Nikolajewitsch nicht daran gedacht hatte zu schreien. Im Gegenteil, seine Stimme hatte unnaturlich ruhig geklungen.
Petka schlo? die Tur hinter sich. Der Lehrer horte, wie er sich entfernte und dabei absichtlich laut mit den Absatzen knallte.
„Polujanow, lauf bitte hinter Issajew her. Sage ihm, da? wir beide nach der Stunde zum Direktor gehen.'
Dimka flog aus der Klasse. Die ubrigen Schuler sa?en mit gespitzten Ohren. Sie starrten den Lehrer an. Was wurde jetzt geschehen? Es geschah nichts, nur da? die Hand mit der Kreide ein wenig zitterte. So wurde die Linie, die Viktor Nikolajewitsch an der Tafel zog, nicht gerade, sondern krumm. Er wischte sie wieder fort, zog eine neue Linie, wischte auch diese aus und unternahm einen dritten Versuch. Nun war endlich alles in Ordnung.
„Wir waren also bei der Feststellung stehengeblieben, auf jedem Menschen laste eine Luftsaule von „Soso, darauf pfeifst du', wiederholte der Direktor gedehnt und hart, „nun gut.'
Er nahm ein Blatt Papier sowie einen Bleistift und legte beides auf den Tisch. „Setz dich. Schreib.'
„Was soll ich schreiben?' fragte Petka verdutzt. „Folgendes: Ich habe keine Lust, ein Angehoriger der Intelligenz zu werden.'
Petka wurde unruhig. Ob ihm das noch eine Sonderstrafe einbringen konnte?
„Schreib!'
Mit widerstreitenden Gefuhlen ergriff der Junge den Bleistift, setzte sich auf den Rand des Stuhls und kam der Aufforderung des Direktors nach. „Ich habe keine Lust, ein Angehoriger der In...' An dieser Stelle stutzte er, dachte ein wenig nach, schuttelte den Kopf und schrieb entschlossen: „.. .tilegenz zu werden.'
„In Ordnung', meinte der Direktor. „Aber ein gebildeter Mensch, einfach ein gebildeter, mochtest du wohl auch nicht werden? In einem Wort drei Fehler!'
Petka war aufrichtig entsetzt. Er verga? sogar, da? er den Direktor vor sich hatte.
„Drei, Piaton Jakowlewitsch, das ist doch ein Witz?'
Der Direktor lachte. Er bemerkte Petkas Verwirrung, wollte sich jedoch nicht daran weiden.
„Geh jetzt, Issajew. Das nachste Mal denke daran: Ehe man etwas niederschreibt, strengt man seinen Kopf an. Erst denken, dann handeln. Und vergi? nicht, da? unser heutiges Gesprach das letzte ist. Hast du mich verstanden?'
„Ja', erwiderte Petka. An der Tur blieb er stehen. Da ihm dammerte, da? die Angelegenheit offenbar keine Folgen nach sich ziehen werde, fragte er hoffnungsvoll, schon halb im Scherz: „Mu? ich meiner Mutter Bescheid sagen, da? sie herkommen soll?' „Verschwinde!' fauchte der Direktor und schlug mit der Faust auf den Tisch, Petka sturmte begluckt hinaus.
