»Die Bretagne lauft morgen mittag aus. Ich muss noch einiges hier abwickeln. Ich treffe dich an Bord des Schiffes. Ich habe die HochzeitsSuite reservieren lassen. Glucklich, Liebling?«

»Ich bin noch nie glucklicher gewesen«, versicherte Jill. Und es war wahr. Alles, was vorher geschehen war, all der Schmerz und die Pein hatten sich gelohnt. Jetzt schien es fern und verschwommen, wie ein halbvergessener Traum.

»Ein Wagen wird dich morgen fruh abholen. Der Fahrer wird dir deine Schiffskarte bringen.«

»Ich werde bereit sein«, sagte Jill.

Morgen.

Das Foto von Jill und David Kenyon, das bei Tobys Beerdigung aufgenommen und an eine Zeitungskette verkauft worden war, hatte der Ausloser gewesen sein konnen. Auch eine unachtsame Bemerkung von einem der Angestellten des Hotels, in dem Jill wohnte, oder eines Mannschaftsmitglieds der Bretagne. Auf keinen Fall ware es moglich gewesen, die Heiratsplane einer Personlichkeit, die so beruhmt war wie Jill Temple, geheimzuhalten. Den ersten Hinweis auf ihre bevorstehende Heirat brachte eine Meldung von Associated Press, die sowohl von den Zeitungen in den Vereinigten Staaten als auch in ganz Europa auf der ersten Seite gro? herausgestellt wurde.

Auch im Hollywood Reporter und in der Daily Variety wurde daruber berichtet.

Die Limousine fuhr Punkt zehn vor dem Hotel vor. Ein Pfortner und drei Pagen luden Jills Gepack in den Wagen. Der Morgenverkehr war ma?ig, und die Fahrt zum Pier 90 nahm weniger als eine halbe Stunde in Anspruch.

Ein ranghoher Schiffsoffizier empfing Jill am Fallreep. »Es ist uns eine Ehre, Sie an Bord zu haben, Mrs. Temple«, sagte er. »Alles ist fur Sie bereit. Wollen Sie mir bitte folgen?«

Er begleitete Jill aufs Promenadendeck und fuhrte sie in eine gro?e, luftige Suite mit einem eigenen Sonnendeck. Die Kabinen waren mit frischen Blumen reich geschmuckt.

»Der Kapitan bat mich, Ihnen seine Empfehlung zu ubermitteln. Er wird Sie heute abend beim Dinner personlich begru?en. Mich hat er beauftragt, Ihnen zu sagen, dass es ihm eine Ehre ist, Ihre Eheschlie?ung vorzunehmen.«

»Ich danke Ihnen«, sagte Jill. »Wissen Sie, ob Mr. Kenyon schon an Bord ist?«

»Wir haben soeben einen Telefonanruf bekommen. Er ist vom Flughafen unterwegs. Sein Gepack ist schon hier. Wenn Sie irgend etwas brauchen, lassen Sie es mich bitte wissen.«

»Vielen Dank«, erwiderte Jill. »Im Augenblick brauche ich nichts.« Und das stimmte. Es gab nichts, was sie nicht schon hatte. Sie war die glucklichste Frau der Welt.

Es wurde an die Kabinentur geklopft, ein Steward trat ein und brachte noch mehr Blumen. Jill sah sich die Karte an. Sie waren vom Prasidenten der Vereinigten Staaten. Erinnerungen. Sie verbannte sie aus ihren Gedanken und begann auszupacken.

Er stand an der Reling auf dem Hauptdeck und musterte die Passagiere, die an Bord kamen. Jeder war in festlicher Stimmung, bereitete sich auf einen Urlaub vor oder traf liebe Bekannte an Bord. Einige lachelten ihm zu, aber der Mann schenkte ihnen keine Aufmerksamkeit. Er beobachtete die Laufplanke.

Um elf Uhr vierzig vormittags, zwanzig Minuten vor der Abfahrt, raste

ein von einem Chauffeur gelenkter Silver Shadow den Pier 90 hinauf und hielt. David Kenyon sprang aus dem Wagen, sah auf seine Uhr und sagte zum Chauffeur: »Perfektes Timing, Otto.«

»Danke, Sir. Und darf ich Ihnen und Mrs. Kenyon eine gluckliche Hochzeitsreise wunschen?«

»Danke.« David Kenyon eilte auf die Laufplanke zu, wo er seine Schiffskarte vorwies. Er wurde von dem Offizier, der sich um Jill gekummert hatte, an Bord geleitet.

»Mrs. Temple ist in Ihrer Kabine, Mr. Kenyon.«

»Ich danke Ihnen.«

David konnte sie sich in der Hochzeits-Suite vorstellen, wo sie auf ihn wartete, und sein Herzschlag beschleunigte sich. Als David weitergehen wollte, rief eine Stimme: »Mr. Kenyon…«

David drehte sich um. Der Mann, cfer an der Reling gestanden hatte, kam auf ihn zu, ein Lacheln auf dem Gesicht. David hatte ihn noch nie gesehen. David hatte das instinktive Misstrauen des Millionars gegenuber freundlichen Fremden. Beinahe ausnahmslos wollten sie etwas.

Der Mann streckte die Hand aus, und David ergriff sie vorsichtig. »Kennen wir uns?« fragte David.

