Sidney Sheldon

Zorn der Engel

ERSTES BUCH

1

New York, 4. September 1969

Die Jager bereiteten sich auf den Fangschu? vor. Im Rom der Soldatenkaiser ware der Wettkampf im Circus Neronis oder dem Kolosseum veranstaltet worden. Eine Meute hungriger Lowen hatte sich in einer blutbefleckten Arena an das Opfer herangeschlichen, begierig darauf, es in Stucke zu rei?en. Aber wir leben im zivilisierten zwanzigsten Jahrhundert, und das Schauspiel fand im Sitzungssaal sechzehn des Gerichtsgebaudes von Downtown Manhattan statt. An Stelle von Sueton hielt ein Gerichtsstenograf das Ereignis fur die Nachwelt fest, und die taglichen Schlagzeilen uber den Mordproze? hatten Dutzende Journalisten und Schaulustige angelockt, die schon um sieben Uhr morgens vor dem Gerichtssaal eine Schlange bildeten, um einen Sitzplatz zu ergattern.

Das Opfer sa? auf der Anklagebank. Michael Moretti, ein schweigsamer, gutaussehender Mann Anfang Drei?ig, war gro? und schlank. Sein flachiges, durchfurchtes Gesicht verlieh ihm einen rauhen, fast etwas groben Ausdruck. Das schwarze Haar war modisch geschnitten, er hatte ein vorspringendes Kinn mit einem Grubchen, das gar nicht zu ihm zu passen schien, und tiefliegende, olivschwarze Augen. Er trug einen ma?geschneiderten grauen Anzug, ein hellblaues Hemd mit dunkelblauem Seidenschlips und frisch geputzte, handgemachte Schuhe. Abgesehen von seinen Augen, die ununterbrochen durch den Gerichtssaal schweiften, bewegte Michael Moretti sich kaum.

Der Lowe, der auf ihn losging, war Robert Di Silva, der hitzige Bezirksstaatsanwalt von New York, der hier als Vertreter des Volkes auftrat. Im Gegensatz zu der Ruhe, die Michael Moretti ausstrahlte, schien Di Silva vor dynamischer Energie zu vibrieren. Er hastete durch das Leben, als hatte er sich schon bei der Geburt um funf Minuten verspatet. Er war standig in Bewegung, ein Sparringspartner unsichtbarer Gegner. Di Silva war von kleiner, kraftiger Statur und hatte graues, altmodisch kurzgeschnittenes Haar. In seiner Jugend war er Boxer gewesen, woran die Narben in seinem Gesicht und die gebrochene Nase noch heute erinnerten. Einmal hatte er einen Mann im Ring getotet. Er hatte es nie bedauert. Auch in den Jahren danach war Mitleid fur ihn ein Fremdwort geblieben. Robert Di Silva war von brennendem Ehrgeiz erfullt, und er hatte sich bei dem Kampf um seine gegenwartige Position weder auf Geld noch auf Beziehungen stutzen konnen. Im Zuge seines Aufstiegs hatte er sich den Anstrich eines zivilisierten Beamten gegeben; aber unter der Tunche war er ein Stra?enschlager geblieben, der weder verga? noch vergab. Unter normalen Umstanden hatte sich der Staatsanwalt heute nicht im Gerichtssaal sehen lassen. Er verfugte uber einen gro?en Stab, und jeder seiner gehobenen Assistenten ware fahig gewesen, die Anklage zu vertreten. Aber im Fall von Moretti hatte Di Silva von Anfang an gewu?t, da? er die Sache selber in die Hand nehmen wurde.

Michael Moretti machte Schlagzeilen; er war der Schwiegersohn von Antonio Granelli, dem capo di tutti capi, dem Don der gro?ten ostlichen Mafia-Familie. Antonio Granelli wurde alt, und uberall hie? es, Moretti werde den Platz seines Schwiegervaters einnehmen. Moretti war an zahllosen Verbrechen von Korperverletzung bis zum Mord beteiligt gewesen, aber kein Staatsanwalt hatte ihm jemals etwas nachweisen konnen. Zu viele gute Anwalte standen zwischen Moretti und den Mannern, die seine Befehle ausfuhrten. Di Silva hatte selber drei frustrierende Jahre mit dem Versuch verbracht, Beweismaterial gegen Moretti zusammenzutragen. Dann hatte er auf einmal Gluck gehabt.

Camillo Stela, einer von Morettis soldati, war bei einem Mord wahrend eines Raububerfalls verhaftet worden. Um seinen Kopf zu retten, hatte Stela gesungen. Es war die schonste Musik, die Di Silva je gehort hatte - ein Lied, das die machtigste MafiaFamilie des Ostens in die Knie zwingen, Michael Moretti auf den elektrischen Stuhl und Robert Di Silva auf den Gouverneurssessel des Staates New York bringen wurde. Schon andere Gouverneure hatten den Sprung ins Wei?e Haus geschafft: Martin Van Buren, Grover Cleveland, Teddy Roosevelt und Franklin Roosevelt. Di Silva hatte fest vor, der nachste zu sein.

