das wesentlich anders sein wird als alles, was bisher war?

Da er jedoch keine Gedanken lesen konnte, sagte er statt dessen: „Hort mal, ihr beiden, ihr seid doch sicher Schuler?'

„Na klar, Schuler', gab der im Matrosenhemd zur Antwort.

„Und wie komme ich zur Na-klar-Schule?' fragte der junge Mann lachelnd.

„Zu welcher Schule?'

„Wenn ihr Na-klar-Schuler seid, besucht ihr hochstwahrscheinlich keine gewohnliche, sondern eine Na- klar-Schule.'

Waren die beiden Gedankenleser gewesen, hatten sie gewu?t, da? es keineswegs in der Absicht des jungen Mannes lag, sie zu verspotten. Er war einfach ein frohlicher Mensch, fur den alles ringsumher den Reiz von etwas Neuem besa? und der den Wunsch hatte, sich mit jemand zu unterhalten. Woruber, das war ihm einerlei.

Die Jungen waren jedoch keine Gedankenleser, und den im Matrosenhemd brachte schon das Wort „hochstwahrscheinlich' heftig auf.

„Wenn du so ein Schlauberger bist, wirst du sie auch ohne Hilfe finden', gab er barsch zuruck. 

Diese Antwort machte den Fremden unsicher. Er wurde bis uber beide Ohren rot, was fur einen Mann in seinem Alter vollig unpassend war.

„Sehr hoflich bist du aber nicht', sagte er, und ihm erging es wie den meisten schuchternen Menschen, die ihre Verlegenheit verbergen mochten. Seine Worte kamen patzig heraus, obwohl das gar nicht in seiner Absicht gelegen hatte.

Der im Matrosenhemd nahm es zur Kenntnis. Er schwieg.

Da ergriff der Fremde seinen Koffer, drehte sich ruckartig um und trabte weiter. „So eine Kuh, das Madchen', erklarte der andere Junge verachtlich, „richtig widerlich.'

„Der ist nicht besser', meinte sein Freund mit einem Blick auf den davoneilenden Fremden. „Hochstwahrscheinlich', setzte er bissig hinzu. „Ach komm, wir gehn.'

Die Jungen trollten sich auf dem Fahrdamm heim. Im Laufen klopften sie die gelblichen Erdflecken aus ihren Hosen. An der Ecke verabschiedeten sie sich. Der im Matrosenhemd rannte schrag uber die Stra?e, ohne auf die Pfutzen zu achten. Das Wasser spritzte ihm klatschend gegen die Schafte der Gummistiefel. Sein Freund verschwand in einer Seitenstra?e. Die Abendkuhle lie? ihn erschauern. Er begann zu hupfen. Schon wollte er, zu Hause angekommen, durch die Gartenpforte schlupfen, als sein Blick auf ein blaues Schreibheft fiel, das dicht neben dem Zaun lag. Er hob es auf. Das Papier war mit feuchter Erde beschmiert. Der Junge las den ersten Satz: „Auf einem Berg der Insel Azoris steht ein steinerner Reiter, der das Gesicht dem Meer zuwendet und mit der Hand nach Westen zeigt.'

II  Eine unerwartete Begegnung

Die Schule von Ust-Kamenskoje blieb den ganzen Juni uber geoffnet. Da? es keine Ferien gab, hatte naturlich seinen Grund. Selbst fur diese Gegend war der Winter au?ergewohnlich streng gewesen.

Im Januar hatte man Temperaturen bis zu minus sechzig Grad gemessen. Schwerer, bei?ender Nebel hing damals uber der Holzstadt. Nachts winselten die Hunde, kratzten bettelnd an den Turen, um in den Flur gelassen zu werden. Auf den Stra?en rissen die Drahte der Telefonleitungen und rollten sich neben den Masten zusammen. In den Morgenstunden erklang durchdringendes Geheul: Auf dem Flugplatz wurden die Motoren gewarmt. Der Himmel war wei? und schien vor Frost zu klirren. Kein Flugzeug wagte aufzusteigen. Nach einer Weile verstummten die Motoren wieder.

Was in diesem Winter an Unterricht gegeben wurde, war kaum der Rede wert: nicht einmal ein ganzer Monat. Um das Versaumte nachzuholen, mu?ten Jurka und Petka wahrend des Juni in die Schule gehen, noch dazu nachmittags. Das war besonders schmerzlich.

Gestern hatten sie geschwanzt, um bei der Ankunft des ersten Dampfers zugegen zu sein. Dimka war nicht mitgegangen. In solchen Dingen hat Dimka einen guten Riecher. Der sagt ihm genau, wann etwas glattgeht und wann nicht.

Im letzten, auch im vorletzten Jahr war Dimka mit von der Partie gewesen. Diesmal hatte er dem Vergnugen entsagt.

