Einige Minuten feilschten sie noch, im Flusterton, damit Vater nicht wach wurde, dann gab Jurka klein bei. Er zog sich aus. Aber als Mutter fort war, stand er nochmals auf, holte unter der Aktentasche das blaue Heft hervor und sprang wieder ins Bett.
Die winzigen Buchstaben zu entziffern war nicht einfach, zumal der Besitzer des Heftes zahlreiche Worter durchgestrichen und die Verbesserungen darubergeschrieben hatte. Jurka las bereits den zweiten Tag, muhsam, ahnlich wie man ein Bilderratsel deutet, wahlte hier ein Wort aus, dort eins, bemuhte sich, die dazwischenliegenden Stellen zu erfassen, in den Sinn der tanzenden Schnorkel einzudringen, um schlie?lich alles zu einem Ganzen zu verbinden.
Bisher hatte er weder Dimka noch Petka von seinem Fund erzahlt. Erst wollte er den gesamten Text entratseln. Na, die beiden wurden Augen machen.
Wie mochte dieses Heft, in dem von so Geheimnisvollem und Unbekanntem die Rede war, nur vor das Haus gekommen sein, und wer hatte das alles aufgeschrieben? Jurka brannte darauf, zu erfahren, wo er das Land mit dem klingenden Namen suchen sollte. Atlantis — das klang anheimelnd und vertraut.
Aber Jurka ist nicht nur ein Traumer, sondern auch ein Neidhammel, eifersuchtig auf die Geier, die, wie es scheint, stundenlang ohne Flugelschlag dahin-schweben. Diese dummen Vogel! Ihnen ist es beschieden, hoch in die Lufte zu steigen. Doch was wissen sie von ihrem Gluck. In ferne Lander konnten sie fliegen, uber gro?e Stadte, Berge und Dschungel hinweg, um alles zu sehen, wovon Jurka nur in Buchern gelesen hat. Aber die Geier fliegen nicht fort. Sie kreisen immer uber dem gleichen Fleck, und selbst wenn sie eine Beute erspaht haben, sieht es aus, als glitten sie nur zogernd zur Erde.
Jurka beneidet auch die Kapitane auf den Lastkahnen mit den nach Teer riechenden Brettern. Schiffe sind nicht so schnell wie Vogel, aber sie ziehen in die Ferne. Dickbauchig, im Konvoi fahren sie durch die Flusse bis zum Meer. Die unrasierten, barfu?igen Kapitane trocknen auf den Dachern ihrer Kajuten die Nesselhemden. Auch sie scheinen nichts von ihrem Gluck zu ahnen.
Kurz, Jurka ist eifersuchtig auf jeden, der das Gluck hat, die Welt zu sehen, er beneidet alles, was da kriecht und fliegt, gleichgultig, ob es uber Schienenstrange poltert oder in eine Staubwolke gehullt durch die Stra?en rast. Er bewundert alle Helden und Reisenden. Was er um sich her erblickt, kommt ihm langweilig und gewohnlich vor.
„Ich bin schon fast dreizehn', hat er neulich zu seinem Vater gesagt, „aber aus Ust-Kamensk noch nicht rausgekommen.'
Da hat ihn der Vater ausgelacht. Jurka war beleidigt. Ach, es ist schon ein Kreuz. Nicht einmal der eigene Vater begreift, wie herrlich es ware, jeden Tag in einer anderen Stadt zu sein.
Als der Schlaf endlich kam, sah Jurka azurne Wellen und traumte von Hausern, durch deren Fenster die Fische schwammen.
Ja, das blaue Heft war in die richtigen Hande geraten.
IV
Wenn Jurka den Wunsch verspurt, mit offenen Augen zu traumen, geht er an den Flu?.
Stets braucht er jemand, der ihm zuhort. Aber zuzuhoren ist schrecklich schwer, weil jeder von sich erzahlen mochte. Kaum ist ein Satz zu Ende gesprochen, geht es los: „Ja, sehr schon. Aber ich, versteht ihr, ich mache das so...' Und obgleich Jurka ganz genau wei?, da? er jetzt etwas viel Wichtigeres zu sagen hatte als der andere, folgt er dem Gebot der Hoflichkeit und schweigt.
Weil er gern reden mochte, schwillt ihm die Zunge im Mund, doch er halt sich zuruck.
Was sind das fur langweilige Kerle, denkt er traurig, haben immer nur sich im Kopf. Wen interessiert schon ihr Geschwatz.
Da lobt er sich Pawel, den Hafenmeister.
Das ist ein eigenartiger Mensch. Manchmal gibt er sich furchtbar erwachsen und tut unnahbar, besonders wenn jemand in der Nahe ist. Dann wei? Jurka, da? Pawel alter wirken mochte, wie ja uberhaupt alle Menschen fur alter gehalten werden wollen, als sie tatsachlich sind, jedenfalls meint das Jurka. In seinem Zimmer an der Anlegestelle aber ist Pawel wie ausgewechselt. Dort zeigt er seinem kleinen Gast gefahrliche Judogriffe, oder er nimmt die Gitarre zur Hand und singt und spielt. Seine Lieder sind fur Jurka freilich noch ein wenig zu hoch. Sie handeln von Madchen, die am Ufer stehen und sehnsuchtig in die blaue Ferne schauen. Manchmal klingt es ganz traurig: „Doch von den drei Mannern kehrt keiner zuruck. Sie sanken in die Tiefe mit brechendem Blick...'
