»Ich beugte mich vor, um die Gurte aufzuschnallen, die Toby im Rollstuhl festhielten, und ich bekam wieder einen Schwacheanfall und sank zu Boden. Ich – ich muss unglucklicherweise die Bremse beruhrt haben. Der Stuhl setzte sich in Bewegung. Ich versuchte, ihn zu packen, aber er – er rollte in das Becken mit – mit Toby, der darin angeschnallt war.« Ihre Stimme klang erstickt. »Ich sprang hinterher und kampfte darum, ihn freizubekommen, aber die Gurte waren zu fest. Ich versuchte, den Stuhl aus dem Wasser zu ziehen, aber er war – er war zu schwer. Er… war… einfach… zu… schwer.« Sie schloss einen Moment die Augen, um ihren tiefen Schmerz zu verbergen. Dann, fast flusternd: »Ich versuchte, ihm zu helfen, und ich totete ihn.«
Die Jury brauchte nicht einmal drei Minuten, um zu einem Urteilsspruch zu gelangen: Toby Temple war durch einen Unfall ums Leben gekommen.
Clifton Lawrence sa? hinten im Gerichtssaal und vernahm das Urteil.
Er war uberzeugt, dass Jill Toby umgebracht hatte. Aber es gab keine Moglichkeit, das zu beweisen. Sie war davongekommen. Der Fall war erledigt.
36.
Zur Beerdigung stromte eine Flut von Menschen herbei. Sie fand in Fo-rest Lawn an einem sonnigen Herbstmorgen statt, dem Tag, an dem Toby Temples neue Fernsehserie zum erstenmal hatte ausgestrahlt werden sollen. Tausende von Menschen walzten sich durch das hugelige Gelande und versuchten, einen Blick auf all die Beruhmtheiten zu erhaschen, die hier waren, um Toby Temple die letzte Ehre zu erweisen. Kameramanner des Fernsehens nahmen die Begrabnisfeierlichkeiten aus gro?erer Distanz auf und ruckten zu Gro?aufnahmen nahe an die Stars und Produzenten und Regisseure am Grab heran. Der Prasident der Vereinigten Staaten hatte einen Abgesandten geschickt. Man sah Gouverneure, Filmbosse, Prasidenten gro?er Unternehmen und Reprasentanten jedes Berufsverbandes, dem Toby angehort hatte: SAG und AFTRA und ASCAP und AGVA. Der Prasident der Ortsgruppe Beverly Hills der Veteranen Auswartiger Kriege war in voller Uniform erschienen. Ebenso Abordnungen der ortlichen Polizei und Feuerwehr.
Und auch das Fu?volk war da. Die Kulissenschieber und Buhnenarbeiter und Statisten und Stuntmen, die mit Toby Temple zusammen gearbeitet hatten. Von den Garderobiers uber die Beleuchter bis zu den Regieassistenten. Und viele andere; und alle waren gekommen, um einem gro?en Amerikaner zu huldigen. O'Hanlon und Rainger waren da und dachten an das magere Jungelchen, das in ihr Buro bei Twentieth Century- Fox marschiert war. Wie ich hore, werdet ihr Burschen einige neue Witze fur mich schreiben…Er rudert mit den Handen, als wurde er Holz hacken. Wir konnten eine Holzhacker-Nummer fur ihn schreiben… Er druckt zu sehr auf die Tube… Jesus, mit dem Text – was bleibt ihm anderes ubrig?… Ein Komiker offnet komische Turen. Ein Komodiant offnet Turen komisch. Und Toby Temple hatte schwer gearbeitet und gelernt und war an die Spitze gelangt. Er war ein Verruckter, dachte Rainger, aber er war unser Verruckter.
Clifton Lawrence war da. Der kleine Agent war beim Friseur gewesen und hatte seinen Anzug bugeln lassen, aber seine Augen verrieten ihn. Es waren die Augen eines Versagers. Auch Clifton war in Erinnerungen versunken. Er erinnerte sich an jenen ersten absurden Anruf. Sam Gold-wyn mochte, dass Sie sich einen jungen Komiker ansehen… Und Tobys Auftritt in der Schule. Man braucht nicht die ganze Dose Kaviar zu essen, um zu wissen, dass er gut ist, stimmt's?… Ich habe beschlossen, als Agent fur Sie tatig zu werden, Toby… Wenn Sie die Biertrinker in die
Tasche stecken, wird die Champagnerbande ein leichter Gegner fur Sie sein… Ich kann Sie zum gro?ten Star im Showgeschaft machen. Alle hatten sich um Toby Temple gerissen: die Studios, die Fernsehgesellschaften, die Nachtklubs. Sie haben so viele Klienten, dass ich manchmal den Eindruck habe, Sie kummern sich nicht genug um mich…Es ist wie beim Gruppensex, Cliff. Irgend jemand bleibt immer mit einem Stander zuruck… Ich brauche Ihren Rat, Cliff…Es geht um das Madchen…
Clifton Lawrence hatte eine Menge Erinnerungen.
