Es wurde nie mehr einen zweiten Toby Temple geben.
Die Gerichtsverhandlung uber die Todesursache fand im Kriminalgerichtsgebaude an der Grand Avenue im Geschaftszentrum von Los Angeles in einem kleinen, beengten Gerichtssaal statt. Ein Untersuchungsrichter fuhrte den Vorsitz der Verhandlung vor der mit sechs Geschworenen besetzten Jury.
Der Saal war brechend voll. Als Jill ankam, sturzten sich Fotografen und Reporter und Fans auf sie. Sie trug ein einfaches schwarzes Kostum. Sie hatte kein Make-up aufgelegt, hatte aber nie schoner ausgesehen. In den wenigen Tagen seit Tobys Tod war Jill wieder aufgebluht. Zum erstenmal seit Monaten konnte sie tief und traumlos schlafen. Sie hatte einen unersattlichen Appetit, und ihre Kopfschmerzen waren verflogen. Der Damon war verschwunden.
Jill hatte taglich mit David telefoniert. Er wollte zur Gerichtsverhandlung kommen, aber Jill hatte darauf bestanden, dass er fortbliebe. Spater wurden sie genug Zeit fureinander haben.
»Fur den Rest unseres Lebens«, hatte David ihr gelobt.
Sechs Zeugen wurden in der Verhandlung aufgerufen. Schwester Gal-lagher, Schwester Gordon und Schwester Johnson sagten uber den allgemeinen Tagesablauf ihres Patienten und uber seinen Zustand aus. Schwester Gallagher war bei ihrer Zeugenaussage.
»Um welche Zeit ware Ihr Dienst am fraglichen Morgen beendet gewesen?« fragte der Vorsitzende.
»Um zehn.«
»Wann gingen Sie tatsachlich?«
Zogern. »Neun Uhr drei?ig.«
»War es ublich, Mrs. Gallagher, dass Sie Ihren Patienten verlie?en, ehe Ihre Ablosung kam?«
»Nein, Sir. Es war das erstemal.«
»Wurden Sie erklaren, wie Sie dazu kamen, an diesem Tag fruher zu gehen?«
»Es war Mrs. Temples Vorschlag. Sie wollte mit ihrem Mann allein sein.«
»Danke. Das ist alles.«
Schwester Gallagher verlie? den Zeugenstand. Naturlich war Toby Temples Tod ein Unfall, dachte sie. Es ist ein Jammer, dass man eine so gro?artige Frau wie Jill Temple einer derartig schweren Prufung unterziehen muss. Schwester Gallagher blickte zu Jill hinuber und empfand einen leisen Stich von Schuld. Sie erinnerte sich an die Nacht, in der sie in Mrs. Temples Schlafzimmer gegangen war und sie im Sessel eingeschlafen vorgefunden hatte. Schwester Gallagher hatte leise das Licht ausgedreht und die Tur geschlossen, damit Mrs. Temple nicht gestort wurde. In der dunklen Diele hatte Schwester Gallagher eine Vase auf einem Stander angesto?en, die hinuntergefallen und zerbrochen war. Sie hatte es Mrs. Temple gestehen wollen, aber die Vase sah sehr kostbar aus, und als Mrs. Temple es nicht erwahnt hatte, beschloss Schwester Gallagher, nichts zu sagen.
Der Heilgymnastiker war im Zeugenstand.
»Sie haben gewohnlich mit Mr. Temple taglich Ubungen gemacht?«
»Ja, Sir.«
»Fanden diese Ubungen im Schwimmbecken statt?«
»Ja, Sir. Das Wasser wurde auf sechsunddrei?ig Grad angeheizt und -«
»Haben Sie Mr. Temple an dem fraglichen Tag behandelt?«
»Nein, Sir.«
»Wurden Sie uns bitte sagen, warum?« »Sie schickte mich fort.« »Mit >sie< meinen Sie Mrs. Temple?« »Genau.«
»Hat sie Ihnen irgendeinen Grund dafur angegeben?« »Sie sagte, dass Dr. Kaplan die Ubungen mit ihm nicht mehr wunschte.«
»Sie verlie?en also das Haus, ohne Mr. Temple gesehen zu haben?« »So ist es. Ja.«
Dr. Kaplan trat in den Zeugenstand.