Das Timing war perfekt. Im nachsten Jahr standen Gouverneurswahlen an, und der einflu?reichste politische Bo? des Staates war schon bei Di Silva vorstellig geworden. »Mit der Publicity, die Ihnen dieser Fall einbringen wird, haben Sie alle Chancen, fur die Wahl zum Gouverneur aufgestellt zu werden und auch die notigen Stimmen zu kriegen, Bobby. Nageln Sie Moretti fest, und Sie sind unser Kandidat.«

Robert Di Silva war kein Risiko eingegangen. Er hatte den Fall Moretti mit peinlicher Sorgfalt vorbereitet, seine Assistenten auf jedes Beweisstuck, jedes lose Ende, jeden juristischen Fluchtweg angesetzt, die Morettis Anwalt vielleicht benutzen konnte, um ihnen ein Bein zu stellen. Nach und nach waren alle Schlupflocher versiegelt worden.

Die Auswahl der Geschworenen hatte fast zwei Wochen gedauert, und der Staatsanwalt hatte darauf bestanden, sechs Ersatzgeschworene zu bestimmen, damit der Proze? nicht noch mittendrin platzte. Es ware nicht das erste Mal gewesen, da? Mitglieder der Jury in einem Verfahren gegen einen wichtigen Mafioso verschwanden oder todliche Unfalle erlitten. Di Silva hatte hollisch genau darauf geachtet, da? die Geschworenen von Anfang an vollig isoliert waren, da? sie jeden Abend an einem sicheren Ort eingeschlossen wurden, wo niemand sie finden konnte.

Der Schlussel im Fall gegen Michael Moretti war Camillo Stela, und als Di Silvas Starzeuge wurde er besser bewacht als der Direktor des FBI. Der Staatsanwalt erinnerte sich nur zu gut daran, wie Abe »Kid Twist« Reles als Zeuge der Anklage aus einem Fenster im sechsten Stock des Half Moon Hotels auf Coney Island ›gefallen‹ war, obwohl er von einem halben Dutzend Polizeibeamten bewacht wurde. Di Silva hatte Camillo Stelas Wachter personlich ausgesucht, und vor Proze?beginn war Stela jede Nacht in ein anderes Versteck gebracht worden. Jetzt und fur die Dauer der Verhandlung wurde Stela, bewacht von vier bewaffneten Deputies, in einer isolierten Zelle unter Verschlu? gehalten. Niemand durfte in seine Nahe, denn Stela war nur deswegen bereit, auszusagen, weil er glaubte, Staatsanwalt Di Silva sei fahig, ihn vor Michael Morettis Rache zu schutzen. Es war der Morgen des funften Verhandlungstages.

Jennifer Parker wohnte der Verhandlung an diesem Tag zum erstenmal bei. Zusammen mit funf anderen jungen Assistenten der Staatsanwaltschaft, die an diesem Morgen mit ihr vereidigt worden waren, sa? sie am Tisch des Anklagers. Sie war eine schlanke, dunkelhaarige Frau von vierundzwanzig Jahren. Sie hatte einen blassen Teint, ein intelligentes, lebhaftes Gesicht und grune, nachdenkliche Augen. Es war ein eher attraktives als schones Gesicht, ein Gesicht, das Stolz, Mut und Sensibilitat widerspiegelte und schwer zu vergessen war. Steif wie ein Ladestock sa? sie auf ihrem Stuhl, als stemme sie sich gegen unsichtbare Geister aus der Vergangenheit.

Jennifer Parkers Tagesbeginn war eine Katastrophe gewesen. Da die Vereidigungszeremonie im Buro des Staatsanwalts auf acht Uhr morgens angesetzt worden war, hatte Jennifer bereits am Abend zuvor ihre Kleidung zurechtgelegt und den Wecker auf sechs Uhr gestellt, damit sie noch genug Zeit hatte, sich die Haare zu waschen.

Der Wecker klingelte nicht. Jennifer wurde erst um halb acht wach. In panischer Hast zog sie sich an. Dann brach ihr ein Absatz ab, und schlie?lich ri? sie sich eine Laufmasche in den Strumpf, so da? sie sich noch einmal umziehen mu?te. Sie

schlug die Tur ihres winzigen Appartements zu - eine Sekunde bevor ihr einfiel, da? sie ihren Schlussel drinnen vergessen hatte. Ursprunglich hatte sie den Bus zum Gericht nehmen wollen, aber daran war jetzt nicht mehr zu denken. So hetzte sie sich nach einem Taxi ab, das sie sich nicht leisten konnte, und fiel zu allem Uberflu? einem Fahrer in die Hande, der ihr wahrend der ganzen Fahrt erzahlte, warum es mit der Welt zu Ende gehe.

Als Jennifer schlie?lich vollig au?er Atem das Gerichtsgebaude in der Leonard Street Nr. 155 erreichte, war sie eine Viertelstunde zu spat dran.

Im Buro des Staatsanwalts hatten sich funfundzwanzig Anwalte versammelt, die meisten frisch von der

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