vor dem Hang angstlich haltgemacht. Dazwischen schimmerte in kurzen Streifen der Jenissej hindurch. Die Fenster des Klassenzimmers standen sperrangelweit offen. Der Flu? hallte wider vom Stohnen der Schiffssirenen. Dort trieben Lastkahne und Flo?e stromab. Langsam bahnten sich die Tanker durchs Wasser einen Weg. Raddampfer zerhammerten mit ihren Schaufeln das Spiegelbud der Wolken in viele kleine Splitter. Unaufhaltsam ging es weiter — in die Igarka, in die Dudinka, ins Meer.
Durch die Stra?en schlichen Hunde, trunken von der Hitze.
Ein ungewohnlicher Sommer hatte in Ust-Kamensk Einzug gehalten.
Petkas Platz war in der Fensterreihe. Die Sonne brannte ihm auf den Pelz. Aus weiter Ferne schlugen die Worte des Lehrers an sein Ohr. Viel deutlicher war das hohe, aufreizende Kreischen zu horen, das von der Sagemuhle heruberklang.
Vor Petka sa?en Dimka und Jurka Alenow. Jurkas Gesicht war nicht zu sehen, aber an der Art, wie er den Rucken krummte und zusammenfuhr, sobald der Lehrer die Stimme hob, erkannte Petka, da? sein Freund schmokerte. Jurka pre?te das Buch von unten her gegen die Bankplatte, so da? durch den Klappenspalt immer nur zwei, drei Zeilen zu sehen waren. Offenbar machte es ihm nichts aus, da? er nachher alles noch einmal zusammenhangend lesen mu?te. Bei Buchern hatte Jurka eine gluckliche Hand. Die er mitbrachte, waren immer interessant, selbst wenn sie zeilenweise gelesen wurden.
Petka seufzte. Er durchsuchte seine Taschen. Sie waren leer. Mutter hatte die Hose gestern gewaschen und vorher alles herausgenommen. Petka betrachtete die Decke. Wie glatt sie war. Wei? in wei?, ohne Risse. Langweilig.
Mit gewohnter Sicherheit streckte er die Hand aus, erwischte die Haarschleife seiner Nachbarin und zog daran. Jeder Griff sa?. Petka brauchte nicht einmal hinzuschauen. Die fruhere Lehrerin hatte Sonja neben ihn gesetzt, damit das Madchen einen gunstigen Einflu? auf ihn ausubte. Aber das war zuviel verlangt. Sonja hatte vor Petka Angst. Wortlos ruckte sie ab und ging daran, sich den Zopf wieder zu flechten. Wie gebannt hing ihr Blick an den Lippen des Lehrers.
Petka jammerte in sich hinein: Ist das langweilig! Schlie?lich hielt er es nicht mehr aus, richtete sich halb auf und blickte Jurka uber die Schulter. Was mochte der wohl lesen?
„Issajew!'
Naturlich, man brauchte nur den kleinen Finger zu ruhren, schon war man aufgefallen.
Die anderen wurden auch zur Ordnung gerufen, aber Petka konnte schworen: nicht halb so haufig wie er.
Au?erdem hatte er den Eindruck, da? Viktor Ni-kolajewitsch seinen Namen mit heimlicher Gehassigkeit aussprach: ,,I-ssa-jew', abgehackt, jede Silbe fur sich. Dafur rachte sich Petka, indem er stets einen gewollt rauhen Ton anschlug. Alles an dem neuen Lehrer war ihm zuwider, seine verstohlenen Blicke nach dem Heft mit den Unterrichts Vorbereitungen, das aufgeschlagen vor ihm lag, die Brille, die er immer dann aufsetzte, wenn er wutend war, seine Art zu sprechen: ubertrieben deutlich und gewahlt. Allerdings vermochte Petka nicht zu sagen, weshalb ihm der eine oder andere Zug an Viktor Nikolajewitsch mi?fiel. Er konnte ihn eben nicht leiden, das war alles.
Naturlich wu?te der Lehrer, woran er mit Petka war. Da er Offenheit uber alles schatzte, hatte er den aufsassigen Schuler am liebsten beiseite genommen und rundweg gefragt: „Hor mal, Issajew, was habe ich dir eigentlich getan?' Eine Aussprache schien um so dringlicher, als ihn die scheelen Blicke des Jungen bei der Arbeit storten. Jedoch war Viktor Nikolajewitsch uberzeugt, da? er nur wieder eine Grobheit horen wurde. Darum fragte er Petka gar nicht erst. Voll Neid dachte er an die alteren Lehrer, die mit derartigen Schwierigkeiten spielend fertig wurden. Bei ihm war alles wie verhext. Er bereitete sich au?erordentlich grundlich auf den Unterricht vor. Trotzdem rutschte ihm bisweilen ein falsches Wort heraus. Dann war er wie aus allen Wolken gefallen und brachte es nicht ubers Herz zu tun, als ware alles in bester Ordnung und als hatte er sich gar nicht geirrt. Es ist eben nicht einfach, keinen Fehler zu machen, wenn man von drei?ig Augenpaaren angeblickt wird. Und ein Schuler wie Issajew merkt alles. Jederzeit sich selbst in der Gewalt zu haben und gleichzeitig zu sehen, was in der Klasse vorgeht, ist eine Kunst, die Viktor Nikolajewitsch noch nicht beherrschte.
