Olegs Mutter kam herein, sie hatte sich gekammt und einen frischen Rock angezogen.

„Ich sitz noch ein bi?chen bei euch“, sagte sie.

„Tu das, Irotschka“, sagte der Alte. „Wir unterhalten uns gerade uber den sozialen Progre?, genauer gesagt, Regre?.“

„Ja, ja ich wei?“, erwiderte die Mutter. „Du bist der Meinung, da? wir in einiger Zeit auf allen vieren zu laufen beginnen. Ich aber halte dir entgegen: Bis es dazu kommt, sind wir alle verreckt. Gott sei Dank. Es steht mir bis hier.“

„Ihm aber nicht“, entgegnete der Alte. „Und meinen Zwillingen auch nicht.“

„Einzig fur ihn lebe ich“, sagte die Mutter, „ihr jedoch schickt ihn in den sicheren Tod.“

„Wenn du’s so betrachtest, Ira, droht uns der Tod hier taglich. Der Wald bedeutet Tod, und der Winter Uberschwemmung, Orkan, der Stich einer Hummel bedeuten gleichfalls Tod. Und woher er gekrochen kommt, welche Gestalt er annimmt, wissen wir nicht.“

„Er kommt, wann es ihm pa?t, und nimmt sich den, der ihm pa?t“, erwiderte die Mutter. „Einen nach dem anderen.“

„Und doch sind wir jetzt mehr Leute als vor funf Jahren.

Die Schwierigkeit liegt nicht im physischen Uberleben, sondern im moralischen.“ „Ja, aber die Leute wie du und ich sind weniger geworden! Verstehst du denn nicht, unsresgleichen gibt’s fast gar nicht mehr! Was konnen diese Welpen schon ohne uns?“

„So allerhand“, sagte Oleg. „Oder wurdest du allein in den Wald gehn?“

„Ich wurd mich lieber aufhangen. Hab ja mitunter sogar Angst, auf die Stra?e zu gehn.“

„Ich dagegen wurd auf der Stelle losziehn. Und zuruckkommen, mit Beute.“

„Dick und Marjaschka haben sie heute mit Muh und Not gerettet.“

„Das war Zufall. Du wei?t genau, da? Schakale kaum im Rudel auftreten.“

„Gar nichts wei? ich! Sind sie nun im Rudel gewesen oder nicht? Sind sie’s?“

„Nun ja …“

„Also sie sind.“

Oleg widersprach nicht weiter, und auch die Mutter verstummte. Der Alte seufzte und fuhr, die Gesprachspause nutzend, in seinem Monolog fort: „Erst heute ist mir wieder eine Geschichte in den Sinn gekommen. Endlos lange hab ich nicht mehr an sie gedacht, plotzlich aber fiel sie mir ein. Vielleicht weil sie einfach in die Situation pa?t. Es war im Jahre 1530, kurz nach der Entdeckung Amerikas. Ein deutsches Walfangschiff, das sudlich von Island auf Jagd war, geriet in einen Sturm und wurde nach Nordwesten abgetrieben, in unbekannte Gewasser. Einige Tage lang irrte das Schiff zwischen Eisbergen umher. Ein Eisberg ist …“

„Ich wei?“, sagte Oleg, „ein treibender Gletscher.“

„Richtig. Einige Tage trieb das Schiff also zwischen diesen Gletschern, und endlich tauchten die schneebedeckten Gebirgsufer eines unbekannten Landes vor ihnen auf. Es war das heutige Gronland. Das Schiff warf Anker, und die Matrosen gingen an Land. Stellt euch aber ihre Verbluffung vor, als sie schon bald auf eine halbzerstorte Kirche stie?en und auf die Uberreste von Steinhutten. In einer dieser Hutten fanden sie die Leiche eines rothaarigen Mannes, dessen Kleidung recht und schlecht aus Robbenfell genaht war. Neben ihm lag ein stumpf gewordenes Messer. Und nichts als Einode, Kalte, Schnee ringsum …“

„Mach uns keine Angst, Borja“, sagte die Mutter, ihre Finger trommelten nervos auf den Tisch. „Das sind doch pseudohistorische Marchen.“

„Moment mal, das ist absolut kein Marchen, sondern dokumentarisch verburgt. Jener Mann war der letzte Wikinger. Wei?t du noch, Oleg, wer die Wikinger waren?“

„Ja, Sie haben uns von ihnen erzahlt.“

„Die Wikinger durchfurchten die Meere, eroberten viele Lander, besiedelten Island, landeten in Amerika, das sie Winland nannten, begrundeten sogar ein Reich in Sizilien.

Und sie besa?en eine gro?e Kolonie in Gronland. Dort gab es mehrere Siedlungen mit Steinhausern, Kirchen und dergleichen. Doch dann liefen die Schiffe der Wikinger eines Tages nicht mehr aus. Ihre Kolonien fielen an andere Volker oder wurden im Stich gelassen. So ri? auch die Verbindung zur Kolonie in Gronland ab. Gleichzeitig gestaltete sich das Klima in jener Zeit immer rauher, das Vieh verhungerte, die Saat erfror, die Siedlungen verfielen.

