Gedanke war, da? Michael Moretti geflohen war, da? er es irgendwie geschafft hatte, den Wachtern zu entwischen. Sie sturzte auf den Korridor. Es war wie in einem Irrenhaus. Menschen liefen wie Ameisen durcheinander, versuchten, den Larm der Klingeln zu uberbrullen. Wachen mit Schnellfeuergewehren hatten die Ausgange besetzt. Reporter, die ihren Redaktionen telefonisch ihre Stories durchgegeben hatten, rannten auf den Korridor, um herauszufinden, was los war. Am Ende der Halle sah Jennifer Staatsanwalt Di Silva, der mit hochrotem Gesicht einem halben Dutzend Polizisten Instruktionen erteilte. Mein Gott, gleich hat er einen Herzanfall, dachte sie. Sie bahnte sich einen Weg durch die Menge, in der Annahme, sie konnte vielleicht von Nutzen sein. Als sie sich naherte, blickte einer der Deputies, die Camillo Stela bewacht hatten, auf. Er hob seinen Arm und deutete auf sie. Funf Sekunden spater war sie mit Handschellen gefesselt und unter Arrest gestellt.
Nur vier Leute hielten sich in Richter Lawrence Waldmans Zimmer auf: der Richter, Staatsanwalt Di Silva, Thomas Colfax und Jennifer.
»Sie haben das Recht auf die Anwesenheit eines Anwalts, bevor Sie eine Aussage machen«, informierte der Richter Jennifer, »und Sie haben das Recht, die Aussage zu verweigern. Falls Sie...«
»Ich brauche keinen Anwalt, Euer Ehren! Ich kann erklaren, was passiert ist.«
Robert Di Silva beugte sich so dicht zu ihr, da? Jennifer eine Ader an seiner Schlafe pochen sehen konnte. »Wer hat Sie dafur bezahlt, da? Sie Camillo Stela das Kuvert gegeben haben?«
»Mich bezahlt? Niemand hat mich bezahlt!« Jennifers Stimme zitterte vor Emporung.
Di Silva ergriff einen vertraut aussehenden Manilaumschlag auf Richter Waldmans Tisch. »Niemand hat Sie bezahlt? Waren Sie nicht gerade bei meinem Zeugen und haben ihm dies gegeben?« Er schuttelte den Umschlag, und ein gelber Kanarienvogel fiel auf den Tisch. Sein Genick war gebrochen.
Entsetzt starrte Jennifer den Vogel an. »Ich... aber einer Ihrer Manner... gab mir...«
»Welcher meiner Manner?«
»Ich - ich wei? nicht.«
»Aber Sie wissen, da? es sich um einen meiner Manner handelte.« Di Silvas Stimme klang unglaubig. »Ich habe ihn mit Ihnen sprechen gesehen, und dann kam er zu mir, gab mir den Umschlag und sagte, Sie wollten, da? ich ihn Mr. Stela gebe... Er - er wu?te sogar meinen Namen.«
»Davon bin ich uberzeugt. Wieviel haben sie Ihnen bezahlt?« Ein Alptraum, dachte Jennifer, es ist alles nur ein Alptraum. Ich werde jeden Augenblick aufwachen, und dann ist es sechs Uhr morgens, und ich ziehe mich an und mache mich auf den Weg, um in den Stab des Staatsanwalts aufgenommen zu werden. »Wieviel?« Der Zorn in Di Silvas Stimme war so heftig, da? Jennifer aufsprang. »Werfen Sie mir vor...?«
»Ihnen vorwerfen!« Robert Di Silva ballte die Fauste. »Lady, ich habe noch nicht einmal angefangen. Wenn Sie aus dem Gefangnis herauskommen, werden Sie zu alt sein, um auch nur einen Penny von dem Geld auszugeben.«
»Es gibt kein Geld.« Jennifer starrte ihn herausfordernd an. Thomas Colfax hatte die ganze Zeit ruhig zugehort. Jetzt unterbrach er das Gesprach und sagte: »Entschuldigen Sie, Euer Ehren, aber ich furchte, das hier fuhrt zu nichts.«
»Der Meinung bin ich auch«, erwiderte Richter Waldman. Er wandte sich an den Staatsanwalt. »Wie sieht's aus, Bobby? Ist Stela immer noch bereit, sich dem Kreuzverhor zu stellen?«
»Kreuzverhor? Er ist ein Wrack. Hat die Hosen gestrichen voll. Er wird das nicht noch einmal durchhalten.« Thomas Colfax sagte glatt: »Wenn ich den Hauptzeugen der Anklage nicht ins Kreuzverhor nehmen kann, Euer Ehren, mu? ich auf die Einstellung des Prozesses dringen.« Jeder in dem Raum wu?te, was das bedeutete. Michael Moretti wurde den Gerichtssaal als freier Mann verlassen. Richter Waldman sah den Staatsanwalt an. »Haben Sie Ihrem Zeugen mitgeteilt, da? er wegen Mi?achtung des Gerichts festgenagelt werden kann?«
»Ja. Aber Stela hat vor denen mehr Angst als vor uns.« Er warf Jennifer einen giftigen Blick zu. »Er glaubt nicht mehr daran, da? wir ihn beschutzen konnen.«
Richter Waldman sagte langsam: »Dann gibt es, furchte ich, keine Alternative, als dem Wunsch der Verteidigung zu folgen und den Proze? einzustellen.«
Robert Di Silva stand da und horte, wie seinem Fall der Garaus gemacht wurde. Ohne Stela hatte er nichts in der Hand. Michael Moretti war jetzt au?erhalb seiner Reichweite, aber nicht Jennifer Parker. Er wurde sie fur das bezahlen lassen, was sie ihm angetan hatte.