„Issajew', rief er zerstreut, weil er gerade an Petka gedacht hatte, aus keinem andern Grund.
Petka erhob sich. „Was ist denn mit Issajew?' fragte er beleidigt und herausfordernd zugleich. Aus seiner Stimme sprach eine Kriegserklarung, aber der Lehrer ging nicht darauf ein.
„Entschuldige, ich habe mich versprochen. Alenow, wiederhole, was ich soeben erklart habe.'
Jurka fuhr in die Hohe. Das Heft rutschte von seinen Knien und klatschte auf den Fu?boden.
„Sie haben erklart... Sie haben erklart, da? Sie sich soeben versprochen haben.'
Die Klasse war entzuckt. Einige krummten sich vor Vergnugen. Man lachte offen und grundlich, gar nicht mal, weil die Sache so lustig war, sondern einfach, weil sich endlich ein Grund gefunden hatte, frohlich zu sein. Sogar der Lehrer unterdruckte nur mit Muhe ein Lacheln. Seine Lippen zitterten bedrohlich, seine Augen wurden rund und heiter. Schlie?lich war es der letzte Tag vor den Ferien.
„Was hast du dort eigentlich unter der Bank, Alenow? Gib einmal her!'
„Ich? Wieso? Nichts.' Jurka schob das Heft mit dem Fu? zu Dimka.
„Polujanow, heb das auf und bring es vor.'
Dimkas Blicke gingen zwischen dem Lehrer und Jurka unentschlossen hin und her. Endlich hatte er sich entschieden und streckte die Hand nach dem Heft aus.
„Viktor Nikolajewitsch, Sie werden verstehen', flehte Jurka, „das kann ich Ihnen nicht zeigen, keinem Menschen. Ehrenwort.'
„Was ist es?'
„Ein Heft.'
„Gut', entschied der Lehrer, „ich werde dein Heft nicht lesen. Aber bis zum Ende der Stunden lassen wir es auf meinem Tisch liegen.'
Das wollte Jurka nicht. Er hatte Angst. Erwachsene sind schrecklich klug, aber unberechenbar. Sie verstehen sehr viel und auch sehr wenig. Mit einem Lacheln oder einem einzigen Wort konnen sie zerstoren, woran ein Kind mit ganzem Herzen hangt. Jurka verspurte keine Lust, der Aufforderung nachzukommen.
Dimka hatte sich jedoch schon gebuckt. Da kroch Petka unter die Bank, ri? das Heft an sich und steckte es in die Tasche. Das ging so schnell, da? der Lehrer nur einen fluchtigen Eindruck von etwas Blauem hatte, das auftauchte und wieder verschwand.
„Issajew, gib es her.'
„Das tue ich nicht.'
„Weshalb nicht?'
„Es gehort nicht mir.'
„Issajew!' Die Stimme des Lehrers klang ruhig, aber von seinem Gesicht war das Lacheln verschwunden. „Hor zu, Issajew. In dieser Klasse gibt es drei?ig Schuler. Wenn mir einer nicht gehorcht, denken die anderen, sie brauchen es auch nicht. Ich kann niemandem Sonderrechte einraumen. Du mu?t mir das Heft geben.'
„Als Sie noch zur Schule gingen — Sie hatten es hergegeben?'
„Ich hatte es getan. Und du mu?t es auch tun.' „Ich tue es aber nicht.'
„Und weshalb nicht?'
„Weil es nicht meins ist.'
Durch die Klasse ging verhaltenes Lachen. Der Lehrer lief rot an.
„Issajew, verla? den Raum.'
„Warum?'
„Hinaus. Sonst gehe ich.'
Sonst gehe ich. Diese Worte hatten den widerspenstigsten Schuler erweicht. Sie verfehlten ihre Wirkung auf Issajew.
„Aber weshalb blo??'
Die Klasse, die still geworden war, blickte erschrocken und ehrerbietig zu Petka auf. „Wenn du nicht unverzuglich den Raum verla?t', sagte der Lehrer langsam, „werde ich deinen Ausschlu? aus der Schule beantragen.'
Jetzt begriff auch Petka, da? er etwas zu weit gegangen war. Aber einfach klein beigeben? Nein, das war nicht nach seinem Geschmack. Er ging bis an die Tur, drehte sich um.
„Ich habe Ihnen nichts getan, und Sie haben kein Recht, mich anzuschreien', erklarte er, obwohl Viktor