„Ja“, Thomas blieb neben Dick stehen.
Oleg war ein Stuck zuruckgeblieben. Er hatte vor einer Stunde Marjanas Sack ubernommen, damit sie nicht so schleppen mu?te. Das Madchen wollte ihn nicht hergeben, doch Thomas sagte: „Das ist ganz in Ordnung. Morgen helfe ich beim Tragen, dann Dick.“
„Weshalb denn tragen helfen?“ sagte Dick. „Heut nacht schmei?en wir alles Uberflussige aus ihrem Beutel raus und verteilen den Rest auf unsere Sacke. Da merken wir’s kaum, und Marjaschka hat’s auch leichter. Das hatten wir uns ubrigens schon eher uberlegen konnen. Haben uns zwei Monate vorbereitet und sind nicht drauf gekommen.“
Mocht mal wissen, wer sich das hatte uberlegen sollen, dachte Oleg. Machst dir genauso gescheite Gedanken wie die andern auch. Und was sie nicht alles hatten einfach mitschleppen mussen! Zwar behauptete Dick, sie brauchten sich ums Essen keine Sorgen zu machen, er als Jager wurde schon Nahrung herbeischaffen, trotzdem nahmen sie Dorrfleisch, Wurzeln und getrocknete Pilze mit. Die Hauptlast aber war das Holz — ohne Holz konnten sie weder Wasser hei? machen noch die Tiere vertreiben.
„Wei?t du, woran dieser Fleck erinnert?“ sagte Marjana, als sie die Manner eingeholt hatte. „An den Hut eines Pilzes. Eines Riesenpilzes.“
„Kann schon sein“, sagte Dick, „es ist besser, wir machen einen Bogen um ihn.“
„Wozu?“ erwiderte Oleg. „Ubers Geroll mussen wir muhsam klettern.“
„Ich versuch’s mal, ja?“ sagte Marjana, lie? sich auf die Knie nieder und holte ein kleines Messer hervor.
„Was hast du vor?“ fragte Thomas.
„Ich schneid ein Stuck ab und rieche dran. Wenn es ein e?barer Pilz sein sollte, war’s toll, wir konnten die ganze Siedlung satt machen.“
„Anschneiden lohnt nicht“, sagte Dick, „mir gefallt dein Pilz nicht. Und uberhaupt, das ist kein Pilz.“
Marjana hatte das Messer bereits in den Fleck gesto?en.
Freilich kam sie nicht mehr dazu, ein Stuck abzuschneiden — sie konnte gerade noch ihr Messer schnappen. Der wei?e Fleck begann sich plotzlich nach au?en zu wolben und bewegte sich unter Zuckungen auf Marjana zu. Dick ri? das Madchen heftig an sich, und sie fielen beide auf die Steine. Thomas sprang gleichfalls zur Seite und hob die Armbrust. Dick sa? auf den Steinen, er sagte lachend: „Um den zu erledigen, brauchst du einen Pfeil so gro? wie ein Haus oder noch gro?er.“
„Und doch ist es ein Pilz“, sagte Marjana, „du hast dich ganz umsonst erschrocken, Dick. Er riecht auch so.“
Wellenformige Zuckungen liefen vom Zentrum zu den Randern des wei?en Flecks, wie Ringe, die ein ins Wasser geworfener Stein auslost. Die Mitte des Pilzes aber wolbte sich unaufhorlich nach oben, so als stie?e jemand mit dem Kopf dagegen, um ins Freie zu gelangen. Danach breiteten sich kleine dunkle Risse vom Zentrum zu den Seiten aus, wurden breiter und schlie?lich zu riesigen Blutenblattern, deren Spitzen zur Mitte zeigten. Danach begannen sich die Blutenblatter aufzurichten und nach hinten einzurollen, so da? eine Blume daraus wurde.
„Sieht hubsch aus“, sagte Marjana, „ist doch wirklich hubsch, nicht wahr?“
„Und du wolltest drauf rumspazieren“, sagte Dick zu Oleg im Ton des Alteren, obwohl sie der gleiche Jahrgang waren. Sie waren beide zwei Jahre alt gewesen, als man sie uber den Gebirgspa? trug. Thomas warf sich die Armbrust auf den Rucken und hob Marjanas Messer auf, das noch immer auf den Steinen lag.
„Auch Naturforscher sollten hin und wieder denken, bevor sie sich ans Erkunden machen.“
„Er kann uns doch gar nichts anhaben“, erwiderte Marjana, „er will nur zeigen, wie schon er ist.“ „Hauptsache, er tragt keine Parasiten in sich“, sagte Dick. „Na was ist, gehn wir weiter? Sonst ist es dunkel, und wir finden die Hohle nicht. Dann war all unsre Planung umsonst. Schlie?lich sind wir nicht von ungefahr so aufgebrochen, sondern weil wir an einem bekannten Ort ubernachten wollten.“
Sie umgingen den Fleck uber einen steinernen Wall.
