Am Himmel standen der Vollmond und leuchtende Sterne. Es erinnerte ihn an die fruhen Morgenstunden auf den Inseln im Sudpazifik, wenn die Piloten ihre warmen Quartiere verlie?en und sich zu einer letzten Befehlsausgabe vor dem Start unter den kuhlen Sternen versammelten. Er konnte das Rauschen des Meeres in der Ferne horen und versuchte sich zu erinnern, auf welcher Insel er sich befand und was sein Auftrag war. Mehrere Manner fuhrten ihn zu einem Pfosten vor einer Mauer und banden ihm die Arme auf dem Rucken zusammen.
Er empfand jetzt keinen Zorn mehr, nur eine Art trager Verwunderung daruber, wie diese Befehlsausgabe gehandhabt wurde. Eine tiefe Mudigkeit erfullte ihn, doch er wusste, dass er nicht einschlafen durfte, weil er den Einsatz zu leiten hatte. Er hob den Kopf und sah Manner in Uniform vor sich aufgereiht. Sie zielten mit Gewehren auf ihn. Alte, tief verwurzelte Instinkte in ihm gewannen die Oberhand. Sie wurden aus verschiedenen Richtungen angreifen und versuchen, ihn von seiner Staffel abzudrangen, weil sie sich vor ihm furchteten. Bei drei Uhr tief bemerkte er eine Bewegung und wusste, dass sie es auf ihn abgesehen hatten. Sie nahmen wohl an, dass er sich ihrer Reichweite entziehen wurde, doch statt dessen druckte er den Steuerknuppel ganz vor und ging in einen Au?enlooping, der beinahe die Flugel seines Flugzeuges abriss. Auf dem Tiefpunkt der Schleife ging er in die Gerade und vollzog eine halbe Rolle nach links. Da war keine Spur mehr von ihnen zu sehen. Er hatte sie ausmanovriert. Er begann zu steigen und sah unter sich eine Zero. Er lachte laut und steuerte seine Maschine mit Knuppel und Pedal nach rechts, bis er die Zero mitten in seinem Visier hatte. Dann fegte er wie ein Racheengel hinab, verringerte die Distanz mit schwindelerregendem Tempo. Seine Finger druckten auf den Abzugsknopf, als plotzlich ein marternder Schmerz seinen Korper durchschlug. Und noch einmal. Und noch einmal. Er spurte, wie sein Fleisch zerriss und seine Eingeweide vorquollen, und er dachte: O mein Gott! Wo kommt der her? ... Das ist ein besserer Pilot als ich ... Ich mochte wissen, wer das ist ...
Und dann begann er jah in den Raum abzutrudeln, und alles wurde dunkel und still.
Noelle wurde in ihrer Zelle frisiert, als sie das Krachen der Salve drau?en vernahm.
»Gibt es Regen?« fragte sie.
Die Friseuse sah sie einen Augenblick befremdet an, erkannte aber, dass sie wirklich nicht wusste, was das Gerausch bedeutete. »Nein«, sagte sie ruhig, »es wird ein schoner Tag.«
Und dann wusste Noelle Bescheid.
Und sie war die nachste.
Um funf Uhr drei?ig, eine halbe Stunde vor ihrer Hinrichtung, horte Noelle auf ihre Zelle zukommende Schritte. Ihr Herz machte unwillkurlich einen Sprung. Sie war uberzeugt gewesen, dass Constantin Demiris sie noch einmal sehen wollte. Sie wusste, dass sie niemals schoner ausgesehen hatte und, vielleicht, wenn er sie sah ... vielleicht ... Der Gefangnisdirektor erschien, begleitet von einem Aufseher und einer Krankenschwester mit einer gro?en schwarzen Arzttasche. Der Aufseher offnete die Zellentur, und der Direktor und die Schwester kamen herein. Noelle suchte hinter ihnen nach Demiris. Der Gang war leer. Noelle fuhlte ihr Herz klopfen, eine Woge der Angst uberschwemmte sie und ertrankte die vage Hoffnung, die sich in ihr geregt hatte.
»Es ist doch noch nicht Zeit, oder?« fragte Noelle.
Der Direktor machte ein verlegenes Gesicht. »Nein, Made-
moiselle Page. Die Schwester mochte Ihnen einen Einlauf machen.«
Sie sah ihn verstandnislos an. »Ich brauche keinen Einlauf.«
Er wurde noch verlegener. »Es wird Sie vor Peinlichkeiten bewahren.«
Jetzt verstand Noelle. Und ihre Furcht verwandelte sich in rasende Todesangst, die an ihrem Magen zerrte. Sie nickte, und der Direktor drehte sich um und verlie? die Zelle. Der Aufseher schloss die Tur und ging taktvoll auf dem Gang ein Stuck weiter.
