Frage nachgedacht. Fur die Aufgabe, Amy zubetreuen, kam ein Dutzend Insassinnen in Frage. Aber Tracy Whitney war ihm nicht aus dem Sinn gegangen. Ihr Fall verstorte ihn. Er arbeitete seit funfzehn Jahren als Kriminologe, und er ruhmte sich, da? es zu seinen Starken gehorte, Haftlinge richtig einzuschatzen. Einige der Frauen, fur die er die Verantwortung trug, waren hartgesottene Verbrecherinnen, andere sa?en im Gefangnis, weil sie im Affekt eine Straftat verubt hatten oder einer momentanen Versuchung erlegen waren; doch es schienBrannigan, da? Tracy Whitney weder in die eine noch in die andere Kategorie fiel. IhreBehauptung, sie sei unschuldig, hatte ihn nichtbeeindruckt: Das sagten Haftlinge immer. Was ihn verstorte, waren die Leute, die sich zusammengetan hatten, um Tracy Whitney hinter Gitter zubringen. Brannigan war von einem Ausschu? der Stadt New Orleans unter dem Vorsitz des Gouverneurs von Louisiana zum Gefangnisdirektor ernannt worden, und obwohl er mit der Lokalpolitik nichts zu schaffen hatte und nichts zu schaffen haben wollte, wu?te er genau, wer auf dieserBuhne mitspielte. Joe Romano gehorte zur Mafia und war Anthony Orsattisbestes Pferd im Stall. Perry Pope, der Anwalt, der Tracy Whitney verteidigt hatte, arbeitete fur die Mafia. Und Richter Henry Lawrence wurde von der Mafia geschmiert. Tracy Whitneys Verurteilung war also suspekt. Man konnte auch sagen, da? sie zum Himmel stank.
Und nun traf DirektorBrannigan seine Entscheidung.»Ja«, sagte er zu seiner Frau,»mir schwebt schon eine Nachfolgerin vor.«
In der Gefangniskuche gabes eine Nische mit einem kleinen
plastikbeschichteten E?tisch und vier Stuhlen. Das war der einzige Ort, an dem man halbwegs ungestort sein konnte.
Und hier sa?en Ernestine Littlechap und Tracy wahrend ihrer zehn Minuten Pause und tranken Kaffee.
«Vielleicht verratst du mir mal, warum du abhauen willst und warum du's so eilig hast«, schlug Ernestine vor.
Tracy zogerte. Konnte sie Ernestine vertrauen? Sie hatte keine andere Wahl.»Es… es gibt da ein paar Leute, die meiner Familie und mir etwas Schlimmes angetan haben. Das will ich ihnen heimzahlen. Und darum mu? ich raus.«
«Was haben die denn gemacht?«
Tracy sagte langsam:»Sie haben meine Mutter in den Tod getrieben.«
«Wer?«
«Ich glaube nicht, da? du mit den Namen viel anfangen kannst. Joe Romano, Peny Pope, Henry Lawrence, Anthony Orsatti…«
Ernestine starrte Tracy mit offenem Mund an.»Gro?er Gott! Willst du mich verarschen?«
Tracy war uberrascht.»Du kennst sie also?«
«Mensch, wer kennt die denn nicht? In New Orleans lauft nichts ohne Orsatti und Romano. Bleibdenenblo? vom Pelz, die pusten dich weg wie nichts.«
«Die haben mich schon weggepustet«, sagte Tracy tonlos.
Ernestineblickte in die Runde, um sich zu vergewissern, da? sie nichtbelauscht wurden.»Also, entwederbist du ubergeschnappt oder totalbehammert. An die kommst du nicht ran!«Sie schuttelte den Kopf.»Vergi? es.«
«Nein. Ich mu? hier weg. La?t sich das irgendwie machen?«
Ernestine schwieg lange. Schlie?lich sagte sie:»Reden wir auf dem Hof.«
Sie standen allein in einer Ecke des Gefangnishofs.
«Aus diesem Knast sind bis jetzt zwolf Frauen
ausgebrochen«, sagte Ernestine.»Zwei sind erschossen worden. Die andern zehn sind geschnappt worden und wieder hierher gekommen. «Tracy au?erte sich nicht.»Die Wachturme sind rund um die Uhrbesetzt. Die Wachmannschaften haben MGs, und das sind fiese Typen, glaub's mir. Wenn jemand abhaut, sind sie ihren Joblos, also knallen sie dich lieber ab. Ums ganze Gefangnis lauft 'n Stacheldrahtzaun, und angenommen, du schaffst es da ruber und kommst an den MGs vorbei, dann haben die Spurhunde mit so 'ner feinen Nase, da? sie noch 'n Moskitofurz riechen. Ein paar Meilen weiter ist 'ne Station von der National Guard, und wenn hier jemand abgehauen ist, lassen sie Hubschrauber mitBordkanonen und Suchscheinwerfern starten. Obdie dich tot oder lebendig kriegen, das ist denen schei?egal. Sie finden, tot istbesser. Weil die anderen dann nicht so leicht auf dumme Gedanken kommen.«
«Aber versucht haben es doch immer wieder welche«, sagte Tracy storrisch.