Und siehe da, in die Klasse war der Direktor getreten, um festzustellen, wer alles fehlte. Ob Dimka nun den Braten gerochen, ob und wie er von der drohenden Gefahr Wind bekommen hatte, vermochten Jurka und Petka naturlich nicht zu sagen. Auf jeden Fall beneideten sie ihren Freund, der kein schlechtes Gewissen zu haben brauchte, sondern frohlich ausschreiten konnte, wahrend ihre Beine immer schwerer wurden, je naher sie der Schule kamen. „Regt euch doch nicht kunstlich auf', suchte Dimka sie zu beruhigen, „es wird alles halb so schlimm.'

„Fur dich bestimmt', erwiderte Petka finster. „Wenn du uns wenigstens gewarnt hattest.'

„Aber ich habe doch selber nichts geahnt. Ehrenwort, das konnt ihr mir glauben.'

Jurka seufzte. Er dachte an die bevorstehenden Unannehmlichkeiten. „Dimka, du bist ein komischer Kauz. Bei dir wei? man nie, ob du schwindelst oder nicht.'

Dimka lachte.

Vier Stunden sa?en Jurka und Petka wie auf Kohlen, spitzten die Ohren und schielten zur Tur. Wenn jemand uber die knarrenden Korridordielen schritt, fuhren sie zusammen. Richtig unheimlich wurde ihnen in der darauffolgenden Pause. Die funfte Stunde sollte statt der Physiklehrerin, die sich in eine andere Stadt hatte versetzen lassen, der Direktor geben. Petka malte sich aus, wie es sein wurde, wenn er nach Hause kam. Mutter schneidet mit flinken Fingern das Brot, stellt einen Teller Fischsuppe vor ihn hin. Petka stochert mit dem Loffel im Essen herum. Dann fragt er, ob Mutter kein Wasser braucht. Er lauft zum Brunnen, die Eimer zu fullen, danach in einen Laden, um Zucker zu kaufen. Wenn das erledigt ist, nimmt er die Axt, geht in den Schuppen, spaltet Holz. Er hackt und hackt, bis sich ein Riesenstapel aufturmt. Weil Petka nichts sagt und plotzlich so flei?ig tut, wird die Mutter stutzig. Sie ahnt, da? mit der Schule etwas faul ist.

„Der Direktor mochte dich sprechen', bestellt Petka endlich.

Wie schnell sich Mutters Gesicht verandert! Bald guckt sie bose und sieht nun gar nicht mehr schon aus. Gleich wird es ein Donnerwetter geben. Wenn sich Mutter ausgeschimpft hat, beginnt sie zu weinen. Petkas Bruder aber, der kleine Senka, guckt sie erschrocken an.

In solchen Minuten wunscht sich Petka, da? ihm etwas Schreckliches zusto?en moge. Zum Beispiel: Er wurde sterben. Tot sein — ja, das war was! Nicht fur immer naturlich, nur ein bi?chen, fur zwei, drei Tage, und so, da? er alles hort und sieht. Dann wurden viele Menschen kommen, um ihn zu beweinen. Sie konnten sich nicht genug tun, was fur ein guter Junge er gewesen ist, welch ein Ungluck es sei, da? er so fruh habe sterben mussen. Vor allem wurden sie bedauern, da? sie zu seinen Lebzeiten nicht immer gerecht gewesen sind. Selbstverstandlich ware unter den Trauergasten auch Petkas Direktor zu finden. Er wurde wie alle anderen seine Schuld bekennen, offen, ungeschminkt. Reglos und stolz lage der aufgebahrte Tote vor den trauernden Hinterbliebenen. Dann aber kame der gro?e Augenblick, da Petka ins Reich der Lebenden zuruckkehren wurde buchstablich in letzter Minute. Das Gluck der Anwesenden ware grenzenlos. Sie vergossen Freudentranen.

Bisher waren Petkas Sterbewunsche freilich nie in Erfullung gegangen. Statt dessen ist es immer so gewesen: Wenn sich Mutter ausgeweint hatte, zog sie ein neues Kleid an und ging in die Schule, um zu horen, was der Bengel wieder angerichtet hatte.

Vermutlich wurde es auch diesmal so sein.

Gerauschvoll klappten die Deckel der Schulbanke. Im Nu waren die Schuler auf den Beinen, viel schneller als sonst, kaum da? die Tur aufging. Der Direktor verharrte wie gewohnlich eine Weile auf der Schwelle, wahrend ein alles umfassender Blick aus seinen scharfen schwarzen Augen die Gesichter uberflog. „Guten Tag', gru?te die Klasse, viel zu eintrachtig, viel zu laut. Der Direktor runzelte die Stirn. Ubertriebene und unechte Achtungsbezeigungen hatten ihn seit jeher aufgebracht. Da sie jedoch unvermeidlich schienen, fand er sich schlie?lich damit ab, ebenso mit der Tatsache, da? ihm die Schuler nie gerade in die Augen blickten. Es war, als

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