ihm zu. Er sah auf, um ihrem Blick zu begegnen, und seine Augen waren von echter Trauer erfullt. Er liebte sie, und er hatte sie ermordet, und wenn er noch einmal damit zu tun hatte, wurde er dasselbe wieder tun, denn am Ende war er Demiris' Mann, genauso wie sie Demiris' Frau gewesen war, und keiner von ihnen beiden kam gegen seine Macht an.
Der Gerichtsprasident fuhr fort: »... und infolge der mir vom Staat erteilten Vollmacht und in Ubereinstimmung mit den Gesetzen verkunde ich das Urteil gegen die beiden Angeklagten. Noelle Page und Lawrence Douglas werden zum Tod durch Erschie?en verurteilt ... Das Urteil wird innerhalb der nachsten neunzig Tage von heute an vollstreckt werden.«
Im Gerichtssaal brach die Holle los, aber Noelle horte und sah nichts davon. Etwas veranlasste sie, sich umzudrehen. Der freie Platz im Saal war nicht langer leer. Constantin Demiris sa? dort. Er war frisch rasiert und frisiert. Er hatte einen makellos geschnittenen Anzug aus blauer Rohseide an, trug dazu ein lichtblaues Hemd und eine seidene Krawatte. Seine olivdunklen Augen leuchteten belebt. Kein Anzeichen von dem geschlagenen, zusammenbrechenden Mann, der sie im Gefangnis besucht hatte, war mehr da, denn dieser Mann hatte niemals existiert.
Constantin Demiris war gekommen, um Noelle im Augenblick ihrer Niederlage zu beobachten, sich an ihrem Entsetzen zu weiden. Seine dunklen Augen bohrten sich in die ihren, und im Bruchteil eines Augenblicks erkannte sie die tiefe, bosartige Befriedigung darin. Aber etwas anderes lag noch in dem Blick. Bedauern vielleicht, doch es war verschwunden, ehe sie es wahrnehmen konnte, und jetzt war ohnehin alles zu spat.
Die Schachpartie war endgultig voruber.
Larry hatte die letzten Worte des Gerichtsprasidenten in entsetztem Unglauben angehort, und als ein Gerichtsdiener an ihn herantrat und ihn am Arm fasste, schuttelte er ihn ab und wandte sich wieder dem Richtertisch zu.
»Augenblick!« schrie er. »Ich habe sie nicht getotet! Man hat mich hereingelegt!«
Ein zweiter Gerichtsdiener eilte hinzu, und die beiden Manner hielten Larry fest. Einer zog ein Paar Handschellen hervor.
»Nein!« schrie Larry. »Horen Sie mich an! Ich habe sie nicht getotet!«
Er versuchte, sich von den Gerichtsdienern zu befreien, aber die Handschellen schnappten ein, und sie zogen ihn fort.
Noelle spurte einen Druck auf ihrem Arm. Eine Aufseherin wartete neben ihr, um sie aus dem Saal zu fuhren.
»Man wartet auf Sie, Mademoiselle Page.«
Es war wie der Ruf zum Auftritt im Theater. Man wartet auf Sie, Mademoiselle Page. Doch wenn dieses Mal der Vorhang gefallen war, wurde er nie wieder aufgehen. Die Erkenntnis uberfiel Noelle, dass sie zum letzten Mal in ihrem Leben vor einem Publikum stand, das letzte Mal in ihrem Leben, dass sie ohne trennende Gitter von Menschen umgeben war. Dies war ihre Abschiedsvorstellung, in diesem schmutzigen, dusteren griechischen Gerichtssaal, ihr letzter Auftritt. Nun, dachte sie trotzig, jedenfalls habe ich ein volles Haus. Zum letzten Mal sah sie sich in dem uberfullten Saal um.
Sie sah Armand Gautier, der sie in benommenem Schweigen anstarrte, dieses eine Mal aus seinem Zynismus aufgestort.
Da war Philippe Sorel, sein narbiges Gesicht bemuhte sich angestrengt um ein ermutigendes Lacheln, aber es gelang ihm nicht ganz.
Auf der anderen Seite des Saals war Israel Katz. Seine Augen waren geschlossen, und seine Lippen bewegten sich lautlos wie in einem stummen Gebet. Noelle erinnerte sich an die Nacht, in der sie ihn im Kofferraum des Generals unter der Nase des Albino-Gestapo-Offiziers aus Paris geschmuggelt hatte, und an die Angst, die sie damals ausgestanden hatte. Doch es war nichts im Vergleich zu dem Entsetzen, das sich jetzt ihrer bemachtigte.
Noelles Blick wanderte durch den Raum und blieb auf dem Gesicht von Auguste Lanchon, dem Ladenbesitzer, haften. Sie konnte sich an seinen Namen nicht erinnern, aber sie erinnerte sich an sein Schweinsgesicht und an seinen schweren, schwammigen Korper und das schabige Hotelzimmer in Vienne. Als er bemerkte, dass sie ihn ansah, blinzelte er und senkte den Blick.
Ein hoch gewachsener, attraktiver Mann mit grauem Haar, der wie ein Amerikaner aussah, stand auf und blickte zu ihr heruber, als ob er ihr etwas sagen wollte. Noelle hatte keine Ahnung, wer er war.
