Wer war es, der hier unterwegs war? Und wohin fuhrt die Spur?

Die Spur fuhrt tief in die Vergangenheit, und der Autor der Fu?abdrucke war mit Sicherheit nicht allein. Es waren drei Vormenschen der Gattung Australopithecus, die hier in Laetoli in der Nahe des Vulkans Sadiman vor 3,6 Millionen Jahren unterwegs waren und in eine Aschewolke gerieten. Der feuchte Boden und die nachfolgende Sonneneinstrahlung konservierten ihre Schritte wie in einer Zeitkapsel.

Was mogen sie gesehen haben, als sie sich - wie die Abdrucke zeigen - in der Mitte der Spur umdrehten und nach Westen blickten? Wir wissen es nicht, aber wir wissen etwas anderes: dass sie auf zwei Beinen durch die Vulkanasche tappten und den Fu? dabei abrollten. Die Trittspuren von Laetoli sind ein einzigartiger direkter Beweis fur das aufrechte Gehen in einer noch relativ fruhen Epoche der menschlichen Evolution. Das Projekt Mensch war also - wortwortlich - in Gang gekommen.

Dreieinhalb Millionen Jahre zuvor und rund drei Milliarden Jahre nach Entstehung des Lebens auf der Erde hatte die Natur mit diesem Experiment begonnen - ihrem gro?ten und folgenreichsten. Das geeignete geologische Laboratorium dafur war soeben fertig geworden: der 6000 Kilometer lange Afrikanische Grabenbruch, das tektonisch labile »Great Rift Valley«, das in Nord-Sud-Richtung vom heutigen Syrien uber Athiopien und Tansania bis nach Mosambik reicht.

Die uberdimensionale Furche, flankiert von feurigen Vulkanbergen, Nahtstelle nahrungsreicher Urwalder auf der einen, offener Savannen auf der anderen Seite, ist das Ergebnis auseinanderdriftender Kontinentalplatten. Die Erdkruste bricht auf, der Dschungel bekommt Lucken und Lichtungen, die Voraussetzungen zum Uberleben verandern sich.

So entstehen - vor sieben Millionen Jahren - die idealen Kulissen und die perfekte Probebuhne fur den aufrechten Gang, mit dem spater die Pioniere der Gattung Homo den Traditionsbruch zu ihren kletterfixierten Urahnen einleiten werden, um schlie?lich auf zwei Beinen von Ostafrika aus die Welt zu erobern. Wir werden, wenn es so weit ist, ihren Routen folgen.

Das menschliche Skelett setzt sich aus mehr als 200 Knochen zusammen. Verschwindend klein mutet dagegen das Knochenarsenal der Palaontologen an. Aus hochstens 3000 uber den Globus verstreuten Funden versuchen sie die verschiedenen Akte und Akteure des Dramas der menschlichen Evolution zu rekonstruieren. Der Boden ihrer Forschungen hat sich dabei immer wieder als genauso schwankend erwiesen wie der afrikanische Graben selbst.

Doch auch hier gab es Lichtungen, Lichtblicke. Vor allem dann, wenn die Forscher dem folgten, was der reinen Lehre nach eindeutig dem genetisch gesteuerten Verhaltensprogramm unserer tierischen Vorfahren, nicht aber dem vernunftbegabten Handeln des Homo sapiens zuzuordnen ist: ihrem Instinkt.

So lie? sich der genialische Dickschadel Louis Leakey, der als Kind britischer Missionare in Kenia aufgewachsen war und dann in Cambridge Anthropologie studiert hatte, auch durch die geballte Missachtung der schadelforschenden Zunft nicht davon abbringen, die Anfange der Menschheitsgeschichte auf einem zerklufteten Flecken Erde im Norden Tansanias zu suchen. Seit Anfang der 1930er-Jahre bargen Louis und Mary Leakey an den Steilhangen der Olduvai-Schlucht westlich des Ngorongoro-Kraters Fossil um Fossil.

Nicht immer waren die Funde das, fur das die Leakeys sie hielten, aber stets erwiesen sie sich als signifikante Elementarteilchen im gro?en Puzzle der Evolution. Und, in der Summe, als unwiderlegbares Votum fur Afrika als Wiege der Menschheit, als Kontinent des Ursprungs. Das asiatische Modell, das manche Forscher uber Jahrzehnte favorisiert hatten, war damit passe.

Das offentliche Interesse an solch muhsamer anthropologischer Detektivarbeit hielt sich freilich sehr in Grenzen. Wahrend das Katastrophenszenario, das zur Ausloschung der Dinosaurier fuhrte, kunstlerische Fantasien jeglicher Spielart beflugelt und nicht nur in den Kinos, sondern selbst in den Museen zu Besucherrekorden gefuhrt hat, lie?en die fruhen Spuren der Menschheitsgeschichte das Publikum lange Zeit merkwurdig kalt.

Jenseits verstandlicher Begeisterung fur das unabweisbar Spektakulare dieses Untergangs der Giganten, die uber Jahrmillionen die Erde beherrscht hatten, mag ein feines Gefuhl der Trauer und der Anteilnahme dabei mitgespielt haben. Trauer daruber, wie verganglich auch das Gro?e und scheinbar Unzerstorbare ist, vermischt mit der Ahnung, dass auch dem Homo sapiens eine Entwicklung bevorsteht, die auf Abschied und Endlichkeit weist.

