seine Nase, und er spurte, wie etwas brach. Eine Faust prallte gegen seinen Mund, und er spurte, wie das Blut floss. Er stand hilflos da, erwartete den nachsten Schlag. Aber plotzlich horten die Schlage auf. Es war nichts mehr zu vernehmen au?er seinem gequalten, rochelnden Atem und den lusternen Lauten, die von der Leinwand kamen.

Clifton zog ein Taschentuch heraus, um das Blut zu stillen. Er stolperte aus dem Kinosaal, bedeckte Nase und Mund mit seinem Taschentuch und machte sich auf den Weg zu Jills Kabine. Als er am Speisesaal vorbeikam, offneten sich kurz die Schwingturen zur Kuche, und er ging hinein, an den geschaftigen Kochen und Stewards und Kellnern vorbei. Er fand eine Eismaschine, schaufelte Eisstucke in ein Tuch und hielt es sich vor Nase und Mund. Als er weitergehen wollte, sah er vor sich einen riesigen Hochzeitskuchen, gekront von kleinen Zuckerfiguren einer Braut und eines Brautigams. Clifton griff zu und drehte der Braut den Kopf ab und zerquetschte ihn zwischen den Fingern.

Dann ging er zu Jill.

Das Schiff war in Fahrt. Jill konnte die Bewegung des 55 000-Ton-nen-Liners spuren, als er vom Pier ablegte. Sie fragte sich, was David aufgehalten haben konnte.

Als sie beinahe ausgepackt hatte, wurde an die Kabinentur geklopft. Sie rief: »David!« und offnete die Tur.

Clifton Lawrence stand vor ihr. Sein Gesicht war zerschlagen und blutig. Jill lie? die Arme sinken und starrte ihn an. »Was tun Sie denn hier? Was – was ist Ihnen passiert?«

»Ich wollte Ihnen nur guten Tag sagen, Jill.«

Sie konnte ihn kaum verstehen.

»Und Ihnen etwas von David ausrichten.«

Jill sah in verstandnislos an. »Von David?«

Clifton trat ein.

Er machte Jill nervos. »Wo ist David?«

Clifton wandte sich an sie und sagte: »Erinnern Sie sich, wie die Filme in den alten Tagen waren? Da waren die guten Jungs mit den wei?en Huten und die bosen Jungs mit den schwarzen Huten, und am Ende wusste man immer, dass die bosen Jungs ihre gerechte Strafe bekommen wurden. Ich bin mit diesen Filmen aufgewachsen, Jill. Ich bin in dem Glauben aufgewachsen, dass das Leben wirklich so ist, dass die Jungs mit den wei?en Huten immer gewinnen.«

»Ich wei? nicht, wovon Sie reden.«

»Es ist beruhigend zu wissen, dass es im Leben manchmal wie in diesen alten Filmen zugeht.« Er lachelte sie mit bose zugerichteten, blutenden Lippen an und sagte: »David ist fort. Fur immer.«

Sie starrte ihn unglaubig an.

In diesem Augenblick spurten sie beide, wie die Bewegung des Schiffes zum Halten kam. Clifton ging auf das Sonnendeck hinaus und blickte uber die Schiffsreling. »Kommen Sie her.«

Jill zogerte einen Augenblick und folgte ihm dann, von einer namenlosen, wachsenden Angst ergriffen. Sie blickte uber die Reling hinunter. Tief unten konnte sie David auf das Lotsenboot umsteigen sehen, das gleich darauf von der Bretagne ablegte. Sie umklammerte die Reling. »Warum?« fragte sie unglaubig. »Was ist passiert?«

Clifton Lawrence drehte sich zu ihr um und sagte: »Ich habe ihm Ihren Film gezeigt.«

Und sie wusste sofort, was er meinte, und stohnte: »O mein Gott. Nein! Bitte nicht! Sie haben mich umgebracht!«

»Dann sind wir quitt.«

»Raus!« schrie sie. »Verschwinden Sie!« Sie warf sich auf ihn, und ihre Nagel krallten sich in seine Wangen und rissen tiefe Wunden hinein. Clifton holte aus und schlug ihr heftig ins Gesicht. Sie fiel auf die Knie und umklammerte ihren Kopf im Schmerz.

Clifton stand da und blickte sie lange an. So wollte er sich an sie erinnern. »Wiedersehen, Josephine Czinski«, sagte er.

Clifton verlie? Jills Kabine und ging zum Bootsdeck hinauf, wobei er die untere Halfte seines Gesichts mit dem Taschentuch bedeckt hielt. Er ging langsam, musterte die Gesichter der Passagiere, hielt Ausschau nach einem frischen Gesicht, nach einem ungewohnlichen Typ. Man wusste nie, wann man vielleicht uber ein neues Talent stolpern wurde. Er war bereit, seine Arbeit wiederaufzunehmen. Vielleicht hatte er Gluck und entdeckte wieder einen Toby Temple.