Und zwar in erster Linie, weil sie die Verbindung zur Au?enwelt verloren hatten. Die Gronlander, einst tapfere Seefahrer, verlernten es, Schiffe zu bauen, wurden immer weniger Leute. Es ist bekannt, da? Mitte des XV.

Jahrhunderts in der letzten Kirche Gronlands die letzte Ehe geschlossen wurde. Die Nachfahren der Wikinger verwilderten, waren am Ende zu wenige, um den Unbilden widerstehen zu konnen, einen Progre? zu bewirken oder auch nur das Alte zu bewahren. Also wirklich, kannst du dir eine solche Tragodie vorstellen — die letzte Hochzeit im ganzen Land?“ Der Alte hatte sich bei diesen Worten Olegs Mutter zugewandt.

„Deine Vergleiche konnen mich nicht uberzeugen“, sagte sie. „Ob es nun viele Wikinger waren oder wenige “

nichts hatte sie gerettet.“

„Dabei hatten sie sich dem Klima angepa?t. Hatten sich in funfhundert Jahren angepa?t und sind dennoch ausgestorben. Wo es doch eine Alternative gab. Ware das besagte deutsche Schiff drei?ig Jahre fruher gekommen, alles hatte sich anders entwickelt. Die Wikinger hatten sich aufs Festland begeben und in die Menschenfamilie zuruckkehren konnen. Und umgekehrt: Hatten sich Beziehungen zu anderen Landern herausgebildet, waren Kaufleute, neue Siedler gekommen oder wenigstens neue Produktionsmittel, neues Wissen aus der Welt zu den Insulanern gelangt — alles ware anders gelaufen …“

„Zu uns wird nie ein Schiff kommen,“ sagte die Mutter.

„Unsere Rettung besteht nicht darin, da? wir uns in die Natur einleben“, sagte der Alte bestimmt, diesmal an Oleg gewandt. „Wir sind auf Hilfe angewiesen. Auf die Hilfe der ubrigen Menschheit. Deshalb bestehe ich darauf, da? dein Sohn zum Gebirgspa? geht. Wir tragen die Erinnerung noch in uns, und es ist unsere Pflicht, den Faden nicht abrei?en zu lassen.“

„Ist doch sinnloses Gerede“, sagte die Mutter mude.

„Soll ich Wasser warm machen?“

„Tu das“, sagte der Alte, „gonnen wir uns was. Uns droht das Vergessen. Schon jetzt werden es immer weniger Menschen, die wenigstens ein Bruchteil von menschlicher Weisheit, Zivilisation und Wissen in sich tragen. Die einen sterben, andere verunglucken, wieder andere sind mit dem Kampf ums Uberleben aus gefullt … Und nun bildet sich eine neue Generation heraus. Du und Marjana, ihr seid noch nicht so stark gepragt, seid eine Art Ubergangsetappe, ein Kettenglied, das uns mit der Zukunft verbindet. Kannst du dir vorstellen, wie diese Zukunft einmal aussehen wird?“ „Wir furchten den Wald nicht mehr“, sagte Oleg. „Wir kennen die Baume und Pilze, wir konnen in der Steppe jagen …“

„Ich habe Angst vor der Zukunft, in der ein neuer Menschenschlag vom Typ eines Jagers Dick die Oberhand hat. Er ist fur mich ein Symbol des Ruckzugs, ein Symbol fur die Niederlage des Menschen im Kampf mit der Natur.“

„Richard ist ein guter Junge“, sagte die Mutter aus der Kuche. „Er hat es schwer allein.“

„Ich spreche nicht vom Charakter“, sagte der Alte, „sondern von ihm als sozialer Erscheinung. Wann lernst du es endlich, vom alltaglichen Kleinkram zu abstrahieren, Irina?“

„Abstrahieren hin, abstrahieren her“, erwiderte die Mutter, „hatte Dick in diesem Winter nicht Baren erlegt, wir waren wahrscheinlich allesamt verhungert.“

„Dick fuhlt sich hier bereits als Ureinwohner, als Herr des Waldes. Er kommt schon volle funf Jahre nicht mehr zu mir. Ich bin nicht sicher, ob er das Alphabet uberhaupt noch kennt.“

„Wozu auch?“ sagte die Mutter. „Es gibt ja doch keine Bucher hier. Und niemanden, an den man einen Brief schreiben konnte.“

„Dick kennt viele Lieder“, sagte Oleg. „Er schreibt sogar selber welche.“ Oleg schamte sich ein bi?chen, denn die ablehnende Haltung des Alten gegenuber Dick war ihm angenehm. Deshalb verteidigte er ihn.

„Die Lieder tun hier nichts zur Sache“, erwiderte der Alte. „Lieder sind die Morgenrote der Zivilisation. Fur die Kleinen jedenfalls ist Dick ein Idol. Dick der Jager! Und fur euch Weiber ist er das gro?e Vorbild: Seht nur den Dick, das ist ein guter Junge! Fur die jungen Madchen aber ist er geradezu ein Ritter. Ist dir schon mal aufgefallen,

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