wie Marjaschka ihn anhimmelt?“
„Soll sie doch. Wenn die beiden heiraten, kann’s fur das Dorf nur gut sein.“
„Mama!“ Oleg hielt es nicht mehr aus.
„Was hast du denn?“ Die Mutter, nahm wie ublich nichts um sich her wahr, lebte in ihrer eigenen Welt, kaute die alten Dinge wieder.
„Anscheinend bist du froh uber die Welt der Dicks, eine Welt der Wilden?!“ Der Alte war wutend, donnerte sogar mit der Faust auf den Tisch. „Eine Welt erfolgreicher, schnellfu?iger Wilder!“
„Und was hattest du als Ersatz anzubieten?“
„Ihn zum Beispiel.“ Der Alte legte seine schwere Hand in Olegs Nacken. „Olegs Welt ist meine Welt, sie ist auch deine, nur da? du dich von ihr lossagen willst, obwohl dir nie eine andere gegeben wurde.“
„Ich furchte, du irrst, Borja“, sagte die Mutter. Sie ging in die Kuche, nahm die Schussel mit dem kochenden Wasser vom Feuer und brachte sie ins Zimmer. „Wir haben keinen Zucker mehr.“
„Ich auch nicht“, sagte der Alte. „Die Wurzeln sind dies Jahr mager und nicht sehr su?. Egli sagt, wir mussen einen Monat ohne Zucker auskommen. Mussen wir uns eben mit Brot behelfen. Du bist doch eine intelligente Frau und mu?t begreifen, da? wir als Gesellschaft zum Aussterben verurteilt sind, wenn wir auf Leute wie Dick setzen, wenn Wilde und Jager unsere Nachfolge antreten.“
„Ich bin nicht einverstanden mit dir“, sagte die Mutter.
„Wir mussen in erster Linie uberleben. Ich spreche jetzt nicht von mir personlich, sondern von der Siedlung. Von den Kindern. Wenn ich Dick und Marjana betrachte, regt sich Hoffnung in mir. Du bezeichnest sie als Wilde, ich aber glaube, sie konnten sich anpassen. Wenn sie jetzt umkamen, ware das unser aller Ende. Das Risiko ist zu gro?.“
„Das hei?t also, ich habe mich nicht angepa?t?“ fragte Oleg.
„Zumindest weniger als die anderen.“
„Du hast einfach Angst um mich“, sagte Oleg, „deshalb willst du nicht, da? ich in die Berge gehe. Dabei schie?e ich mit der Armbrust besser als Dick.“
„Naturlich hab ich Angst um dich, du bist doch mein Einziger. Du bist alles, was mir geblieben ist. Und doch entfernst du dich von Tag zu Tag mehr von mir, gehst deine eigenen Wege, wirst ein Fremder.“ Der Alte ging mit gleichma?igen Schritten im Zimmer auf und ab, das tat er immer, wenn er unzufrieden mit seinen Schulern war, wenn sie es an Flei? fehlen lie?en. Er buckte sich, hob den Globus vom Schemel hoch, den er aus einem riesigen Pilz gefertigt hatte — er war in jenem Winter neben dem Schuppen gewachsen. Er und Oleg hatten damals Farben und bunten Lehm gerieben, den Marjana und Lis am Bach gefunden hatten; es war ubrigens der gleiche Lehm, aus dem sie jetzt Seife herstellten. Sie trockneten ihn, und heraus kamen zwei Farben wei? und grau. Der Pilz selbst war fliederfarben. Der Alte hatte aus der Erinnerung samtliche Kontinente und Ozeane aufgezeichnet. Der Globus, von Anfang an etwas bla?, verwischte sich im Laufe der Jahre noch und sah bald aus wie eine runde Wolke.
Der Alte hielt den Globus auf der Handflache.
„Atlas“, sagte die Mutter.
Oleg bemerkte einen kleinen rosa Schimmelfleck auf dem Tisch. Er war im Gegensatz zum gelben Schimmel giftig. Der Junge wischte ihn vorsichtig mit dem Armel ab.
Ein dummes Gefuhl, wenn einem die leibliche Mutter einen anderen vorzog. Es war im Grunde Verrat, regelrechter Verrat.
„Wir beide werden sterben“, sagte der Alte.
„Ist auch gut so“, erwiderte die Mutter, „wir haben lange genug gelebt.“ „Und doch haben wir’s nicht eilig mit dem Sterben, klammern uns ans Leben.“
„Weil wir feige sind“, sagte die Mutter.
„Du hattest immer Oleg.“
„Nur fur ihn hab ich durchgehalten.“
„Wir beide werden sterben“, wiederholte der Alte, „das Dorf aber mu? am Leben bleiben. Andernfalls hatte unser beider Existenz keinen Sinn gehabt.“
„Ein Stamm von Jagern hatte gro?ere Chancen zu uberleben“, sagte die Mutter.
