grune Augen hatte, wahrend die von Kristina geschlossen waren.
Aber auch sie hatte, wie behauptet wurde, fruher grune Augen gehabt. „Das Ol reicht noch fur eine ganze Woche“, sagte Oleg, „dann wird der Alte euch neues bringen. Ihr braucht nicht zu sparen, wozu im Finstern sitzen.“
„Schade, da? ich krank geworden bin“, sagte Lis, „ich war gern mit dir gekommen.“
„Das nachste Mal“, sagte Oleg.
„Ja … in drei Jahren.“
„Nein, in einem.“
„Nur da? dieses eine Jahr nach unserer Rechnung drei bedeutet. Dabei bin ich schwach auf der Lunge.“
„Bis zum Winter ist es noch eine Weile hin, dann bist du wieder gesund.“
Oleg begriff, da? er nicht das sagte, was das Madchen mit dem breiten wei?en Gesicht von ihm erwartete. Wenn sie vom Pa? und dem Marsch dorthin sprach, hatte sie etwas ganz anderes im Sinn: Sie wunschte sich, da? Oleg immer bei ihr ware, denn sie hatte Angst allein. Oleg bemuhte sich, hoflich zu sein, doch das gelang ihm nicht immer. Er argerte sich uber Lis, weil ihre Augen stets um etwas zu bitten schienen.
Kristina erhob sich vom Bett, griff nach ihrem Stock und tappte zum Herd. Sie kam in allem allein zurecht, zog es aber vor, sich von den Nachbarn helfen zu lassen. „Das ist doch zum Verrucktwerden,“ murmelte sie. „Ich, eine angesehene Wissenschaftlerin, eine Frau, fruher beruhmt fur ihre Schonheit, bin gezwungen, in diesem Stall zu leben, von allen verlassen, vom Schicksal gedemutigt …“ „Oleg“, sagte Lis und stutzte sich auf den Ellbogen. Ihre gro?e wei?e Brust kam zum Vorschein, und Oleg wandte sich ab. „Geh nicht mit ihnen, Oleg. Du kommst nicht wieder, ich wei? es, du kommst nicht wieder. Ich habe so eine Vorahnung …“
„Soll ich dir Wasser bringen?“ fragte Oleg.
„Es ist noch Wasser da“, erwiderte Lis. „Du willst nicht auf mich horen. Aber tu’s ein einziges Mal im Leben, bitte!“
„Ich mu? jetzt los.“
„Tu, was du nicht lassen kannst“, sagte Lis.
Als er schon an der Tur war, rief sie ihm hinterher.
„Sieh nach Oleshka, ob du dort eine Medizin gegen den Husten findest. Fur Kristina. Wirst du’s auch nicht vergessen?“
„Ich werd dran denken.“
„Naturlich wird er’s vergessen“, sagte Kristina, „und das war nicht mal verwunderlich.“
„Oleg!“
„Ja?“
„Du hast mir nicht auf Wiedersehen gesagt.“
„Auf Wiedersehen.“
Der Alte wusch sich uber dem Becken in der Kuche.
„Gro?e Tiere habt ihr da erlegt“, sagte er, „nur das Fell ist schlecht. Es ist Sommerfell.“
„Dick und Sergejew haben sie geschossen.“ „Du bist verargert. Warst du bei Kristina?“
„Ja, dort ist alles in Ordnung. Ihr mu?t ihnen neues Ol bringen, und ihre Kartoffeln gehen zur Neige.“
„Kannst beruhigt sein. Komm doch auf einen Sprung zu mir rein, wir unterhalten uns noch bi?chen, bevor ihr aufbrecht.“
„War’s nicht gunstiger, wir gingen zu mir?“
„Bei mir ist’s jetzt auch ruhig, die Zwillinge spielen drau?en.“
„Aber bleib nicht so lange!“ rief ihm die Mutter vom Zaun aus nach.
Der Alte lachelte. Oleg nahm das Handtuch vom Haken und hielt es ihm hin, damit er sich mit seiner einen Hand abtrocknen konnte. Die Rechte hatte der Alte vor funfzehn Jahren eingebu?t, beim ersten Versuch, zum Gebirgspa? vorzudringen.
Oleg begab sich ins Zimmer des Alten, setzte sich an den Tisch, der von den Ellbogen der Schuler blankgewetzt war, schob das selbstgebastelte Rechenbrett mit den getrockneten Nussen anstelle der Steine beiseite. Wie oft hatte auch er als Schuler an diesem Tisch gesessen. Einige tausend Male. Fast alles, was er wu?te, hatte er an diesem Tisch erfahren.