Die Aufseherin zog sie jetzt am Arm und sagte: »Kommen Sie, Mademoiselle Page ...«
Frederick Stavros befand sich in einem Schockzustand. Er war nicht nur Zeuge eines kaltblutigen Rankespiels geworden, er war daran beteiligt gewesen. Er konnte zum Gerichtsprasidenten gehen und ihm berichten, was vorgegangen war, was Chotas versprochen hatte. Aber wurde man ihm glauben? Wurde man seinem Wort gegen das von Napoleon Chotas glauben? Es spielte tatsachlich keine Rolle, dachte Stavros bitter. In Zukunft war er als Rechtsanwalt erledigt. Niemand wurde ihn je wieder konsultieren. Jemand nannte seinen Namen, und als er sich umdrehte, stand Chotas hinter ihm und sagte: »Wenn Sie morgen Zeit haben, kommen Sie doch mit mir Mittag essen, Frederick. Ich mochte, dass Sie meine Partner kennen lernen. Ich glaube, dass Sie eine viel versprechende Zukunft vor sich haben.«
Uber die Schulter von Chotas hinweg konnte Frederick Stavros den Gerichtsprasidenten durch die Tur zum Beratungszimmer den Saal verlassen sehen. Jetzt war der Zeitpunkt gekommen, mit ihm zu sprechen, zu erklaren, was vorgefallen war. Stavros wandte sich wieder Napoleon Chotas zu. Seine Gedanken waren noch ganz von dem Grauenvollen erfullt, das dieser Mann getan hatte, aber er horte sich sagen: »Das ist sehr freundlich von Ihnen. Um welche Zeit ware es Ihnen angenehm ... ?«
Nach griechischem Gesetz finden Hinrichtungen auf der kleinen Insel Agina, eine Stunde vom Hafen von Piraus entfernt, statt. Ein Spezialboot der Regierung transportiert die Verurteilten zu der Insel. Eine Reihe kleiner grauer Klippen fuhrt zu ihrem Hafen, und hoch oben auf einem Berg steht auf herausragenden Felsen ein Leuchtturm. Das Gefangnis von Agina liegt auf der Nordseite der Insel, von dem kleinen Hafen aus nicht zu sehen, in dem Ausflugsboote regelma?ig Scharen aufgeregter Touristen fur ein bis zwei Stunden zu Einkaufen oder Besichtigungen ausspeien, ehe die Fahrt zur nachsten Insel weitergeht. Die Besichtigung des Gefangnisses ist bei dem Rundgang nicht vorgesehen, und niemand nahert sich ihm au?er in amtlichem Auftrag.
Es war vier Uhr an einem Samstagmorgen. Noelles Hinrichtung war fur sechs Uhr angesetzt.
Man hatte Noelle ihr Lieblingskleid gebracht, ein weinrotes Dior-Modell aus Schurwolle, und dazu passende rote Wildlederschuhe. Sie trug ganz neue handgestickte Seidenwasche und ein wei?es Jabot aus venezianischen Spitzen. Constantin Demiris hatte ihr ihre standige Friseuse geschickt, um sie zu frisieren. Es war, als ob Noelle sich auf eine Gesellschaft vorbereitete.
Verstandesma?ig wusste Noelle, dass es keine Begnadigung in letzter Minute geben wurde, dass in kurzer Zeit ihr Korper brutal zerstort und ihr Blut auf den Boden stromen wurde. Und dennoch konnte sie gefuhlsma?ig die Hoffnung nicht unterdrucken, dass Constantin Demiris ein Wunder bewirken und ihr Leben schonen wurde. Es musste nicht einmal ein Wunder sein – es bedurfte nur eines Telefonanrufs, eines Wortes, eines Winks seiner goldenen Hand. Wenn er sie jetzt schonte, wurde sie es ihm lohnen. Sie wurde alles tun. Wenn sie ihn nur sehen konnte, wurde sie ihm versprechen, nie wieder einen anderen Mann anzublicken, sich ganz der Aufgabe zu widmen, ihn fur den Rest seines Lebens glucklich zu machen. Aber sie wusste, dass Betteln nichts nutzen wurde. Wenn Demiris zu ihr kame, ja. Wenn sie zu ihm gehen musste, nein. Noch lagen zwei Stunden vor ihr.
Larry Douglas befand sich in einem anderen Teil des Gefangnisses. Seit seiner Verurteilung hatte seine Post sich verzehnfacht. Briefe von Frauen aus allen Teilen der Welt trafen ein, und der Gefangnisdirektor, der sich fur einen gebildeten und welterfahrenen Mann hielt, war uber manche von ihnen schockiert.
Larry Douglas hatte wahrscheinlich seine Freude an ihnen gehabt, wenn er etwas davon gewusst hatte. Aber er befand sich in einer narkotisierten Welt des halben Zwielichts, in der ihn nichts beruhrte. In den ersten Tagen auf der Insel war er gewalttatig, schrie Tag und Nacht, er sei unschuldig und verlange einen neuen Prozess. Der Gefangnisarzt hatte schlie?lich angeordnet, ihn standig unter Beruhigungsmitteln zu halten.
Um zehn Minuten vor funf, als der Gefangnisdirektor mit vier Wachtern in Larry Douglas' Zelle kam, um ihn abzuholen, sa? er still und in sich versunken auf seiner Pritsche. Der Direktor musste ihn zweimal mit Namen ansprechen, ehe Larry begriff, dass sie ihn abholen wollten. Er erhob sich teilnahmslos und wie im Traum.
Der Direktor fuhrte ihn aus der Zelle, und sie gingen in einer langsamen Prozession auf eine bewachte Tur am Ende des Ganges zu. Als sie die Tur erreichten, offnete der Wachtposten sie, und sie traten in einen ummauerten Hof hinaus. Die Luft vor Anbruch der Dammerung war kuhl, und Larry fror, als er durch die Tur ging.