Kurz nachdem Clifton gegangen war, stand Claude Dessard vor Jills Kabine und klopfte an die Tur. Keine Antwort, aber der Oberzahlmeister konnte Gerausche von innen horen. Er wartete einen Augenblick, hob dann die Stimme und sagte: »Madame Temple, hier ist Claude Dessard, der Oberzahlmeister. Kann ich Ihnen irgendwie behilflich sein?«

Keine Antwort. Jetzt schlug Dessards inneres Warnsystem an. Sein Instinkt sagte ihm, dass etwas Entsetzliches bevorstand, und er hatte eine Vorahnung, dass es mit dieser Frau zusammenhing. Eine Folge wilder, abscheulicher Gedanken tanzte durch sein Gehirn. Sie war ermordet oder gekidnappt worden oder -. Er drehte am Turgriff. Die Tur war unverschlossen. Langsam stie? Dessard sie auf. Jill Temple stand am anderen Ende der Kabine und blickte, den Rucken ihm zugekehrt, aus dem Bullauge. Dessard wollte etwas sagen, aber ihre wie gefroren wirkende, starre Haltung lie? ihn schweigen. Er stand einen Augenblick unbeholfen da, fragte sich, ob er sich still zuruckziehen sollte, als die Kabine plotzlich von einem schauerlichen Klageschrei erfullt wurde, der von einem schmerzgepeinigten Tier herzuruhren schien. Hilflos angesichts einer solchen tiefen, geheimen Qual zog Dessard sich zuruck und schloss behutsam die Tur hinter sich.

Einen Augenblick blieb Dessard vor der Kabine stehen und lauschte auf die unartikulierten Schreie. Dann drehte er sich tief beruhrt um und ging zum Kinosaal auf dem Hauptdeck.

Beim Essen an jenem Abend gab es zwei leere Platze am Kapitanstisch. Zwischen zwei Gangen winkte der Kapitan zu Dessard hinuber, der als Gastgeber einer Gruppe von weniger prominenten Passagieren zwei Tische entfernt fungierte. Dessard entschuldigte sich und eilte zum Kapitanstisch hinuber.

»Ah, Dessard«, sagte der Kapitan freundlich. Er senkte die Stimme, und sein Ton anderte sich. »Was ist mit Mrs. Temple und Mr. Kenyon passiert?«

Dessard blickte sich nach den anderen Gasten um und flusterte: »Wie Sie wissen, hat Mr. Kenyon mit dem Lotsen am Ambrose-Feuerschiff das Schiff verlassen. Mrs. Temple ist in ihrer Kabine.«

Der Kapitan fluchte in gedampftem Ton. Er war ein Mensch, der es nicht liebte, wenn sein geordneter Tagesablauf gestort wurde. »Merde! Alle Vorbereitungen fur die Heirat sind getroffen worden«, sagte er.

»Ich wei?, Kapitan.« Dessard zuckte die Schultern und hob die Augen gen Himmel. »Amerikaner«, sagte er.

Jill sa? allein in der verdunkelten Kabine in einem Sessel, die Knie zur Brust heraufgezogen, und starrte ins Leere. Sie trauerte tief, aber nicht um David Kenyon oder Toby Temple oder um sich selbst. Sie trauerte um ein kleines Madchen namens Josephine Czinski. Jill hatte so viel fur dieses kleine Madchen tun wollen, und jetzt waren alle die wunderbaren, zauberhaften Traume, die sie fur sie gehegt hatte, zerschlagen.

Jill sa? da, mit leerem Blick, von einer Niederlage getroffen, die jenseits von allem Vorstellbaren war. Noch vor wenigen Stunden hatte ihr die Welt gehort, sie hatte alles in Handen gehalten, was sie sich jemals wunschte, und jetzt hatte sie nichts. Langsam wurde ihr bewusst, dass ihre Kopfschmerzen wieder eingesetzt hatten. Sie hatte sie vorher des anderen Schmerzes wegen nicht bemerkt, des qualenden Schmerzes wegen, der tief in ihrem Inneren wuhlte. Aber jetzt fuhlte sie, wie das Band um ihre Stirn sich enger spannte. Sie zog die Knie noch dichter zur Brust empor und versuchte, alles zu vergessen. Sie war so mude, so schrecklich mude. Alles, was sie wollte, war, immer so zu sitzen und nicht denken zu mussen. Dann wurde der Schmerz vielleicht aufhoren, wenigstens eine kleine Weile.

Jill schleppte sich zum Bett hinuber, streckte sich darauf aus und schloss die Augen.

Dann fuhlte sie es. Eine Welle kalter, stinkender Luft kam auf sie zu, umhullte sie, liebkoste sie. Und sie horte seine Stimme, die ihren Namen rief. Ja, dachte sie, ja. Langsam, fast wie in Trance, stand Jill auf und ging aus ihrer Kabine, folgte der lockenden Stimme in ihrem Kopf.

Es war zwei Uhr morgens, und die Decks lagen verlassen, als Jill aus ihrer Kabine trat. Sie starrte auf das Meer hinunter, beobachtete das sanfte Klatschen der Wellen gegen den Rumpf, wahrend das Schiff durchs Wasser pflugte, und lauschte auf die Stimme. Jills Kopf- schmerzen waren jetzt schlimmer, ein qualender Schraubstock. Aber die Stimme trostete sie, sie brauche sich nicht zu gramen, und versicherte ihr, dass alles gut werden wurde.

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