Neben Clifton stand Alice Tanner.
Sie war in die Erinnerung an Tobys erste Vorsprache in ihrem Buro versunken. Irgendwo hinter all diesen Filmstars steckt ein junger Mann mit einer gro?en Begabung… Nachdem ich diese Profis gestern abend gesehen habe, glaube ich nicht, dass ich das Zeug dazu habe. Und ihre Liebe zu ihm. O Toby, ich liebe dich so sehr… Ich liebe dich auch, Alice… Dann war er gegangen. Aber sie war dankbar dafur, dass er einmal ihr gehort hatte.
Auch AI Caruso war gekommen, um Toby die letzte Ehre zu erweisen. Er war gebeugt und grauhaarig, und seine braunen Nikolausaugen standen voll Tranen. Er erinnerte sich daran, wie wunderbar Toby zu Millie gewesen war.
Sam Winters war da. Er dachte an das Vergnugen, das Toby Temple Millionen von Menschen geschenkt hatte, und er fragte sich, ob es den Schmerz aufwog, den Toby einigen anderen zugefugt hatte.
Jemand stie? Sam leise an, und als er sich umdrehte, sah er ein hubsches, etwa achtzehnjahriges schwarzhaariges Madchen. »Sie kennen mich nicht, Mr. Winters«, sagte sie lachelnd, »aber ich habe gehort, dass Sie ein Madchen fur den neuen William-Forbes-Film suchen. Ich bin aus Ohio, und…«
David Kenyon war da. Jill hatte ihn gebeten, nicht zu kommen, aber David hatte darauf bestanden. Er wollte ihr nahe sein. Jill vermutete, dass es jetzt keinen Schaden mehr anrichten konnte. Sie hatte ihre Vorstellung beendet.
Das Stuck war vorbei und ihre Rolle zu Ende. Jill war so glucklich und so mude. Es war, als ob das Fegefeuer, durch das sie gegangen war, den harten Kern der Verbitterung in ihr ausgebrannt, alle Schmerzen und Enttauschungen und allen Hass geloscht hatte. Jill Castle war beim Brandopfer gestorben, und Josephine Czinski war aus der Asche wiedergeboren worden. Sie hatte nun wieder Frieden, war voller Liebe fur jeden und war von einer Zufriedenheit erfullt, wie sie sie seit ihrer Jugend nicht mehr empfunden hatte. Sie war noch nie so glucklich gewesen. Sie hatte es am liebsten der ganzen Welt mitgeteilt.
Die Begrabnisfeierlichkeiten gingen zu Ende. Jemand reichte Jill den Arm, und sie lie? sich zur Limousine fuhren. Als sie zum Wagen kam, stand David dort und blickte sie bewundernd an. Jill lachelte ihm zu.
David nahm ihre Hande in die seinen, und sie wechselten ein paar Worte miteinander. Ein Pressefotograf machte einen Schnappschuss von ihnen.
Jill und David beschlossen, funf Monate mit der Heirat zu warten, damit fur die Offentlichkeit die Schicklichkeit gewahrt wurde. David verbrachte einen gro?en Teil jener Zeit au?er Landes, aber sie telefonierten jeden Tag miteinander. Vier Monate nach Tobys Beerdigung rief David Jill an und sagte: »Ich hatte einen Gedankenblitz. Warten wir nicht langer. Ich muss nachste Woche zu einer Konferenz nach Europa. Fahren wir mit der Bretagne nach Frankreich. Der Kapitan kann uns trauen. Unsere Flitterwochen verbringen wir in Paris, und von dort reisen wir so lange, wie du willst, irgendwohin. Was meinst du?« »O ja, David, ja!«
Sie umfasste das Haus noch einmal mit einem Blick und dachte an alles, was hier geschehen war. Sie erinnerte sich an ihre erste DinnerParty und an die vielen darauffolgenden Parties und an Tobys Krankheit und ihren Kampf, ihm das Leben wiederzuschenken. Und dann… hier gab es zu viele Erinnerungen. Sie war froh, von hier fortzukommen.
37.
Davids Privatjet flog Jill nach New York. Dort wartete eine Limousine auf sie, um sie ins Regency Hotel an der Park Avenue zu bringen. Der Direktor personlich geleitete Jill in ein riesiges Penthouse-Apartment.
»Das Hotel steht in jeder Hinsicht zu Ihren Diensten, Mrs. Temple«, sagte er. »Mr. Kenyon hat uns angewiesen, dafur zu sorgen, dass Sie alles haben, was Sie brauchen.«
Zehn Minuten, nachdem Jill im Hotel eingetroffen war, rief David von Texas aus an. »Bist du gut untergebracht?« fragte er.
»Es ist ein bisschen beengt«, sagte Jill lachend. »Hier sind funf Schlafzimmer, David. Was fange ich mit denen blo? an?«
»Wenn ich da ware, wurde ich es dir zeigen«, sagte er.
»Leere Versprechungen«, neckte sie ihn. »Wann werde ich dich sehen?«