand, und er wagte nicht, sie ihr zu entziehen, obwohl es ihm vorkam, als lage in Dicks Augen ein spottisches Lacheln.

Die Mutter wollte sie bis zum Friedhof begleiten, doch Sergejew hielt sie zuruck. Er lie? niemanden mitgehn au?er dem Alten und Luisa.

Oleg drehte sich mehrmals um. Die Mutter stand reglos da, mit erhobener Hand, als wollte sie winken und hatte es vergessen. Sie konnte nur mit Muhe ein Weinen zuruckhalten. Uber dem Zaun waren die Kopfe der Erwachsenen zu sehen: die Mutter, Sergejew, Waitkus … etwas weiter unten aber zeichneten sich durch den Stacheldraht hindurch dunkel die Gestalten der Kinder ab.

Ein paar Menschen in einer Reihe, dahinter die schragen, unterm Regen glanzenden rosa Dacher einer Handvoll Hauschen.

Am Hugel drehte sich Oleg ein letztes Mal um. Noch immer standen alle am Zaun, nur eins der Kinder war zur Seite gerannt und machte sich neben einer Pfutze zu schaffen. Von hier oben war Stra?e zu sehen — der Pfad zwischen den Hutten. Und die Tur von Kristinas Haus.

Eine Frau stand in der Tur, nur konnte man vom Hugel aus nicht erkennen, ob es Lis oder Kristina war. Bald darauf war die Siedlung hinter der Hugelkuppe verschwunden.

Der Friedhof war gleichfalls von einem Zaun umgeben.

Bevor Dick die Pforte offnete, schaute er nach, ob nicht inzwischen irgendein Tier Unterschlupf gefunden hatte, was durchaus moglich schien. Oleg sagte sich, da? er selbst wahrscheinlich nicht daran gedacht hatte.

Seltsam, da? es weit mehr Graber unter den Platten aus Weichschiefer gab, den sie von den nahegelegenen Felsen geschlagen hatten, als Leute im Dorf. Obwohl die Siedlung erst sechzehn Jahre existierte. Olegs Vater lag nicht hier, er war hinter dem Gebirgspa? zuruckgeblieben.

Dick blieb vor zwei gleichaltrigen Grabplatten stehen, die sorgfaltiger behauen waren als die ubrigen. Hier lagen seine Eltern. Wind kam auf, kalt und lastig. Der Alte ging von Grab zu Grab — er kannte sie alle. Wieviel Leute waren sie vor sechzehn Jahren gewesen? Wohl sechsunddrei?ig Erwachsene und vier Kinder. Und wie viele waren noch ubrig? Neun Erwachsene und drei von jenen Kindern, die es bis hierher geschafft hatten. Ganze drei: Dick, Lis und Oleg. Marjana war bereits hier geboren, genau wie zwolf weitere Kinder, die in der Siedlung lebten.

Demnach waren es vor siebzehn Jahren vierzig Menschen gewesen, jetzt dagegen knapp uber zwanzig. Eine einfache Rechnung. Doch nein, so einfach nun auch wieder nicht.

Graber gab es weit mehr, alles Graber von Kindern, die hier geboren, doch spater ums Leben gekommen waren.

Dicht an seinem Ohr, als hatte sie seine Gedanken erraten, sagte Luisa: „Die meisten sind in den ersten funf Jahren gestorben.“

„So ist es“, stimmte der Alte zu, „wir mu?ten fur unsere Erfahrungen teuer bezahlen.“

„Dabei ist es noch ein Wunder, da? wir nicht alle schon im ersten Jahr draufgegangen sind“, sagte Thomas.

„Erinnerst du dich?“

„Und ob“, sagte der Alte.