Richter Waldman sagte: »Ich werde Anweisung geben, den Angeklagten auf freien Fu? zu setzen und die Jury zu entlassen.«
Thomas Colfax sagte: »Danke, Euer Ehren.« Sein Gesicht druckte nicht den geringsten Triumph aus. »Falls nichts anderes anliegt...«, begann Richter Waldman. »Es liegt etwas anderes an!« Robert Di Silva deutete auf Jennifer Parker. »Ich mochte, da? sie belangt wird - wegen Behinderung der Justiz, wegen Bestechung eines Zeugen bei der Hauptverhandlung, wegen Verschworung...« Vor lauter Wut verhaspelte er sich.
Endlich fand Jennifer ihre Stimme wieder. »Sie konnen keinen einzigen dieser Vorwurfe beweisen, weil sie nicht wahr sind. Ich... ich mag dumm gewesen sein, aber das ist auch alles, dessen ich schuldig bin. Niemand hat mich bestochen, damit ich irgend etwas tue. Ich war der festen Meinung, ein Paket fur Sie abzugeben.«
Richter Waldman blickte Jennifer an und sagte: »Was auch immer Ihre Motive gewesen sein mogen, die Folgen waren au?erst ungluckselig. Ich werde darauf dringen, da? die Disziplinarabteilung eine Untersuchung in die Wege leitet und Ihnen, falls die Umstande es erfordern, Ihren Titel entzieht.«
Jennifer fuhlte sich plotzlich schwach. »Euer Ehren, ich...«
»Das ist soweit alles, Mi? Parker.«
Jennifer blieb noch einen Augenblick stehen und starrte in ihre feindseligen Gesichter. Es gab nichts mehr, was sie noch hatte sagen konnen. Mit dem gelben Kanarienvogel auf dem Tisch war alles gesagt.
3
Jennifer Parker erschien nicht blo? in den Abendnachrichten -sie war die Nachricht des Abends. Eine junge Frau, die dem Starzeugen des Staatsanwalts einen toten Kanarienvogel brachte, lieferte eine unwiderstehliche Story. Jeder Fernsehsender hatte Bilder von Jennifer, wie sie Richter Waldmans Buro verlie? und sich, belagert von Presse und Publikum, ihren Weg aus dem Gerichtsgebaude erkampfte. Jennifer stand dem plotzlichen, schrecklichen Ruhm, mit dem sie uberschuttet wurde, fassungslos gegenuber. Von allen Seiten wurde auf sie eingehammert: Kameraleute des Fernsehens, Rundfunkreporter und Zeitungsleute. Sie wunschte nichts sehnlicher, als vor ihnen zu fliehen, aber ihr Stolz lie? das nicht zu.
»Wer hat Ihnen den gelben Kanarienvogel gegeben, Mi? Parker?«
»Haben Sie Michael Moretti jemals getroffen?« »Wu?ten Sie, da? Di Silva diesen Fall als Sprungbrett benutzen wollte, um zum Gouverneur gewahlt zu werden?«
»Der Staatsanwalt sagt, da? er Sie aus der Anwaltskammer ausschlie?en lassen will. Werden Sie sich dagegen zur Wehr setzen?«
Jede Frage beantwortete Jennifer mit einem schmallippigen: »Kein Kommentar.«
Die CBS-Abendnachrichten nannten sie »Blindganger-Parker«, das Madchen, das in die falsche Richtung losgegangen war. Ein Kommentator der ABC bezeichnete sie als den »Gelben Kanarienvogel«. Bei der NBC verglich ein Sportreporter sie mit einem Fu?ballspieler, der ein Eigentor schie?t.
In »Tony's Place«, einem Restaurant, das Michael Moretti gehorte, wurde der Sieg gefeiert. Der Raum war mit Dutzenden von trinkenden und larmenden Mannern gefullt. Moretti sa? allein an der Bar und betrachtete Jennifer Parker im Fernsehen. Er hob das Glas, prostete ihr stumm zu und trank. Rechtsanwalte im ganzen Land diskutierten den Fall Jennifer Parker. Die eine Halfte von ihnen glaubte, sie sei von der Mafia bestochen worden, die andere meinte, da? sie unschuldig war und man sie hereingelegt hatte. Aber auf welcher Seite sie auch standen, alle stimmten in einem Punkt uberein: Jennifer Parkers kurze Karriere als Anwaltin war zu Ende. Sie hatte genau vier Stunden gedauert.
Jennifer stammte aus Kelso im nordlichen Bundesstaat Washington, einer kleinen Holzfallerstadt, die 1847 von einem heimwehkranken schottischen Landvermesser gegrundet und nach seiner Vaterstadt in Schottland benannt worden war. Jennifers Vater arbeitete als Anwalt, zuerst fur die Holzfabriken, die die Stadt beherrschten, spater fur die Arbeiter in den Sagemuhlen. Jennifers fruheste Kindheitserinnerungen waren von Licht und Freude erfullt. Fur ein Kind war der Staat Washington ein Bilderbuch aus hohen Bergen, Gletschern und Nationalparks.