»Ich bin ein alter Freund von Jill«, sagte der Mann, und David wurde freundlicher. »Mein Name ist Lawrence. Clifton Lawrence.«

»Sehr erfreut, Mr. Lawrence.« Er war voll Ungeduld.

»Jill bat mich, heraufzugehen und Sie zu empfangen«, sagte Clifton. »Sie hat eine kleine Uberraschung fur Sie.«

David sah ihn an. »Was fur eine Uberraschung?«

»Kommen Sie mit, ich werde sie Ihnen zeigen.«

David zogerte einen Augenblick. »Na schon. Wird es lange dauern?«

Clifton Lawrence blickte zu ihm auf und lachelte: »Ich glaube nicht.«

Sie nahmen einen Aufzug zum C-Deck, drangten sich durch die Passagiere und Besucher hindurch zu einer breiten Doppeltur. Clifton offnete sie und fuhrte David hinein. David fand sich in einem gro?en, leeren Kinosaal. Er blickte sich verwirrt um. »Hier drin?«

»Hier drin«, bestatigte Clifton lachelnd.

Er drehte sich um, sah zum Vorfuhrer in der Kabine hinauf und nickte. Der Vorfuhrer war geldgierig. Clifton hatte ihm zweihundert Dollar geben mussen, bevor er einwilligte mitzumachen. »Wenn das herauskommt, verliere ich meinen Job bei der Reederei«, hatte er gemurrt.

»Niemand wird es je erfahren«, hatte Clifton ihm versichert. »Es handelt sich um einen Scherz. Sie mussen nur die Turen abschlie?en, wenn ich mit meinem Freund hereinkomme, und den Film ablaufen lassen. Wir werden in zehn Minuten wieder drau?en sein.«

Schlie?lich hatte der Vorfuhrer zugestimmt.

Jetzt blickte David Clifton verwirrt an. »Ein Film?« fragte David.

»Bitte setzen Sie sich, Mr. Kenyon.«

David nahm einen Platz am Mittelgang ein und streckte seine langen Beine aus. Clifton setzte sich auf die andere Seite. Er beobachtete Davids Gesicht, als die Lichter ausgingen und die hellen Bilder auf der gro?en Leinwand zu flimmern begannen.

Er hatte das Gefuhl, als ob ihm jemand mit einem gro?en Hammer in die Magengrube schlug. David starrte zu den obszonen Bildern auf der Leinwand empor, und sein Gehirn weigerte sich aufzunehmen, was seine Augen sahen. Jill, eine junge Jill, wie sie ausgesehen hatte, als er sich in sie verliebt hatte, lag nackt auf einem Bett. Er konnte jeden Gesichtszug klar erkennen. Er beobachtete, stumm vor Unglauben, wie auf der Leinwand ein Mann mit gespreizten Beinen sich auf das Madchen setzte und ihr seinen Penis in den Mund steckte. Sie begann liebevoll, zartlich daran zu lutschen, dann kam ein anderes Madchen dazu, spreizte Jills Beine und steckte ihre Zunge tief in sie hinein. David glaubte, sich ubergeben zu mussen. Einen wutenden, hoffnungsvollen Augenblick glaubte er, dass dies Trickaufnahmen seien, eine Falschung, aber die Kamera erfasste jede Bewegung, die Jill machte. Dann tauchte der Mexikaner auf und bestieg Jill, und ein roter Vorhang ging vor Davids Augen nieder. Er war wieder funfzehn Jahre alt, und es war seine Schwester Beth, die er da oben beobachtete, seine Schwester auf dem nackten mexikanischen Gartner in ihrem Bett, keuchend: O Gott, ich liebe dich, Juan. Fick mich weiter. Hor nicht auf! Und David stand in der Tur, unglaubig, und sah seine geliebte Schwester. Er war von einer blinden, unbeherrschbaren Wut ergriffen worden und hatte einen Briefoffner vom Schreibtisch gepackt, war zum Bett gerannt, hatte seine Schwester beiseite gerissen und den Briefoffner in die Brust des Gartners gesto?en, wieder und immer wieder, bis die Wande uber und uber mit Blut bespritzt waren und Beth schrie: O Gott, nein! Hor auf, David! Ich liebe ihn. Wir werden heiraten! Uberall war Blut. Davids Mutter war ins Zimmer gesturzt und hatte David weggeschickt. Spater erfuhr er, dass seine Mutter den Bezirksstaatsanwalt, einen guten Freund der Familie Kenyon, angerufen hatte. Sie hatten eine lange Unterredung in der Bibliothek gehabt, und die Leiche des Mexikaners war ins Gefangnis gebracht worden. Am folgenden Morgen wurde gemeldet, dass er in seiner Zelle Selbstmord begangen habe. Drei Wochen spater war Beth in eine Irrenanstalt gebracht worden.

Das alles flutete jetzt in David zuruck, die unertragliche Schuld, die er auf sich geladen hatte, und er wurde rasend. Er zog den ihm gegenuber sitzenden Mann hoch und schlug ihm mit der Faust ins Gesicht, schlug auf ihn ein, schrie sinnlose, dumme Worte, griff ihn an wegen Beth und Jill und wegen seiner eigenen Schande. Clifton Lawrence versuchte, sich zu verteidigen, aber er konnte die Schlage nicht abwehren. Eine Faust schmetterte auf

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