«Guten Morgen.«

Die Frau wollte sich setzen, uberlegte es sich anders undbliebstehen. Sue EllenBrannigan hatte ein freundliches Gesicht, warblond, Mitte Drei?ig und stets ein wenig geistesabwesend und konfus. Sie war dunn, neigte zur Ubereifrigkeit und wu?te nie genau, wie sie mit ihren kriminellen Dienstboten umgehen sollte. Sollte sie sichbei ihnen dafurbedanken, da? sie ihre Arbeit taten, oder sollte sie die Frauen einfach herumkommandieren? Sollte sie

liebenswurdig sein oder sie wie Gefangenebehandeln? Sue Ellen hatte sich immer noch nicht daran gewohnt, unter Drogenabhangigen, Kidnapperinnen und Morderinnen zu leben.

«Ichbin Mrs. Brannigan«, sagte sie.»Amy wirdbald funf, und Sie wissen ja, wie lebhaft Kinder in diesem Alter sind. Man mu? sie huten wie einen Sack Flohe. «Sie warf einen fluchtigenBlick auf Tracys Hande. Das Madchen trug keinen Ehering, aber das wollte heutzutage naturlich nichts hei?en. Schon gar nichtbei der Unterschicht, dachte Sue Ellen. Sie machte eine kleine Sprechpause und fragte dann taktvoll:»Haben Sie Kinder?«

Tracy mu?te an dasBaby denken, das sie verloren hatte.»Nein«, sagte sie.

«Aha. «Diese junge Frau verwirrte Sue Ellen. Sie entsprach ihren Erwartungen in keiner Weise. Das Madchen hatte fast etwas Elegantes.»Ich hole jetzt Amy. «Sue Ellen eilte aus der Kuche.

Tracy schaute sich um. Das Haus war ziemlich gro? und sehr hubsch eingerichtet. Es schien Tracy, als sei es Jahre her, seit sie in einer normalen Wohnung gewesen war. Das gehorte alles in eine andere Welt, in die Welt jenseits des Stacheldrahtzauns.

Sue Ellen kam mit einem kleinen Madchen an der Hand zuruck.»Amy, das ist…«Sprach man eine Gefangene mit Voroder mit Nachnamen an? Sue Ellen entschied sich fur einen Kompromi?:»Das ist Tracy Whitney.«

«Hi«, sagte Amy. Sie war mager wie ihre Mutter und hatte die gleichen tiefliegenden, intelligentenbraunen Augen. Kein hubsches Kind, aber Amy hatte etwas Offenes und Freundliches, das einen ruhren konnte.

Es wird mich nicht ruhren, schwor sich Tracy.

«Bist du mein neues Kindermadchen?«

«Ja.«

«Judy istbedingt freigelassen, hast du das schon gewu?t? Wirst du auchbedingt freigelassen?«

Nein, dachte Tracy.»Ichbin noch lange hier, Amy«, antwortete sie.

«Ach, das ist ja schon«, sagte Sue Ellen munter. Dann errotete sie verlegen.»Ich meine…«Sie fuhrte nicht weiter aus, was sie meinte, sondernbegann, Tracy ihre kunftigen Pflichten zu erlautern.»Sie essen gemeinsam mit Amy. Sie konnen das Fruhstuck fur sie zubereiten und am Vormittag mit ihr spielen. Das Mittagessen macht die Kochin. Danach schlaft Amy ein Stundchen, und am Nachmittag ist sie gern drau?en auf dem Farmgelande. Es ist gut fur ein Kind, wenn es all das Wachsen undBluhen sieht — meinen Sie nicht auch?«

«Doch.«

Die Farmbefand sich auf der anderen Seite des Gefangnisses. Ihre zwanzig Morgen Grund, bepflanzt mit Gemuse und Obstbaumen, wurden von Haftlingenbestellt. Inmitten des Gelandes lag ein gro?er, kunstlicherBewasserungsteich, der von einerBetonmauer eingefa?t war.

Die nachsten funf Tage erschienen Tracy fast wie ein neues Leben. Unter anderenBedingungen hatte es sie gefreut, den dusteren Gefangnismauern entrinnen, sich ungehindertbewegen und frische Landluft atmen zu konnen, aber sie mu?te standig an ihre Flucht denken, und nichts hatte daneben Platz. Wenn ihr Dienstbei Amybeendet war, hatte sie sich im Gefangnis zuruckzumelden. Jede Nacht wurde sie in ihrer Zelle eingeschlossen, dochbei Tagbliebihr immerhin die Illusion der Freiheit. Nach dem Fruhstuck in der Gefangniskuche ging sie zum Haus des Direktors und machte Fruhstuck fur Amy.

Tracy hatte von Charles eine Menge ubers Kochen gelernt, und die feinen Sachen in den Kuchenregalen und im Kuhlschrank derBrannigans fuhrten sie in Versuchung, aber

Amy a? am liebsten etwas Einfaches: Haferbrei mit Obst oder ein Musli. Danach spielte Tracy mit ihr oder las ihr vor. Unwillkurlichbegann sie, Amy die Spiele zu lehren, die ihre Mutter mit ihr gespielt hatte.