„Nein, mehr Chancen hatte unser Dorf mit solchen Leuten wie Oleg“, widersprach der Alte. „Wenn unser Stamm von Dick und seinesgleichen regiert wurde, gabe es in hundert Jahren niemanden mehr, der um unsere Herkunft und den Sinn des Lebens wei?. Das Recht der Starken, die Gesetze der Urgesellschaft wurden Oberhand gewinnen.“
„Und die Menschen wurden fruchtbar sein und sich mehren“, sagte die Mutter. „Ihre Zahl wurde wachsen, sie wurden das Rad erfinden und tausend Jahre spater die Dampfmaschine.“ Die Mutter lachte auf; es klang, als schluchzte sie. Sie zog die Nase hoch.
„Das ist ein Scherz, nicht wahr?“ sagte Oleg.
„Irina meint das vollig ernst“, erwiderte der Alte. „Der Kampf um die Existenz in seiner elementaren Form fuhrt unweigerlich zum Regre?. Uberleben um einen solchen Preis, um den Preis des Eingewohnen in die Natur, der Annahme ihrer Gesetze bedeutet nichts anderes als sich ergeben.“
„Aber immerhin zu uberleben“, sagte die Mutter.
„So denkt sie gewi? nicht“, sagte Oleg.
„Naturlich denkt sie nicht so“, stimmte der Alte zu. „Ich kenne Irina schon zwanzig Jahre und wei?, da? sie nicht so denkt.“
„Ich ziehe es vor, uberhaupt nicht zu denken“, sagte die Mutter.
„Das ist nicht wahr“, widersprach der Alte, „Wir alle denken an die Zukunft, haben unsere Angste und Hoffnungen. Andernfalls wurden wir aufhoren, Mensch zu sein. Gerade die Last des Wissens, mit dem Dick sich nicht beladen will, an dessen Stelle er die simplen Gesetze des Waldes setzt, vermag uns zu retten. Solange es diese Alternative gibt, konnen wir hoffen.“
„Und wegen dieser Alternative jagst du Oleshka in die Berge?“
„Nein, um das Wissen zu bewahren, um unser beider willen. Um gegen die Sinnlosigkeit zu kampfen, ist das so schwer zu verstehen?“
„Du warst schon immer ein Egoist“, sagte die Mutter.
„Und dein blinder Mutteregoismus zahlt wohl gar nicht?“
„Weshalb bestehst du auf Oleg? Er ist schwach, er ubersteht den Marsch nicht.“ Das hatte sie nicht sagen durfen, sie begriff es sofort selber und sah Oleg aus flehenden Augen an: er moge begreifen, sich nicht gekrankt fuhlen.
„Schon gut, Mama“, sagte Oleg, „ich versteh das ja alles. Die Sache ist nur, da? ich dorthin will, vielleicht mehr als alle andern. Dick wurde mit dem gro?ten Vergnugen hierbleiben, das wei? ich. Die Rentiere gehen bald auf Wanderschaft — die richtige Zeit fur die Jagd in der Steppe. Wie gesagt, er wurde lieber hierbleiben.“
„Wir brauchen ihn aber auf dem Marsch“, sagte der Alte. „Sosehr mich die Aussicht auf seine Macht erschreckt — heute konnen uns sein Geschick, seine Kraft retten.“
„Retten!“ Die Mutter ri? den Blick von Oleg los. „Du schwafelst dauernd von Rettung. Glaubst du denn selbst daran? Dreimal sind unsre Leute in die Berge aufgebrochen, aber wie viele sind zuruckgekehrt? Und mit welchem Ergebnis?“
„Damals waren wir noch unerfahren. Wir kannten die hiesigen Gesetze nicht. Wir zogen los, als auf dem Gebirgspa? Schnee lag. Jetzt wissen wir, da? er erst gegen Ende des Sommers taut. Fur jedes Wissen mu? man bezahlen.“
„Waren jene Leute damals nicht zugrunde gegangen, wir wurden besser leben. Wir hatten mehr Ernahrer im Dorf.“
„Das stimmt zwar, aber auch sie wurden dem Gesetz der Degradation unterliegen. Entweder wir sind Teil der Menschheit und bewahren ihr Wissen, streben danach, oder wir sind Wilde ohne jede Perspektive.“
„Du bist ein Idealist, Borja. Ein konkretes Stuck Brot ist heute wichtiger als eine abstrakte Ananas.“
„Aber du entsinnst dich noch an den Geschmack von Ananas?“ Der Alte drehte sich zu Oleg um, erklarte: „Ananas ist eine tropische Frucht mit einem ganz spezifischen Geschmack.“
„Schon verstanden“, sagte Oleg. „Ein ulkiges Wort … Mutter, mach die Suppe warm, wir mussen bald los.“