Aber Pawel kann auch zuhoren, und das ist die Hauptsache.
An jenem Tag nun, als Jurka zur Landungsstelle ging, stand ein Matrose am Gelander. Statt den Gru? des Jungen zu erwidern, brummte er nur: ,,Da bist du ja schon wieder.'
„Das stimmt', entgegnete Jurka.
„Wenn ich euch noch einmal hier unten beim Angeln
erwische, zerbreche ich eure Ruten und werfe sie ins Wasser. Ihr trampelt mir noch den Steg kaputt.'
„Ist Pawel Alexejewitsch zu Hause?' fragte Jurka trocken.
„Was willst du von ihm?' erwiderte der Matrose, sichtlich gelangweilt. „Er ist wohl dein Freund?' „Das wei? ich nicht genau', meinte Jurka.
„Aha', erklang es tiefsinnig und gedehnt aus dem Mund des Matrosen. „Wei?t du uberhaupt etwas?' Da wurde Jurka bose. „Also wo ist Pawel Alexejewitsch?' fragte er ungehalten.
„Beim Training.' Der Matrose nickte in die Richtung, wo die Tunguska flie?t, fugte jedoch schnell, als ware ihm plotzlich noch etwas eingefallen, hinzu: „Aber was verstehst du davon? Dumm geboren und nichts dazugelernt. Wozu gehst du uberhaupt in die Schule? Nur das eine schreib dir hinter die Ohren: Aus euren Angeln mache ich Kleinholz, ich sage das nicht zum Spa?. Von euch Rotznasen werde ich den Steg sauberhalten, so wahr ich kein Rotkopf bin.'
Jurka ma? die Entfernung bis zur Treppe mit den Augen. „Ein Rotkopf sind Sie nicht', sagte er, „das wei? ich, aber ein Glatzkopf.'
Der Matrose, der selbst bei Tisch die Mutze aufbehielt, erstarrte. Er verga? sogar den Mund zu schlie?en. Jurka hatte sich schon aus dem Staub gemacht. Das Herz drohte ihm zu stocken. Er empfand Angst und berauschte sich zugleich an seiner Kuhnheit. Der Matrose rief ihm etwas nach, Ausdrucke, wie sie ein Erwachsener nie in den Mund nehmen sollte, am allerwenigsten vor Kindern.
Jurka lief an den letzten Hausern der Siedlung vorbei. Am Hang standen wie Frauen in Bauerntracht die dreieckigen Gatter der Blinkanlage mit den runden Leuchtkopfen. Hoch oben zogen dicke, schwere Wolken uber den Flu?. Was sich im Wasser spiegelte, erinnerte an Turme, Kuppeln, menschliche Gestalten. Glichen diese Gebilde nicht dem Weichbild einer Stadt? Stand er nicht vor Atlantis?
Freilich dort lebten gro?e, dunkelhautige Menschen. Sie trugen wei?e Kleider, waren barenstark und sprachen mit wohlklingender Stimme. Im blauen Wasser schwammen sie von Insel zu Insel.
Die Wellen spulten rosige Muscheln aufs Land, die, wenn man sie ans Ohr hielt, rauschten, als sei in ihren Windungen die jahrtausendealte Musik des Meeres eingefangen.
Nachts trompeteten in den Waldern die Elefanten. Und es sangen die goldenen Garten des Herrschers. Auf den Marmorstufen standen lanzenbewehrte Wachter.
Ein wunderbares Land! Hier war alles vollkommen, dem Menschen Untertan und dienstbar.
Die Sonne sank dem Horizont entgegen. In den Fichten summte der fruhe Abendwind. Vom Ufer fort schwammen gekrauselte Silberstreifen um die Wette. Jurka kletterte den steinigen Hang nach oben, hockte sich nieder.
Auf dem Flu? platscherten Wellen. Der Wind wurde kraftiger. Er zerpeitschte die Schaumkronen und jagte wei?e Knauel gegen die Stromung. Hinter einer Biegung kam ein Einbaum hervor. Auf dem Boden des Bootes sa? mit ausgestreckten Beinen der Hafenmeister. Die Dienstmutze lag auf seinen Knien. Er lie? den Kahn am Ufer treiben, stie? ihn nur von Zeit zu Zeit mit dem Ruder ab. Dann steuerte er auf die Mitte des Flusses zu. Das Wasser klatschte gegen die dunne Wandung. Wo Jurka hockte, horte es sich an wie Schlage auf eine leere Tonne. Nun sah er auch deutlich, wie aufgewuhlt die Tunguska war. Der Einbaum verschwand in ihren Fluten. Jurka hatte den Eindruck, da? der Hafenmeister nicht in einem Boot, sondern auf dem Wasser sa?.