Proportionen wechselte, immer verschwommener und trugerischer wurde, sagte: „Man kann Dick ja verstehen … Wir haben in der Tat kein Gluck.“

„Dabei ist es gar nicht mehr weit“, sagte Thomas, „ich bin ganz sicher. Wir kommen gut voran, morgen konnten wir dort sein. Bis morgen kamen wir auch ohne Fleisch hin, meint ihr nicht? Hinter dem Pa? aber gibt es Nahrung, das verspreche ich euch, Freunde. Dick, ich verspreche es!“

Dick hob den Arm, gab zu verstehen, da? er Thomas’ Worte gehort hatte — die Gerausche hallten weit uber den Schneehang —, verlangsamte aber den Schritt nicht.

„Wir mussen die Ziege unbedingt fangen“, sagte Thomas, erneut an Marjana gewandt, „wir brauchen sie noch. Wir durfen sie nicht toten, darin liegt keinerlei Sinn … Ach, wie hei? mir ist … ich verbrenne … Weshalb tut mir die Leber so weh … Das ist unfair, wir sind doch schon so nahe am Ziel …“

„Er wird sie toten“, sagte Marjana, „er wird sie unweigerlich toten. Di—i–ick!“

Marjana wandte sich Thomas und Oleg zu: „Was soll ich blo? tun, sagt es mir, ihr seid doch klug, wi?t immer Rat! Wie kann ich ihn zuruckhalten?“

„Ich kann ihn nicht einholen“, sagte Thomas, „fur ihn bin ich leider keine Autoritat mehr.“ „Gleich …“ murmelte Oleg, „du mu?t mich blo? losbinden … Vielleicht schaff ich’s noch bis zum Anfall, vielleicht schaff ich’s …“

Marjana winkte blo? ab, machte zwei Schritte hinter Dick her, kehrte wieder um, sah die beiden an. „Ich kann euch doch unmoglich allein lassen.“

„So lauf endlich!“ schrie Thomas plotzlich. „Lauf so schnell du kannst!“

„Meinen Sie wirklich?“

„Lauf los“, sagte Oleg.

„Aber ihr beide allein, das geht doch nicht … Wenn plotzlich ein Tier kommt …“

„Du sollst laufen!“ wiederholte Oleg. „Und zuruckkommen.“

Da rannte das Madchen leichtfu?ig, kaum den Schnee beruhrend, den Abhang hinunter; Dick war bereits verschwunden.

„Sie tut mir leid, die Kleine“, sagte Thomas, „sie hangt so an dem Tier.“

„Mir tut sie auch leid“, sagte Oleg. „Seltsam, Sie besitzen uberhaupt keine Form mehr, sind mal dick und dann wieder ganz dunn wie ein Streichholz.“

„Ist schon klar“, erwiderte Thomas. „Entspann dich, so gut es geht. Eigenartigerweise wirkt dieses Gift zuerst aufs Sehvermogen. Ich erinnere mich noch, denn mich hat dreimal so ein Floh gebissen. Aber hab keine Angst, es bleiben keinerlei Folgen zuruck, wirklich, du kannst beruhigt sein.“

„Ich glaub’s ja, trotzdem ist es furchtbar, sich zu verlieren, verstehen Sie? Eben noch bin ich es, und kurze Zeit spater schon nicht mehr.“

Oleg zog es in die Tiefe, in blaues Wasser, und es war unsaglich schwer, sich an der Oberflache zu halten, denn die Beine waren von Schlingpflanzen umwuchert, und er mu?te sie losrei?en, befrein, sonst wurde er unweigerlich ertrinken.

Die Decke, die Marjana uber Oleg gebreitet hatte, flog beiseite. Oleg, gegen die Wand gelehnt, konnte sich nicht mehr halten und fiel in den Schnee. Seine Augen waren geschlossen, die Lippen bewegten sich, das Gesicht wurde vor Anspannung und in dem Bestreben, die Fesseln zu sprengen, dunkel. Thomas wollte sich erheben, um ihm zu helfen, ihn zuzudecken oder wenigstens seinen Kopf auf die Knie zu nehmen. Es war in solchen Fallen immer gunstig, den Kopf des Kranken zu halten. Thomas bemuhte sich aufzustehn, doch die Beine versagten ihm den Dienst.

Oleg spannte den Rucken und schnellte buchstablich in die Luft, er stie? sich mit den Fausten vom Boden ab und begann den Abhang hinunterzurollen. Er uberschlug sich mehrmals, prallte gegen einen aus dem Schnee ragenden Felsblock und blieb reglos liegen. Seine Jacke war zerrissen, der Schnee auf seiner nackten Brust aber taute nicht.