Amy liebte Puppen. Tracy wollte aus einer alten Socke des Direktors ein Lammchen fur sie machen, doch es wurde eine Kreuzung aus Fuchs und Ente daraus.»Es ist sehr schon«, sagte Amy ergeben.

Tracy lie? das mi?gluckte Lamm mit verschiedenen Akzenten sprechen: mit franzosischem, italienischem und mexikanischem. Den mexikanischen hatte sie Paulita abgelauscht, und denbewunderte Amy am meisten. Tracy sah die Freude im Gesicht des kleinen Madchens und dachte: Ich werde mich nicht an siebinden. Sie ist mein Mittel zur Flucht, weiter nichts.

Nach Amys Mittagsschlaf unternahmen sie lange Spaziergange, und Tracy sorgte dafur, da? sie Teile des Gefangnisgelandes durchstreiften, die sie noch nicht kannte. Siebeobachtete jeden Ausgang und Eingang genau, achtete darauf, mit wieviel Mann die Wachturmebesetzt waren und wann die Wachablosung stattfand. Es wurde ihrbald klar, da? sich keiner der Fluchtplane, die sie mit Ernestinebesprochen hatte, verwirklichen lie?.

«Hat mal jemand zu turmen versucht, indem er sich in einem der Lieferwagen versteckt hat, die hier ankommen? Ich habe schon einen mit Milch gesehen und einen mit Nahrungsmitteln und…«

«Das kannst du vergessen«, erwiderte Ernestine.»Jeder Wagen, der durchs Tor fahrt, wird durchsucht.«

Eines Morgens sagte Amybeim Fruhstuck:»Ich habdich lieb, Tracy. Willst du meine Mutter sein?«

Diese Worte gaben Tracy einen Stich ins Herz.»Eine Mutter ist genug. Dubrauchst nicht zwei.«

«Doch. Der Vater von meiner Freundin Sally Ann hat noch mal geheiratet, und Sally Ann hat zwei Mutter.«

«Dubist aber nicht Sally Ann«, entgegnete Tracy schroff.»I? auf.«

Amyblickte sie tief verletzt an.»Ich habkeinen Hunger mehr.«

«Na schon, dann lese ich dir vor.«

Als Tracy vorzulesenbegann, spurte sie Amys kleine Hand auf der ihren.

«Darf ich auf deinem Scho? sitzen?«

«Nein. «Hol dir die Zuwendungbei deiner Familie, dachte Tracy. Du gehorst mir nicht an. Niemand gehort mir an.

Der Umstand, da? sie tagsuber von der Gefangnisroutine erlost war, machte die Nachte nur noch schlimmer. Tracy ha?te es, in ihre Zelle zuruckzukehren, verabscheute es, eingesperrt zu sein wie ein Tier. Sie konnte sich nicht an die Schreie gewohnen, die in der Dunkelheit aus den Nachbarzellen drangen. Sie knirschte mit den Zahnen, bis ihr die Kiefer weh taten. Ich mu? es durchstehen, dachte sie. Und ich werde es durchstehen. Sie schlief wenig, weil es in ihrem Kopf unaufhorlich arbeitete. Die Flucht war der erste Schritt. Die Rache an Joe Romano, Perry Pope, Richter Henry Lawrence und Anthony Orsatti der zweite. Und die Rache an Charles war der dritte. Aber noch war auch nur derblo?e Gedanke daran zu schmerzlich. Damitbefasse ich mich, wenn die Zeit reif ist, sagte sich Tracy.

Es gelang ihr nicht mehr, BigBertha aus dem Weg zu gehen. Tracy war sicher, da? die kolossale Schwedin ihr nachspionierte. Wenn sie in den Aufenthaltsraum trat, tauchte wenige Minuten spaterBigBertha auf, und wenn sie auf dem Hof war, erschienBigBertha kurz danach.

Eines Tages watschelte sie auf Tracy zu und sagte:»Du

siehst heutbesonders schon aus, Baby. Ich kann's kaum erwarten, da? wir endlich zusammen sind.«

«Komm mir nicht zu nahe«, warnte Tracy.

Die Amazone grinste.»Und wenn ich's doch tu? Deine Niggerin istbald weg. Ich sorg dafur, da? du in meine Zelle kommst.«

Tracy starrte sie an.

BigBertha nickte.»Ich kann das, Baby. Glaub's mir.«

Tracys Zeit wurde knapp. Sie mu?te fliehen, bevor Ernestine entlassen wurde.

Amys liebster Spazierweg fuhrte durch eine gro?e Wiese mitbuntenBlumen. In der Nahebefand sich derBewasserungsteich mit seinerBetonmauer, die steil zum tiefen Wasser abfiel.

«La? uns schwimmen gehn«, flehte Amy.»Bitte, bitte, Tracy.«

«Der ist nicht zum Schwimmen da«, erwiderte Tracy.»Das ist einBewasserungsteich.«

Es frostelte siebeim Anblick des kalten, bedrohlich aussehenden Wassers.

… Ihr Vater trug sie auf seinen Schultern ins Meer. Sie schrie, aber ihr Vater sagte: Dubist doch keinBaby mehr, Tracy. Er lie? sie ins kalte Wasser fallen. Sie ging unter, geriet in Panik und erstickte fast…

Als Tracy davon erfuhr, traf es sie wie ein Schlag, obwohl siebereits damit gerechnet hatte.

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