»Mrs. Temple rief Sie nach dem Unfall an, Dr. Kaplan. Haben Sie den
Verstorbenen sofort nach Ihrer Ankunft auf dem Schauplatz untersucht?«
»Ja. Die Polizei hatte die Leiche aus dem Schwimmbecken herausgezogen. Sie war immer noch im Rollstuhl angeschnallt. Der Polizeiarzt und ich untersuchten die Leiche und stellten fest, dass es fur jeden Wiederbelebungsversuch zu spat war. Beide Lungen waren mit Wasser gefullt. Wir konnten keinerlei Lebenszeichen mehr entdecken.«
»Was haben Sie dann getan, Dr. Kaplan?«
»Ich habe mich um Mrs. Temple gekummert. Sie befand sich in einem Zustand akuter Hysterie. Ich war ihretwegen sehr beunruhigt.«
»Dr. Kaplan, war zwischen Ihnen und Mrs. Temple eine Diskussion uber die Absetzung der heilgymnastischen Ubungen vorangegangen?«
»Ja. Ich sagte ihr, dass sie meiner Meinung nach Zeitverschwendung waren.«
»Wie hat Mrs. Temple darauf reagiert?«
Dr. Kaplan blickte zu Jill hinuber und antwortete: »Sie reagierte ungewohnlich. Sie bestand darauf, dass wir es weiter versuchten.« Er zogerte. »Da ich unter Eid stehe und diese Untersuchungskommission ein Interesse an der Wahrheit haben muss, fuhle ich mich verpflichtet, noch etwas zu sagen.«
Lautlose Stille hatte sich uber den Saal gesenkt. Jill starrte ihn an. Dr. Kaplan wandte sich an die Jury.
»Ich mochte hier zu Protokoll geben, dass Mrs. Temple wahrscheinlich die gro?artigste und tapferste Frau ist, der zu begegnen ich je die Ehre hatte.« Alle Augen im Saal waren nun auf Jill gerichtet. »Als ihr Mann das erstemal einen Schlaganfall erlitt, glaubte keiner von uns, dass er auch nur die geringste Chance hatte zu genesen. Nun, sie pflegte ihn ganz allein gesund. Sie tat fur ihn, was kein Arzt, den ich kenne, hatte tun konnen. Auch wenn ich mir noch so gro?e Muhe geben wurde, ich konnte Ihnen nicht schildern, was Mrs. Temple fur ihren Mann getan hat.« Er warf einen Blick zu Jill hinuber und sagte: »Sie ist ein Vorbild fur uns alle.«
Die Zuschauer brachen in Beifall aus.
»Das ware alles, Doktor«, sagte der Vorsitzende. »Ich mochte Mrs. Temple in den Zeugenstand rufen.«
Alle beobachteten Jill, als sie sich erhob und langsam zur Vereidigung in den Zeugenstand schritt.
»Ich wei?, was fur eine Qual das fur Sie ist, Mrs. Temple, und ich will versuchen, es so schnell wie moglich zu beenden.«
»Danke.« Ihre Stimme war nicht mehr als ein Flustern.
»Als Dr. Kaplan sagte, dass die heilgymnastischen Ubungen eingestellt werden sollten, warum wollten Sie sie trotzdem fortsetzen?«
Sie blickte zu ihm auf, und er konnte den tiefen Schmerz in ihren Augen sehen. »Weil ich wollte, dass mein Mann jede Chance bekame, wieder gesund zu werden. Toby liebte das Leben, und ich wollte es ihm wiederschenken. Ich -« Ihre Stimme schwankte, doch sie fuhr fort: »Ich musste ihm allein helfen.«
»Am Todestag Ihres Mannes kam der Heilgymnastiker ins Haus, und Sie schickten ihn weg.«
»Ja.«
»Obgleich Sie vorhin sagten, dass Sie die Fortsetzung der Behandlung wunschten. Konnen Sie Ihr Vorgehen erklaren?«
»Das ist ganz einfach. Ich fuhlte, dass unsere Liebe als einziges eine Aussicht bot, Toby zu heilen. Ich hatte ihn zuvor gesund gepflegt…« Sie brach ab, unfahig weiterzusprechen. Dann fasste sie sich sichtlich muhsam und fuhr mit ruhiger Stimme fort: »Ich musste ihm beweisen, wie sehr ich ihn liebte, wie sehr ich wunschte, dass er wieder gesund wurde. «
Jeder im Gerichtssaal beugte sich vor, um auch das leiseste Wort mitzubekommen.
»Wurden Sie uns erzahlen, was am Unfallmorgen geschah?«
Fur eine volle Minute herrschte Stille, wahrend Jill ihre Krafte sammelte; dann sprach sie: »Ich ging in Tobys Zimmer. Er schien glucklich zu sein, mich zu sehen. Ich sagte ihm, dass ich ihn selber zum Schwimmbecken bringen wurde, dass ich ihn wieder gesund machen wurde. Ich zog meinen Badeanzug an, damit ich mit ihm im Wasser trainieren konnte. Als ich ihn aus dem Bett in seinen Rollstuhl heben wollte, uberkam mich – uberkam mich eine Schwache. Da hatte ich eigentlich merken mussen, dass ich korperlich nicht kraftig genug war fur das, was ich tun wollte. Aber ich konnte es nicht lassen. Nicht, wenn ich ihm helfen wollte. Ich bekam ihn in den Rollstuhl und sprach auf dem ganzen Weg zum Schwimmbecken hinunter auf ihn ein. Ich rollte ihn an den Rand…«
Sie hielt inne, und im Saal herrschte atemlose Stille. Das einzige Gerausch kam von den eifrig stenografierenden Reportern.