«Den Frauen, die hier ausgebrochen sind, haben Leute von drau?en geholfen — Freunde, die Knarren und Kohle und Kleider in den Knast geschmuggelt haben. Fluchtautos hatten sie auch. Die haben schon auf sie gewartet. «Ernestine legte einebedeutungsvolle Pause ein.»Und trotzdem sind sie geschnappt worden.«
«Mich schnappen sie nicht«, sagte Tracy.
Eine Aufseherin naherte sich denbeiden.»Whitney!«rief sie.»Der Direktor will mit dir reden. Beeilung!«
«Wirbrauchen jemand, der sich um unsere kleine Tochter kummert«, sagte GefangnisdirektorBrannigan.»Der Jobist rein freiwillig. Sie mussen ihn nicht nehmen, wenn Sie nicht mogen.«
Jemand, der sich um unsere kleine Tochter kummert. Tracys Gedanken ubersturzten sich. Moglicherweise wurde ihr das die
Flucht erleichtern. Wenn sie im Haus des Direktors arbeitete, erfuhr sie wahrscheinlich sehr viel mehr uber das Sicherheitssystem des Gefangnisses.
«Ich nehme ihn gern«, sagte Tracy.
GeorgeBrannigan war zufrieden. Er hatte das seltsame, widersinnige Gefuhl, da? er dieser Frau etwas schuldig war.»Bestens. Siebekommen 6 °Cent Stundenlohn. Das Geld wird Ihnen am Ende jedes Monats gutgeschrieben.«
Die Gefangenen durften nicht uberBargeld verfugen, und was sie im Laufe der Haft verdient hatten, wurde ihnenbei der Entlassung ausgehandigt.
Am Ende des Monatsbin ich nicht mehr hier, dachte Tracy, aber sie sagte:»Ja, sehr schon.«
«Sie konnen morgen fruh anfangen. Die Oberaufseherin erklart Ihnen alles weitere.«
«Vielen Dank, Sir.«
Der Gefangnisdirektorblickte Tracy an und war in Versuchung, noch einige Worte hinzuzufugen. Er wu?te nur nicht genau, welche. Und so sagte er lediglich:»Das war's.«
Als Tracy Ernestine die Neuigkeit mitteilte, meinte die Schwarze nachdenklich:»Das hei?t, da? du dich im Knast freibewegen darfst. Vielleicht kannst du dann eher abhauen.«
«Aber wie?«fragte Tracy.
«Es gibt drei Moglichkeiten, und die sind alle gefahrlich. Du kannst heimlich turmen. Da klebst du in der Nacht Kaugummi ins Schlo? von der Zellentur und von den Turen auf dem Flur. Dann schleichst du dich auf den Hof, wirfst 'ne Decke ubern Stacheldraht, kletterst druber und rennst, was du kannst.«
Hunde und Hubschrauber dicht auf den Fersen. Tracy hatte das Gefuhl, da? sie spuren konnte, wie die Patronen der MGs auf den Wachturmen ihren Korper durchsiebten. Es schauderte sie.»Und die zweite Moglichkeit?«
«Dubrichst ganzbrutal aus. Dazubrauchst du 'ne Knarre,
und 'ne Geisel mu?t du auch nehmen. Wenn sie dich lebend erwischen, kriegst du funf Jahre zusatzlich aufgebrummt.«
«Und die dritte Moglichkeit?«
«Du spazierst einfach weg. Das geht aber nur, wenn sie dich zu 'nem Arbeitstrupp drau?en einteilen. Und wenn du dann im Gelandebist, mu?t du eben tuchtig marschieren.«
Tracy dachte daruber nach. Ohne Geld, ohne Auto und ohne Versteck hatte sie keine Chance.»Aberbeim nachsten Appell wurden sie merken, da? ich fortbin, und mich verfolgen.«
Ernestine seufzte.»Es gibt nun mal keinen perfekten Fluchtplan. Deswegen hat's auch noch niemand geschafft, aus diesem Knast abzuhauen.«
Ich werde es schaffen, schwor sich Tracy. Ich werde es schaffen.
An dem Morgen, an dem Tracy zuBrannigans Haus gefuhrt wurde, begann ihr funfter Monat in Haft. Ihr war unbehaglichbei dem Gedanken, die Frau und das Kind des Direktors kennenzulernen und ihnen womoglich nicht zu gefallen, denn sie mu?te diesen Jobunbedingt haben. Er sollte ihr Schlussel zur Freiheit sein.
Tracy trat in die gro?e, gemutliche Wohnkuche und nahm Platz. Ihre Achselhohlen wurden feucht vor Nervositat. In der Tur erschien eine Frau, die ein altrosa Hauskleid trug.
«Guten Morgen«, sagte sie.