Oleg wollte von oben einen Blick auf die Blutenmitte werfen, doch dort war es dunkel und hohl. Die Blatter schlossen sich allmahlich wieder, der Pilzgigant beruhigte sich.
„Wie nennen wir ihn?“ fragte Marjana.
„Fliegenpilz“, sagte Thomas.
„Ist das ein richtiger Pilz?“
„Und ob das ein richtiger Pilz ist“, erwiderte Thomas.
„Er ist giftig und hat einen roten Hut mit wei?en Flecken.“
„Dann sieht er dem hier aber nicht ahnlich“, sagte Dick.
„Klingt trotzdem hubsch“, sagte Marjana.
Es war seit langem Brauch, da? Thomas unbekannten Dingen einen Namen gab. Er griff dabei immer auf bereits Vorhandenes zuruck, auch wenn es nicht unbedingt treffend war. Weshalb sollte er sich etwas neues einfallen lassen, Hauptsache, es gab eine Gemeinsamkeit. Pilze wuchsen in der Erde, und man konnte sie trocknen.
Folglich wurden runde, kuppelformige Gewachse, ob nun orangefarben oder blau, sofern sie sich in den Boden gruben, als Pilze bezeichnet. Voraussetzung war, da? man sie trocknen und essen, kochen und braten konnte, wenn man sie vorher grundlich eingeweicht hatte. Oder die Schakale: Sie bewegten sich in Rudeln, ernahrten sich von Aas, waren feige und gierig. Da? die hiesigen Schakale Kriechtieren ahnelten, tat nichts zur Sache. Oder der Bar: Er war ein gro?es Tier mit langem, zottigen Fell … Das Fell der einheimischen Baren dagegen erinnerte wie die Triebe der Kollerdistel an grunes Haar.
Oleg war beim Klettern uber den Gerollhang ziemlich au?er Atem geraten. Die Steine rutschten ihm unter den Fu?en weg, Marjanas Sack zog seinen Arm nach unten, der eigene auf dem Rucken druckte. Oleg zahlte die Schritte “
wo mochte diese verdammte Hohle sein? Die Luft farbte sich blau, der Tag war ohnehin trube gewesen, und nun begannen die Gegenstande schon in zehn Schritt Entfernung zu verschwimmen. Vom Boden stieg grauer Nebel auf, es wurde Zeit, ein Versteck aufzusuchen, nachts wagte es nicht einmal Dick, in den Wald oder die Steppe zu gehen. Im Dunkeln kam alles mogliche Ungeziefer hervorgekrochen — wer nachts die Umzaunung des Dorfes verlie?, kehrte nicht zuruck. Und nun erst, weit von der Siedlung entfernt … Oleg drehte sich um, er hatte den Eindruck, jemand sei ihm auf den Fersen. Doch nein, es war nur der Nebel. Oleg beschleunigte unmerklich den Schritt, da drehte sich Thomas zu ihm um und rief leise: „He, halt ein bi?chen Abstand, du wirfst mich um!“ Dennoch konnte sich Oleg des Eindrucks nicht erwehren, da? ihm jemand folgte.
Der Rucken von Thomas war auf einmal verschwunden, denn Thomas hatte Marjana uberholt. Nun ging das Madchen vor Oleg. Sie hatte einen schmalen Rucken, selbst in der dicken warmen Jacke wirkte er schmal.
Marjana stolperte verschiedentlich, sie konnte im Dunkeln schlecht sehen. Egli sagte, das sei Nachtblindheit, doch nicht die ubliche, sondern eine endemische. „Endemisch … das hei?t, auf einen bestimmten Bereich begrenzt“, klang in Olegs Ohren die Stimme des Alten, als ginge er neben ihm.
„Soll ich dich bei der Hand nehmen?“ fragte Oleg.
Sie stapften durch den endlosen Nebel, in dem sie bis zu den Knien einsanken.
„Danke, nicht notig“, erwiderte Marjana.
„Halt!“ ertonte dumpf und von weit her Dicks Stimme.
„Wir sind an den Felsen!“
Gut nur, da? niemand die Hohle mit Beschlag belegt hatte.
Ein Bar hatte dort Zuflucht suchen konnen oder noch schlimmer, eins von jenen Dammerungs— oder Nachttieren, die schemenhaft um den Zaun schlichen, mitunter sogar daran ruttelten, weil es sie zu den Menschen zog, auch wenn sie die Menschen furchteten. Eines Tages hatte Marjana ein kleines Ziegenbockchen aus dem Wald angeschleppt, es reichte ihr gerade mal bis zur Hufte. Das Bockchen hatte eine nervtotende Stimme, schlimmer als die Zwillinge; das grune Haar hing in Strahnen bis zur Erde, es stampfte mit den gepanzerten Beinen und jaulte.
„Es meckert“, hatte Waitkus damals befriedigt erklart, „ich liebe die Stimmen von Haustieren!“
„Also ist’s ein Ziegenbock“, hatte Thomas gesagt.
Der Ziegenbock lebte bis zum Winter, wo es fast ohne Unterbrechung Nacht war, in der Siedlung. Er hatte