Vielleicht waren die eigenen Knochen aber auch einfach nur zu mickrig und zu uninteressant.

Auf jeden Fall hat eine einzige Filmszene aus dem Jahr 1968 das alles geandert.

Sie stammt aus Stanley Kubricks Meisterwerk »2001 - Odyssee im Weltraum«: Der Anfuhrer einer Affenhorde - im Drehbuch hei?t er Moonwatcher, im Film bleibt er unbenannt - schleudert einen gro?en ausgebleichten Knochen in die Luft, den er soeben als Waffe benutzt hat. Die Kamera verfolgt seinen Flug bis zum Umkehrpunkt und daruber hinaus. Dann verwandelt sich das primitive Werkzeug in einen technologisch fortgeschrittenen Erdsatelliten.

Die grandiose Ur- und Urzeitszene wurde zu einer der meistzitier-ten Bildmetaphern, einem der beruhmtesten Match Cuts der Filmgeschichte. Und sie sorgte fur ein neu erwachendes Interesse des Menschen am Menschen.

Davon profitierte vor allem Lucy - verdienterweise, denn sie war und blieb das am besten erhaltene Skelett einer Vormenschenart, das bislang gefunden wurde. Ein amerikanisches Forscherteam um Donald C. Johanson entdeckte die Knochenreste 1974 in der Nahe des Awash-Flusses in Athiopien und konnte sein Gluck kaum fassen: Sie konnten einem einzigen Individuum zugeordnet werden, das mit 23 Prozent Skelettsubstanz eine ungewohnlich breite Untersuchungsbasis bot.

Der Sensationsfund wurde unter dem Kurzel »A. L. 288« registriert und entpuppte sich als Australopithecus afarensis. Besser und weltweit bekannt aber wurde er als Lucy - eine Reverenz vor dem Beatles-Song »Lucy in the Sky with Diamonds«, den die nimmermuden Anthropologen in den Tagen vor und nach dem Gluckstreffer haufig im Radio gehort hatten.

Die sogenannten Australopithecinen (aus lat. australis = sudlich und griech. pithekos = Affe), die sich mit der schonen deutschen Ubersetzung »Sudaffen« schmucken durfen, gehoren zu den fruhesten bekannten Vorfahren des Menschen. Vor vier Millionen Jahren hatten sich in den Landschaften Ostafrikas viele unterschiedliche Arten davon herausgebildet, die eines gemeinsam hatten: Sie gingen aufrecht, auf zwei Beinen, wie die Wanderer in der Vulkanasche von Laetoli oder wie Lucy aus der Region Afar in Athiopien.

Aber hinter der Namensgebung fur die mindestens 3,2 Millionen Jahre alte Vormenschendame steckt mehr als eine Laune. Dahinter verbirgt sich der Wunschtraum, den schon die Leakeys und vor und nach ihnen viele andere Anthropologen und Archaologen traumten: Aus den verstreuten Knochen, den Fu?spuren oder Artefakten moge ein Mensch, ein Schicksal, ein Leben hervorblicken.

Dieser Wunsch blieb letztlich unerfullt. Es gab jedoch, wenn Sie so wollen, eine Art »Ersatzmann«, dem die Sympathien der zustandigen Wissenschaften geradezu in den Scho? fielen und der von einer fursorglichen Offentlichkeit gleichsam adoptiert wurde. Allerdings trat er erst viel spater in Erscheinung: gut drei Millionen Jahre spater, wenn man seine Lebenszeit, und gut anderthalb Jahrzehnte spater, wenn man das Entdeckungsdatum betrachtet. Machen wir also einen Exkurs, einen Zeitsprung, und schauen ihn uns an.

Sie ahnen es - es ist der Otzi. Erst jene Gletschermumie aus dem Neolithikum, der spaten Jungsteinzeit, die Urlauber am 19. September 1991 in Sudtirol im Bereich der Similaungruppe der Otztaler Alpen in 3210 Metern Hohe fanden, bot einen Ausgleich fur so manche Enttauschung der prahistorischen Knochensammler. Indem sie - sehr spat, sozusagen in der Nachspielzeit - ihrer Hoffnung entsprach, die Evolution moge ein Gesicht, wenigstens einer unserer fruhen Vorfahren moge eine konkrete Biografie haben.

Verschlei?erscheinungen am Gebiss, an den Gelenken, an der Wirbelsaule, gebrochene und wieder verheilte Rippen, ausgepragte Wachstumsstorungen, mehrere bedrohliche Erkrankungen, die dem Tod vorausgingen, darunter moglicherweise ein Magengeschwur, Brot und Fleisch als letzte Mahlzeit - durchgecheckt wie ein verungluckter Bergsteiger des 20. Jahrhunderts, wurde der »Similaun-mann« einer von uns.

Und die Steinzeit, die spate Jungsteinzeit, die schon zur Kupferzeit geworden war, verlor ein Stuck ihrer kalten, unnahbaren Anonymitat.

Den Radiokarbondatierungen folgend, kam der Otzi um 3300 v. Chr. bei der Uberquerung der Alpen ums Leben. Vermutlich hatte er braune (nicht, wie bisher angenommen, blaue) Augen, war 1,60 Meter gro? oder vielmehr klein, funfzig Kilogramm schwer und wurde nach heutigen Ma?staben wahrscheinlich Schuhgro?e 35

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