„Ich hasse ihn“, sagte sie, als sie zuruckkam.

„Warum denn“, fragte Oleg, „weil er sich nicht bei dir bedankt hat?“

„Er hat’s bei uns besser, hier ist er weniger in Gefahr.“

„Ich hatte ihn mal doch im Morgengrauen erschie?en sollen“, sagte Dick. „Ich wollte es schon tun, dachte dann aber, am Tage ging es besser.“

„Das ist niedertrachtig“, sagte Marjana, „schlie?lich hat er uns heute nacht gerettet.“ „Das eine hat mit dem andern nichts zu tun“, erwiderte Dick, „verstehst du das denn nicht? Au?erdem hatte der Ziegenbock nur sein eignes Fell im Sinn.“

Oleg griff nach dem Ledereimer, er wollte sich auf Suche nach Wasser machen.

„Vergi? den Speer nicht“, sagte Marjana.

„Und entferne dich nicht zu weit“, ermahnte Thomas.

„Ich bin kein kleiner Junge“, wehrte Oleg ab, nahm aber den Speer.

Der Nebel hatte sich noch nicht gelichtet, er versteckte sich in den Niederungen. Die Wolken reichten fast bis zur Erde, und zwischen ihnen und den Nebelkissen bildeten sich vereinzelt Verbindungsbogen, so als streckten die Wolken im Vorbeifliegen die Hande zum Nebel aus, um ihn zum Mitkommen aufzufordern. Doch der Nebel liebte die Ruhe und hatte kein Verlangen, am Himmel entlangzufliegen. Oleg sagte sich, da? er durchaus bereit ware, anstelle des Nebels mit den Wolken nach Suden zu ziehn, zu den gro?en Waldern, zum Meer, wohin im vorigen Jahr Sergejew, Waitkus und Dick aufgebrochen waren. Posnanski war noch dabeigewesen, doch nicht zuruckgekehrt. Sie waren nicht weit gekommen, hatten das Meer nicht erreicht, weil die Walder dort unubersehbar gro? waren, voll von rauberischen Lianen und giftigem Getier. Je warmer es war, desto mehr Kreaturen gab es, die dem Menschen gefahrlich werden konnten. Flog man dagegen mit den Wolken, konnte man uber die Baumwipfel und das Meer hinwegjagen wie die Vogel hoch droben, die bei gutem Wetter mitunter als Schatten in den Wolken auftauchten, doch nie einen Fu? auf die Erde setzten. Gewi?, die Menschen konnten fliegen, viel schneller sogar als die Wolken, doch in der Siedlung mu?ten sie ganz von vorn beginnen. Das aber war schwierig, weil es an Zeit und Material fehlte. Oleg zum Beispiel wollte einen Ballon herstellen, doch dafur benotigte er sehr viel Fischhaut, Faden und Nadel.

Niemand au?er dem Alten und den Kindern war bereit gewesen, ihm zu helfen.

„Abstrakt gesehen ist die Idee gar nicht mal so schlecht“, hatte Sergejew gesagt, „in hundert Jahren werden wir uns unbedingt damit befassen.“

„In hundert Jahren werden wir diese Idee allesamt vergessen haben“, erwiderte der Alte. „Wir werden uns Gotter schaffen, die hoch in den Wolken wohnen und uns Sterblichen verbieten, sich ihnen zu nahern.“

Jedenfalls war es mit dem Ballon nichts geworden.

Oleg bewegte sich hugelabwarts, er glaubte das Rauschen von Wasser zu horen. An solchen Stellen konnte es durchaus Quellen oder kleine Rinnsale geben. Schon bald kam er an den Gerollhang, hinter dem der Hut des Riesenpilzes aus dem Boden ragte, der gestern abend seinen Schlund aufgerissen hatte. Die Nebelhaube kroch langsam von dem hellen kreisformigen Gebilde herunter, und Oleg beobachtete, wie sich, Blutenblattern gleich, das Zentrum des Pilzes langsam offnete. Aus dem Nebel jenseits der Niederung rollten feierlich und in regelma?igen Intervallen nacheinander mehrere graue Kugeln heran. Sie wirkten weich und poros, schienen auch etwas dunkler als der Pilz … Das also waren sie, die Gaste von heut nacht, die giftigen Elefanten, die Teigmasse.

„Die Jager kehren nach Hause zuruck“, sagte Oleg leise und begriff plotzlich, da? die Kugeln auf ihn zuglitten, viel schneller, als das bei der Gleichma?igkeit ihrer Bewegung scheinen mochte. Oleg trat den Ruckzug an, die Kugeln aber rollten, wieder nacheinander, auf die federnde Oberflache des Pilzes zu und begaben sich in Richtung Zentrum, zu den geoffneten Blutenblattern. Da plumpste auch schon, sie weich zerteilend, die erste Kugel in die Tiefe, nach ihr die zweite, die dritte, nur die vierte verweilte noch fur eine Sekunde oben, als wollte sie sich vergewissern, da? ringsumher alles in Ordnung sei. Dann verschwand auch sie, und die Blutenblatter schossen sich langsam und zufrieden wieder. Die Oberflache des Pilzes glattete sich und war nun nichts weiter als ein runder Schneefleck, ein kleiner zugefrorener See.

Oleg blieb noch etwas stehen, uberlegte, wie er einen dieser „Elefanten“ fangen konnte. Aus seiner Haut konnte er einen richtigen Ballon fertigen. Doch nein, diese Kugeln wurden sich nicht ergreifen lassen.