Sie blieben vor den Grabplatten im Zentrum des Friedhofs stehen, die grobschlachtig, schief und unbehauen waren und fast ganz in der Erde steckten. Feste, rotliche Moosranken hatten sich um sie gelegt, machten kleine rundliche Hugel aus ihnen. Oleg wollte kehrtmachen, noch einen Blick auf die Siedlung werfen, er wu?te, die Mutter stand am Zaun und hoffte, da? er es tat. Er trat schon auf die Pforte im Zaun zu, doch da sagte Thomas: „Wir mussen los. In funf Stunden wird es dunkel, dann mussen wir die Felsen erreicht haben.“

„Oje“, sagte Marjana und tastete mit den Fingern hastig den Sack ab, den sie uber der Schulter trug.

„Hast du was vergessen?“ fragte Dick.

„Nein … oder doch … Ich wurd gern noch mal zu meinem Vater ruberschaun …“

„Komm jetzt, Marjaschka“, sagte Thomas. „Je eher wir losgehn, desto schneller sind wir zuruck.“

Oleg sah, da? Marjanas Augen voller Trane waren. Es fehlte nicht viel, und sie wurden ihr uber die Wangen laufen. Das Madchen war hinter den anderen zuruckgeblieben. Oleg ging zu ihr und sagte: „Ich hatte auch am liebsten noch mal kehrtgemacht. Wenigstens einen Blick vom Hugel aus zuruckgeworfen.“

„Ist das wahr?“

Sie gingen schweigend nebeneinander her. Etwa drei?ig Schritt hinter dem Zaun, wo sich zah und hinterlistig Buschwerk breitmachte, blieben sie stehen. Luisa gab jedem einen Ku?, der Alte verabschiedete sich mit Handschlag, von Oleg zuletzt.

„Ich setze gro?e Hoffnungen auf dich“, sagte er. „Mehr als auf Thomas. Thomas sorgt sich um das Wohl des Dorfes, ums Heute, du mu?t an die Zukunft denken.

Verstehst du, was ich meine?“

„Aber ja“, sagte Oleg. „Kummert euch um Mutter, damit sie nicht so allein ist. Ich bringe das Mikroskop mit.“

„Danke. Und kommt bald wieder.“

Dick tauchte als erster ins Gestrauch ein, leicht und behende hieb er die zahklebrigen Blattfuhler mit der Lanzenspitze weg. „Haltet euch dicht hinter mir“, sagte er, „sonst sind sie gleich wieder da.“

Oleg drehte sich nicht um, es blieb keine Zeit.

Versuchte er es doch, wurde ihm sofort einer der Zweige am Schuh kleben, den er dann nur mit Muhe wieder herunterbekame. Drei Wochen lang wurde er danach stinken. Ein widerliches Gebusch.

Bei Anbruch der Dammerung langten sie an den Felsen an, genau wie Thomas es berechnet hatte.

Der Wald reichte nicht ganz bis zu den Felsen, ihre rotleuchtenden Zahne ragten aus der kahlen, hier und da von Flechten bedeckten Niederung. Tiefhangende Wolkenfetzen flogen so dicht voruber, da? die Bergzacken ihnen die Bauche aufschlitzten und in dem grauen Dunst verschwanden. Thomas sagte, da? die Hohle, in der er letztes Mal ubernachtet hatte, trocken sei und leicht zu erreichen. Alle au?er Dick waren erschopft. Aber selbst wenn er mude ware — Dick wurde es niemals zugeben, nur die Zahne zusammenbei?en. „Damals war es kalter“, sagte Thomas. „Damals waren wir noch der Meinung, der Frost sei gunstig, weil wir dann leichter durch die Sumpfe kamen. Dafur war der Gebirgspa? unpassierbar. Ich wei? noch, wie es unter unseren Fu?en nur so vor Frost klirrte.“

Zwischen ihnen und den Bergen befand sich ein runder wei?licher Fleck von etwa zwanzig Metern Durchmesser.

„Hier hat es geklirrt?“ erkundigte sich Dick, der voranging. Er blieb abrupt am Rand des Fleckens stehen.

Seine Oberflache glanzte matt wie Kiefernrinde.

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