„Dich fortzulassen, fallt mir am allerschwersten“, sagte der Alte, als er ihm gegenuber auf dem Lehrerstuhl Platz genommen hatte. „Ich hab gehofft, du wurdest in ein paar Jahren meine Stelle einnehmen und statt meiner die Kinder unterrichten.“
„Ich komme zuruck“, sagte Oleg. Doch seine Gedanken waren bei Marjana: Was mochte sie jetzt tun? Die Pilze hatte sie inzwischen eingeweicht, danach ihr Herbarium neu sortiert, ja, das bestimmt. Ob sie am Packen war? Mit ihrem Vater sprach? Oder schlief?
„Horst du mir uberhaupt zu?“
„Aber ja, naturlich.“
„Und doch hab ich darauf gedrungen, da? man dich mitnimmt zum Pa?. Fur dich ist es wichtiger als fur Dick oder Marjana. Du bist dort gewisserma?en die Verkorperung meiner Augen, meiner Hande.“
Der Alte hob seine Hand hoch und betrachtete sie so interessiert, als sahe er sie zum ersten Mal. Er hing seinen Gedanken nach. Oleg schwieg, musterte den Raum. Es war eine Angewohnheit des Alten, ganz unvermittelt fur ein oder zwei Minuten zu verstummen. Jeder hatte seine Schwachen. Die Flamme der Lampe spiegelte sich in dem glanzenden, stets sauberen Mikroskop, dem das Hauptglas fehlte. Sergejew hatte dem Alten schon tausendmal erklart, da? sie es sich nicht leisten konnten, ein leeres und damit unnutzes Rohr als Verzierung auf dem Bord zu belassen, er wollte es fur seine Werkstatt. ‚Borja‘, hatte er gesagt, ‚ich mach zwei herrliche Messer draus.‘ Doch der Alte ruckte das Mikroskop nicht heraus. „Entschuldige“, sagte der Greis. Er zwinkerte zweimal mit den gutigen grauen Augen und strich uber seinen sorgfaltig gestutzten wei?en Bart, der ihm von Tante Luisa aus unerfindlichem Grund den Spitznamen ‚Kaufmann‘ eingetragen hatte. „Entschuldige, ich habe nachgedacht.
Und wei?t du, woruber? Da? es in der Geschichte der Erde schon fruher Falle gab, wo aus dem oder jenem unglucklichen Umstand heraus eine kleine Gruppe Menschen plotzlich von der allgemeinen Zivilisation abgeschnitten war. Damit aber waren wir schon bei der qualitativen Analyse …“
Der Alte verstummte erneut und kaute auf seinen Lippen herum, er hatte sich abermals in seine Gedanken vertieft. Oleg kannte das schon. Es gefiel ihm, bei dem alten Mann zu sitzen, einfach so dazusitzen und zu schweigen. Ihm schien dann immer, der Alte habe so viel Wissen in sich gespeichert, da? selbst die Luft des Raumes davon ausgefullt war.
„Dem einen Menschen genugen zur Ruckentwicklung wenige Jahre, vorausgesetzt, er war eine tabula rasa. Es ist bekannt, da? Kleinkinder, die aus irgendwelchen Grunden unter Wolfe oder Tiger gerieten — solche Falle hat es in Indien und Afrika ja gegeben —, nach einigen Jahren hoffnungslos hinter ihren Altersgefahrten zuruckblieben.
Sie wurden debil. Debil bedeutet …“
„Ich wei? …“, sagte Oleg. „Entschuldige. Es gelang nicht, sie der Menschheit zuruckzugeben. Sie gingen sogar nur noch auf allen Vieren.“
„Und wie steht’s mit Erwachsenen?“
„Einen Erwachsenen wurden die Wolfe nicht annehmen.“
„Und wenn er auf eine unbewohnte Insel geriete?“
„Da gibt’s verschiedene Varianten, dennoch entwickelt sich der Mensch unausweichlich zuruck … Die Stufe der Degradation freilich …“ Der Alte sah Oleg an, der nickte — er kannte dieses Wort. „Die Stufe der Degradation hangt vom Niveau ab, auf dem sich der Betreffende zum Zeitpunkt der Isolation befand, auch von seinem Charakter.
Doch man kann kein historisches Experiment auf einer einzelnen Person begrunden. Wir sprachen stets vom Sozium, der Gruppe. Kann sich also eine Gruppe von Menschen im Falle einer Isolation auf dem kulturellen Niveau halten, auf dem sie sich zum Zeitpunkt der Abtrennung befand?“
„Sie kann“, sagte Oleg. „Wir sind so ein Beispiel.“
„Sie kann nicht“, widersprach der Alte. „Aber wahrend fur einen Saugling funf Monate zur Ruckentwicklung genugen, braucht eine Gruppe, selbst wenn sie uberlebt, zwei bis drei Generationen dazu, ein Stamm — noch mehr Generationen … ein Volk moglicherweise ein ganzes Jahrhundert. Umkehrbar jedoch ist der Proze? nicht, das hat die Geschichte erwiesen. Nehmen wir mal die australischen Aborigenes …“