Pawel ruderte bis ans andere Ufer, dann wendete er. Die Stellen, wo die Wogen am hochsten gingen, schienen es ihm besonders angetan zu haben. Als die Flu?mitte wieder erreicht war, horte er zu rudern auf, stellte den Einbaum quer und lie? sich stromab treiben, wobei er trage das ins Wasser getauchte Ruder bewegte. Jurka, der sah, wie die Wellen an der Bootswand hochschossen, bekam eine. Gansehaut. Ihn frostelte, wenn er sich vorstellte, da? einige Spritzer auf den im Einbaum sitzenden Pawel niederregneten. Etwa eine halbe Stunde spielte der Hafenmeister mit Wasser und Wind. Endlich legte er unterhalb des Platzes, wo Jurka sa?, an und kletterte heraus. Er zog seinen Tabaksbeutel hervor, stopfte sich eine Pfeife.
„Guten Tag, Pawel Alexejewitsch', gru?te Jurka leise.
Der Hafenmeister zuckte zusammen, lie? die Streichholzschachtel fallen und drehte sich mit schuldbewu?tem Lacheln um. Als er Jurka erkannte, legte sich sein Gesicht in finstere Falten. „Hast du was gesehen?' fragte er murrisch. Sein Stiefel trat gegen das Boot.
„Freilich', bestatigte Jurka. „Die Wellen sind heute wunderbar.'
Pawel warf ihm einen argwohnischen Blick zu, pustete die Backen auf, wobei er kraftig schnaubte, und hielt ein Streichholz an die Pfeife. Der Qualm machte ihm zu schaffen. Er zwinkerte, aber sein Tabak wollte nicht brennen, so wutend der Hafenmeister auch an dem Mundstuck zog. Eines stand fest: Pawel Alexejewitsch hatte keinen blassen Schimmer vom Rauchen.
„Was sitzt du da eigentlich rum?' brummte er ungnadig.
Jurka sprang auf die Fu?e und trat naher.
„Blo? so', sagte er. „Wei?t du, ich mochte mit dir reden. Atlantis. Kannst du mir etwas uber Atlantis verraten?'
„Atlantis?' wiederholte Pawel, dachte eine Weue nach und meinte: „Ich wette, das ist ein Nachschlagewerk uber den Atlantischen Ozean. Ein Buch fur den Steuermann. Dort sind alle Riffe verzeichnet und die Stromungen. Naturlich auch die Ephemeriden.'
„Ist das ein Land?'
„Ach wo, eine Tafel fur die Schiffahrt. Der tagliche Standort von Sonne, Mond und Planeten ist dort eingetragen. Klingt hubsch, der Name, nicht? Trotzdem findest du darauf nichts als Zahlen.'
„Nein, dann stimmt es nicht. Atlantis ist ein Land. Wei?t du, was fur eins? Pawel Alexejewitsch! Wenn du willst, beschreibe ich es dir. Ich habe bis jetzt mit niemand daruber gesprochen. Du bist der erste.'
,,Na, dann schie? los', willigte Pawel ein. Und Jurka erzahlte.
Nichts wurde vergessen von allem, was er in dem blauen Heft gelesen und selber hinzugesponnen hatte. Zum Schlu? schaute er Pawel an in der Erwartung, auf seinem Gesicht Erstaunen und Entzucken zu finden.
„Vielleicht ist es nur eine Geschichte', brummte der Hafenmeister.
„Wieso eine Geschichte!' emporte sich Jurka. Er schrie jetzt fast: „Das ist ein Land, sage ich dir, ein Land, in dem die Sonne fast nie untergeht.' „Spa?vogel. Bei uns in der Polarzone scheint die Sonne ein halbes Jahr lang, aber wo gibt's hier Palmen, frage ich dich?'
„Das war ja auch vor langer Zeit', meinte Jurka rechthaberisch. „Jetzt ist das Land im Meer versunken. Und wer sagt uberhaupt, da? es in der Nahe des Polarkreises gelegen hat?'
„In dem Heft steht das wohl nicht?'
„Eben nicht.'
„Wenn es man nicht doch in unserer Gegend gewesen ist.' Pawels Stimme klang belustigt, zugleich aber nachsichtig. Er war der Erwachsene.
Jurka pflegte in solchen Dingen nie zu scherzen. Er ubersah sogar das Lacheln, das um Pawels Lippen spielte. „Wei?t du was', rief er erfreut aus, „das habe ich auch schon gedacht. Warum soll es eigentlich nicht hier gewesen sein?'
Da? Jurka die Sache so ernst nahm, machte Pawel unsicher.