So geht das doch nicht, dachte Thomas entsetzt, ich mu? unbedingt zu ihm! Zum Teufel mit der Ziege, zum Teufel mit Dick und seinem Komplex, unbedingt den starken Mann zu spielen. Dabei ist er davon uberzeugt, im Recht zu sein, das Wohl aller im Sinn zu haben. Von seinem Standpunkt aus hat er sogar wirklich recht, aber nur, weil er unfahig ist, einen Blick in die Zukunft zu werfen … Wie schnell doch der zivilisierte, in der Gemeinschaft lebende Mensch zum Wilden wird. Wir hatten es nicht zulassen durfen, da? unsre Kinder wie die jungen Wolfe aufwuchsen, nur damit sie sich besser im Wald zurechtfanden. Aber wir hatten ja keine Wahl. In all den funfzehn Jahren haben wir, die Erwachsen es einfach nicht zuwege gebracht, zum Pa? vorzudringen. Und es hatte auch nie Hoffnung gegeben, waren nicht solche Jungs wie Dick und Oleg herangewachsen … Himmel, mu? mein Fieber hoch sein … bestimmt uber vierzig … Wie weh das Atmen tut — das ist eine doppelseitige Lungenentzundung, um das zu erkennen, braucht man kein Arzt zu sein. Wenn ich das Raumschiff nicht erreiche, ist’s aus mit mir, dann hilft mir auch kein Ziegenfleisch mehr. Vor allem aber mu? ich auf eignen Fu?en zum Schiff gelangen — die Kinder konnen mich unmoglich bis zum Pa? schleppen … Gott, wie mag es Oleshka gehn? Dieser Floh ist der Gipfel allen Unheils, er ist wie ein Verhangnis, das sich im Wald und in den Bergen versteckt halt, um uns daran zu hindern, zur ubrigen Menschheit vorzudringen. Als wollte uns der Wald zu seinen Kindern machen, zu zweibeinigen Schakalen. Er ist bereit, unsere Siedlung zu dulden, doch nur als eine Fortsetzung seiner selbst, nicht als seine Negation … Dort hinter diesem Felsblock gahnt dunkel der Abhang. Er scheint zwar nicht sehr steil abzufallen, doch wenn Oleg in diesem Zustand absturzt, bedeutet das seinen Tod … Wo ist hier blo? ein Strick, ich brauche einen zweiten Strick, mit dem ich Oleg an diesen Felsblock binden kann … Thomas begann sich kriechend bergab zu bewegen, ein Gluck, da? es bergab ging, das war leichter, lediglich der Schnee versengte ihn. Wie war es nur moglich, da? der Schnee uberallhin drang und ihm so furchtbar die Brust verbrannte. Wenn er husten mu?te, tat er das moglichst sacht, damit es ihm nicht die Lungen zerfetzte. Der Husten aber sammelte sich in seiner Brust und drangte heraus, nichts konnte ihn zuruckhalten.

Thomas kroch bergab und zog den Strick hinter sich her, der ihm unwahrscheinlich schwer vorkam, wie aus Blei. Der Strick verselbstandigte sich und wand sich wie eine Schlange. Oleg schlug wie ein gefangener Vogel um sich, wollte die Fesseln zerrei?en, und sein Nacken stie? dabei immer wieder gegen den Fels. Thomas spurte den Schmerz des Jungen fast korperlich, einen Schmerz, der Oleg zwar im Alptraum widerfuhr, nichtsdestoweniger aber real war und als Vision vor ihm erstand: Oleg glaubte in diesem Moment, ein Hausdach sei auf ihn herabgesturzt.

Nur noch zehn Meter waren zuruckzulegen. Thomas begriff, da? Oleg ihn nicht horte, nicht horen konnte, dennoch rief er beschworend: „Halte durch, ich komme!“

Selber aber hob er unter gro?en Muhen den Kopf, um zu sehen, ob nicht endlich Marjana und Dick zuruckkamen.

Doch wie zum Trotz lie?en sich die beiden nicht blicken.

Das Wichtigste war jetzt, rechtzeitig bei Oleg zu sein, ihn daran zu hindern, den Hang hinunterzusturzen, andernfalls ware alles verloren. Gescheitert auch der Marsch zum Gebirgspa?, der nun schon zehn Jahre wahrte … Diese dummen Kinder konnten bestimmt nicht verstehn, da? ich, am Ziel angelangt, mir zuallererst eine Schachtel Zigaretten suchen wurde, dachte Thomas. Wenn sie noch staunten, hierhin und dorthin liefen, in Begeisterungsrufe ausbrachen — ich wurde mich in einen Sessel setzen, in einen schonen weichen Sessel, und nach all den Jahre erst mal einen richtigen Zug tun. Marjaschka wurde erschrecken, wenn plotzlich Rauch aus meinem Mund kame, mir aber wurde von diesem Zug regelrecht schwindlig werden … Doch weshalb ist mir jetzt schwindlig, ich rauche ja gar nicht … Als Thomas endlich bei Oleg war, verlor er fur einige Sekunden das Bewu?tsein. Seine ganze Kraft war draufgegangen, um das erstrebte Ziel zu erreichen. Sein Korper, einzig von diesem verzweifelten Wunsch vorwarts getrieben, verweigerte nun den Gehorsam, so als hatte er alles geleistet, wozu er imstande war.

Ein eisiger Windsto?, der ihm eine Schneesalve ins Gesicht blies, brachte Thomas wieder zu sich, vielleicht waren es aber auch das undeutliche Gemurmel Olegs und sein keuchender Atem. Thomas wunschte sich nichts sehnlicher, als mit geschlossenen Augen liegenzubleiben, nichts zu tun und an nichts zu denken — das ware dann ein warmes, behagliches Marchen, die Erfullung seiner Traume.

Oleg rutschte erneut um einen Meter abwarts, er schlug wild um sich, zerrte an den Stricken, stie? sich mit den gefesselten Beinen vom Felsblock ab. Thomas wollte seine Schnur fester packen, er uberlegte, wie er den Jungen zuverlassig am Felsen festbinden konnte, kam aber zu keinem Ergebnis. Und da stellte fest, da? seine Hand leer war, da? er den Strick unterwegs hatte fallen lassen. Sein Ende lag, zu einem Ring geformt, ein paar Meter hinter ihm, doch Thomas besa? einfach nicht mehr die Kraft, zu ihm zuruckzukriechen. So streckte er sich

Вы читаете Gebirgspass
Добавить отзыв
ВСЕ ОТЗЫВЫ О КНИГЕ В ИЗБРАННОЕ

0

Вы можете отметить интересные вам фрагменты текста, которые будут доступны по уникальной ссылке в адресной строке браузера.

Отметить Добавить цитату