Oleg frostelte. Von Westen, wohin ihr Weg sie fuhrte, kam jah ein eisiger, durchdringender Wind, verbrannte ihm Gesicht und Hande. Erinnerte ihn an das, was sie erwartete.

Doch nicht das erschreckte ihn plotzlich, sondern der Gedanke, sie konnten, wie schon ihre Vorganger, den Gebirgspa? nicht bezwingen. Dick wurde sich nur freuen — er konnte in seine geliebte Steppe zuruckkehren.

Marjana wurde sich mit den neuen Grasern und Pilzen trosten, die sie fand. Thomas war an Ungluck gewohnt und glaubte nicht so recht an den Erfolg. Am schwersten wurde es fur ihn, Oleg, sein. Und fur den Alten.

Sie marschierten den ganzen Tag uber offenes Gelande, stie?en nur hin und wieder auf niedriges Buschwerk. In dieser Gegend herrschte Odnis, dafur aber lief es sich gut, so da? sie nicht zu sehr ermudeten. Thomas sagte, sie hatten die Zeit gunstig gewahlt. Der Sommer fiel in diesem Jahr warm aus, voriges Mal hatte hier bereits Schnee gelegen. Dick langweilte sich, er entfernte sich wie ein Grashupfer mal hierhin, mal dorthin, um nach einer halben Stunde ohne Beute und enttauscht zuruckzukehren.

Der Ziegenbock aber hatte insofern Gluck, als er sich ausgerechnet in Dicks Abwesenheit einfand. Andernfalls, daran zweifelte Oleg nicht im geringsten, hatte Dick ihn glattweg erlegt. Es war derselbe Ziegenbock, und er sprang mit solchem Larm aus dem Gebusch, als handle sich’s um eine ganze Barenfamilie — die Leute empfingen ihn mit der Armbrust im Anschlag. Doch dann erkannten sie ihn.

Das gewaltige behaarte Tier, in Kammhohe gro?er als Oleg, schrie laut vor Freude, als es seine Freunde wiedertraf. Es rannte, das schwere Hinterteil hochwerfend, so da? die knochernen Platten auf seinem Rucken klapperten, mit betaubendem Gemecker um sie herum.

Danach entfernte sich der Bock keinen Schritt mehr von ihnen. Selbst uber Dick freute er sich — er hatte ihn bereits auf einen Kilometer Entfernung gewittert. Von da an ging er in der Mitte der Gruppe, weigerte sich, einen Platz an der Seite oder hinten einzunehmen und geriet den Leuten dauernd zwischen die Beine. Oleg glaubte, das Tier wurde ihm mit seinen scharfen Hufen jeden Augenblick auf die Fu?e treten, doch es war taktvoller als bei der ersten Begegnung, brachte es in letzter Sekunde immer wieder fertig, seine Hufe wegzuziehn.

Gehor und Witterung waren bei ihm fabelhaft entwickelt. Er spurte die Anwesenheit beliebiger Lebewesen auf viele Meter, und gegen Abend bereits behauptete Marjana, den Sinn seiner Lautau?erungen deuten zu konnen: Wann zum Beispiel eine Lichtung mit schmackhaften Pilzen vor ihnen lag und wann es galt vorsichtig zu sein, weil ihnen Rauberlianen unter die Fu?e geraten konnten.

Lange vor Dunkelwerden machten sie am Rande des Plateaus zur Nachtruhe halt. Danach wurde der Aufstieg beginnen, und Thomas sagte, sie mu?ten am Morgen die Mundung des Gebirgsbachs ausfindig machen, das Hochtal entlangwandern, bis es sich verengte und zur Schlucht wurde. Der Weg durch diese Schlucht wurde dann mindestens zwei Tage in Anspruch nehmen.

Hier am Plateau gab es weder eine Hohle noch sonst eine Unterschlupfmoglichkeit, und so schliefen sie im Zelt, was dem Ziegenbock gar nicht gefiel. Obwohl in dieser Nacht keinerlei Gefahr auf sie lauerte, forderte er, da? man ihn ins Warme lie?. Schlie?lich drangte er sich fast mit Gewalt ins Zelt und trat allen schmerzhaft auf die Beine.

Zwar schimpften die Menschen, litten es aber, weil man auf diese Weise keine Wache aufzustellen brauchte “

kame tatsachlich ein ungebetener Gast, der Ziegenbock wurde ein solches Geschrei machen, da? sie sofort hellwach waren.

Gegen Morgen war Oleg furchtbar durchgefroren. Es fehlte ihm jedoch an Kraft, zu sich zu kommen. Im Traum glaubte er in einem eisigen Sumpf zu stecken, aus dem er nicht hochzutauchen vermochte. Es schuttelte ihn richtig, plotzlich aber wurde es warmer, und er schlief ruhiger. Er erwachte, weil der Ziegenbock beschlossen hatte, noch tiefer ins Zeltinnere vorzudringen, und ihm dabei schmerzhaft das Bein druckte. Oleg zog das Bein weg, schlug die Augen auf und bemerkte, da? Thomas in der Nacht den Platz mit ihm getauscht hatte; nun lag er au?en.

Thomas war wei? vor Kalte, er lag mit zusammengebissenen Zahnen und geschlossenen Augen da, gab sich den Anschein zu schlafen. Oleg schamte sich. Noch im Dorf hatten sie abgesprochen, Thomas zu schonen, sobald es richtig kalt wurde, denn er hatte schwache Lungen und vertrug den Frost schlecht. Fur die Jungen dagegen

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