„Freilich', gab er unerwartet zu. „Pa? auf, was ich dir jetzt sage, Jurka. Fruher herrschte hier ein anderes Klima. Es gab auch Palmen und Mammuts. Das habe ich gelesen. Und vor noch langerer Zeit war hier Wasser. Wo wir beide in diesem Augenblick stehen, befand sich ein Meer. Sogar ein Ozean war das, na, und in einem Ozean gibt es naturlich auch Inseln. Und wei?t du, wer diese Inseln bevolkerte? Affen — das hei?t nur am Anfang', verbesserte er sich schnell, da er bemerkte, da? Jurka mi?trauisch aufschaute. „Spater kam dann der Mensch. Wie ich gehort habe, hat man in der Tundra, irgendwo im ewigen Frostboden, eine ganze Siedlung gefunden, und im Eis wurde ein Mensch entdeckt, der war eingefroren und viele tausend Jahre alt.'
„Ja, und der Sto?zahn — wei?t du, in unserer Stadt haben sie doch einen Sto?zahn gefunden', flocht Jurka schnell ein. „Dann diese Elfenbeinfigur, wo blo? der Kopf abgebrochen war.'
„Ich erinnere mich', bestatigte Pawel, der fuhlte, da? es schon nicht mehr moglich war, das Gesprach ins Scherzhafte zu wenden. Auch konnte er nicht einfach schweigen. Er hatte Jurka todlich beleidigt und erzahlte deshalb munter weiter.
Da erstanden Pompeji und Herkulanum aus ihrer Asche. Vom Boden der Meere erhoben sich die schwerbeladenen spanischen Karavellen. Die Anden schuttelten den Staub der Ruinen ab; peruanische Inkastadte erwachten zu neuem Leben.
Pawel bestritt das Gesprach nicht allein. Vieles hatte er vergessen. Doch wenn er nicht weiter wu?te, half Jurka, der sich gleichfalls an mancherlei erinnerte, was er gehort oder gelesen hatte. Zu der Weisheit, die aus Buchern und Vortragen stammte, traten Bruchstucke aus eigenen Traumen. So stellte sich die Vergangenheit in nie dagewesener Schonheit dar. Die Phantasie malte sie in buntschillernden Farben, als eine unvergangliche Welt aus Gold und Marmor. Aber es war, wie es bei den beiden meistens zu sein pflegte. Sie hatten sich noch langst nicht alles von der Seele geredet, als der Abend anbrach.
„Lauf nach Hause', mahnte Pawel, „sonst setzt es was. Und fur mich ist es auch Zeit.'
„Es setzt nichts', widersprach Jurka. „Bei uns wird nicht geschlagen. Meine Eltern erziehen mich durch Worte. Das ist aber noch schlimmer. Wenn man seine Prugel weghat, ist alles vergessen. Worte sind schrecklich.'
„Ja, das ist wahr', gab Pawel zu. „Mit Worten kannst du einen Menschen sonstwohin treiben. Verrate keinem, da? du mich hier getroffen hast, horst du.'
„Ach wo, uns verstehen sie sowieso nicht', entgegnete Jurka hitzig. „Was wissen die, wie schon es ist zu traumen.'
„Da hast du recht', sagte Pawel und seufzte, „fur so was haben sie kein Verstandnis. Drei Gesuche habe ich schon geschrieben. Aber denkst du, ich komme weg?'
Es war kein Geheimnis, da? Pawel davon traumte, die Welt kennenzulernen. Die Tabakspfeife, das „Handbuch fur den Steuermann in der Barentssee', das er auswendig herbeten konnte, und der kleine, auf den Unterarm tatowierte Anker qualifizierten ihn freilich noch nicht zum Seemann. Aber er litt an einer unbandigen Sehnsucht nach dem Meer.
Samtliche Gesuche, die er an die Verwaltung gerichtet hatte, waren mit abschlagigem Bescheid zuruckgekommen. Pawel fuhlte sich vor den Kopf gesto?en, wurde indes nicht mude, immer wieder neue Antrage zu schreiben.
Wenn die Matrosen sahen, wie er in der Nahe des Hafens gegen die Wellen kampfte, um sich abzuharten und nicht mehr seekrank zu werden, lachten sie uber ihn. Er blieb unverdrossen, wartete nur bis zum nachsten Sturm, um sich erneut in die Wogen zu sturzen.
„Also kein Wort, da? du mich gesehen hast.'
„Ich bin stumm wie ein Fisch.'
„Dann la? dir's gut gehn. Und wenn du wieder zum Hafen kommst, vergi? die Angel nicht. Ich werde dafur sorgen, da? sie dich in Ruhe lassen', rief Pawel, schon vom Flu? her.
„In Ordnung', schrie Jurka zuruck. Er mu?te an den Matrosen von vorhin denken und lachelte. Nein, das Tor zum Angelplatz war jetzt zugeschlagen. Jurka schritt am Ufer entlang und pfiff vor sich hin. Die Sonne hatte sich hinter dem Horizont verkrochen. Uber der Stelle, wo sie versunken war, hingen glutrote Wolken.
V
Oberhalb des Ufers drangten sich die Hauser, als waren sie von weither gelaufen gekommen und hatten