»Wir wollen doch nicht dieses schone Kleid beschmutzen«, gurrte die Schwester. »Ziehen Sie es doch einfach aus und legen Sie sich dorthin. Es dauert ja nur eine Minute.«
Die Schwester machte ihr den Einlauf, aber Noelle spurte nichts. Sie war bei ihrem Vater, und er sagte: Seht sie doch an. Ein Fremder kann erkennen, dass sie von koniglichem Blut ist. Und die Menschen schlugen sich darum, sie in die Arme zu nehmen und zu halten. Ein Priester war im Raum und fragte: »Wollen Sie vor Gott ein Gestandnis ablegen, mein Kind?« Aber sie schuttelte ungeduldig den Kopf, denn ihr Vater sprach, und sie wollte horen, was er sagte. Du bist als Prinzessin geboren, und dies ist dein Konigreich. Wenn du erwachsen bist, wird ein schoner Prinz kommen und dich fortfuhren, und du wirst in einem gro?en schloss wohnen.
Sie ging mit mehreren Mannern durch einen langen Gang, und jemand offnete eine Tur, und sie stand im Freien in einem kalten Hof. Ihr Vater hob sie zu einem Fenster hinauf, und sie konnte die hohen Masten auf dem Wasser schaukelnder Schiffe sehen.
Die Manner fuhrten sie zu einem Pfahl vor einer hohen Mauer, fesselten ihr die Hande auf dem Rucken, banden sie mit der Taille an den Pfahl, und ihr Vater sagte: Siehst du diese Schiffe, Prinzessin? Das ist deine Flotte. Eines Tages wird sie dich in alle Wunderlander der Welt tragen. Und er hielt sie fest an sich gedruckt, und sie fuhlte sich sicher. Sie konnte sich nicht mehr erinnern, warum, aber ihr Vater war bose mit ihr gewesen, doch jetzt war alles wieder gut, und er liebte sie wieder, und sie wandte sich ihm zu, aber sein Gesicht war verschwommen, und sie konnte sich nicht erinnern, wie er aussah. Sie konnte sich nicht an das Gesicht ihres Vaters erinnern.
Eine uberwaltigende Traurigkeit erfullte sie, als ob sie etwas Kostbares verloren hatte, und sie wusste, dass sie sich an ihn erinnern musste, oder sie musste sterben, und sie konzentrierte sich mit aller Macht, doch noch ehe sie das Gesicht erkennen konnte, krachte es plotzlich, und tausend Messer des Todesschmerzes schnitten ihr ins Fleisch, und ihr Herz schrie: Nein! Noch nicht! Lasst mich das Gesicht meines Vaters sehen!
Doch es war fur immer in der Dunkelheit versunken.
Epilog
Der Mann und die Frau gingen uber den Friedhof, ihre Gesichter wurden von den Schatten der hohen, anmutigen Zypressen, die den Weg saumten, gefleckt. Sie gingen langsam in der flimmernden Hitze der Mittagssonne.
Schwester Teresa sagte: »Ich mochte Ihnen noch einmal sagen, wie dankbar wir Ihnen fur Ihre Gro?zugigkeit sind. Ich wei? nicht, was wir ohne Sie angefangen hatten.«
Constantin Demiris machte eine abwehrende Handbewegung. »Arkito«, sagte er. »Es ist nicht der Rede wert.«
Aber Schwester Teresa wusste, dass das Kloster ohne diesen Retter schon vor Jahren hatte schlie?en mussen. Und ganz gewiss war es ein Fingerzeig des Himmels, dass sie sich ihm jetzt in gewissem Umfang hatte dankbar erweisen konnen. Es war ein thriamvos, ein Triumph. Sie dankte Sankt Dionysos wieder, dass es den Schwestern vergonnt gewesen war, Demiris' amerikanische Freundin in jener schrecklichen Sturmnacht aus den Wassern des Sees zu retten. Gewiss, etwas war dem Verstand der Frau widerfahren. Sie war wie ein Kind, aber es wurde fur sie gesorgt. Constantin Demiris hatte Schwester Teresa gebeten, die Frau in diesen Mauern aufzunehmen und sie den Rest ihres Lebens vor der Au?enwelt zu behuten und zu beschutzen. Er war ein so gutiger und freundlicher Mann.
Sie hatten das Ende des Friedhofs erreicht. Ein Pfad schlangelte sich zu einem Vorsprung hinunter, wo die Frau stand und auf den ruhigen, smaragdgrunen See hinabblickte.
»Dort ist sie«, sagte Schwester Teresa. »Ich verlasse Sie jetzt. Cherete.«
Demiris sah Schwester Teresa nach, die zum Kloster zuruckging. Dann ging er den Pfad hinunter zu der Frau.
»Guten Morgen«, gru?te er freundlich.
Langsam drehte sie sich um und sah ihn an. Ihr Blick war trub und leer, und kein Zeichen des Erkennens zeigte sich auf ihrem Gesicht.
»Ich habe Ihnen etwas mitgebracht«, sagte Constantin Demi-ris. Er zog ein kleines Schmucketui aus der Tasche und hielt es ihr hin. Sie starrte darauf wie ein kleines Kind.
»Nur zu. Nehmen Sie es.«
Langsam streckte sie die Hand nach dem Etui aus und nahm es. Sie offnete den Deckel, und darin lag auf Watte ein kleiner, au?erst fein gearbeiteter goldener Vogel mit Rubinaugen und zum Flug ausgebreiteten Flugeln. Demiris beobachtete, wie die Kind-Frau ihn aus dem Etui nahm und hochhob. Die helle Sonne fiel auf das