„Das war mal wieder ganz Issajew', erklarte Platon Jakowlewitsch, wahrend er auf das Gerausch der sich entfernenden Schritte lauschte. „Haben Sie gesehen? Schreit man ihn an, grinst er. Tut er einem leid, fuhlt er sich vor den Kopf gesto?en. Sein Vater ist beim Holzflo?en umgekommen. Die Mutter hat den ganzen Tag zu tun. Dann ist noch ein kleiner Bruder da. Petka spielt den Herrn im Hause. Arbeit gibt es genug. Er holt Holz aus der Taiga, wascht ab, bisweilen kocht er auch das Mittagessen. Dabei ist er noch ein Kind. Wenn es ihm zu langweilig wird, rennt er aus dem Haus und vollfuhrt alle moglichen Streiche, schreit herum, wirft den Leuten Frechheiten an den Kopf. In ihren Augen ist er ein Rowdy. Er kann machen, was er will, immer bekommt er das gleiche zu horen: ,Du bist ein Rowdy.' Das hat man ihm so lange eingetrichtert, bis er es schlie?lich selber glaubte. Jetzt beweist er den Leuten, da? sie recht haben. Letztes Jahr hat er sich mit einem Flo? bis kurz vor die Igarka treiben lassen. Wissen Sie, warum? Weil die Mutter ihn beleidigt hatte. Er wollte auf eigenen Fu?en stehen und sich seinen Lebensunterhalt selbst verdienen. Meiner Ansicht nach hat er ein zu stark ausgepragtes Wurdegefuhl. Er ist bereit, sich mit der ganzen Welt zu prugeln. Haben Sie noch nicht gemerkt, wie Sie ihn am empfindlichsten treffen konnen? Indem Sie Ihre Uberlegenheit hervorkehren, ihn von oben herab behandeln. Wir Erwachsenen scheuen uns, mit Kindern als mit unseresgleichen umzugehen. Wir haben ein Recht darauf, stolz und selbstsicher aufzutreten, zu lieben, zu hassen. Und sie sollten dieses Recht nicht haben? Aber sie denken und fuhlen wie wir, nur ihr Wissen reicht an das der Erwachsenen nicht heran. Dafur duldet ihr Ehrgefuhl keinen Kompromi?. Was ihnen mi?fallt, lehnen sie bedingungslos ab. Sie bauen an ihrer eigenen Welt. Fur Spott gibt es dort keinen Platz. Um von den Kindern als ihresgleichen angesehen zu werden, mu? man ein einfacher und aufrichtiger Mensch sein. Betrug konnen sie nicht vertragen. Ich beurteile mein Verhalten immer danach, wie sie mir entgegentreten, und ich wurde mich glucklich schatzen, wenn mich einer von meinen Schulern aufforderte, mit ihnen Fu?ball zu spielen. Dieser Issajew ist stets im Unrecht, aber eine au?erordentlich ehrliche Haut. Viktor Nikolajewitsch, Sie sind noch sehr jung. Ich wei?, Issajew wirkt manchmal unausstehlich. Doch jetzt etwas anderes. Ich verstehe, da? Sie im Augenblick noch schwer zu kampfen haben. Ihnen zu helfen, gehort zu meinen Pflichten. Ich kann Ihnen nur den einen, sehr wichtigen Rat geben: Verhalten Sie sich jederzeit so, da? Sie von Ihren Schulern zum Fu?ballspielen eingeladen werden. Entschuldigen Sie, das soll keine Belehrung sein, aber ich verstehe Sie. Mir ist es genauso ergangen.'
„Ich mochte fur alle stets nur das Beste', erwiderte Viktor Nikolajewitsch, nachdem er eine Weile uberlegt hatte, „nur — sie begreifen es nicht. Sagen Sie, Platon Jakowlewitsch, bleibt das lange so?'
Der Direktor verzog das Gesicht. Er war derma?en gro? und schwer, da? im Takt seines Lachens der Tisch und die daraufstehende Lampe erzitterten und die violette Tinte im Fa?chen kleine Wellen schlug. Erst jetzt glaubte Viktor Nikolajewitsch, da? der Direktor ihn tatsachlich nicht hatte belehren wollen.
Petka war wie ein Pfeil den Korridor entlang und durch die Tur gesaust. Als er auf der Stra?e stand, wurde ihm bewu?t, da? die Ferien begonnen hatten.
Jurka und Dimka nahmen ihn in Empfang. „Bist du rausgeflogen?'
„Ach was. Wir haben uns ein bi?chen unterhalten. Uber das Heft.'
„Petka', versprach Jurka geruhrt, „du kriegst zwein Sechzehn-Millimeter-Patronen von mir. Du hast mich doch darum gebeten. Erinnerst du dich?'
„Was steht eigentlich in deinem Heft?'
Jurka dachte einige Sekunden nach.
„Gut', willigte er dann ein, „ich habe es noch keinem gezeigt. Ihr sollt Bescheid wissen. Vorwarts, zum Flu?.'
Aufgeregt und ausgelassen tollten sie durch die Stra?e, dann weiter am Ufer entlang. Im Bogen flogen die Buchertaschen die Boschung nach unten, sie selber sausten in einer Staubwolke hinterher. Jetzt waren sie keine Schuler mehr. Vor ihnen lag der Sommer.
VI
„Im Norden von Atlantis gab es machtige Berge. Lange nachdem die Sonne dahinter versunken war, leuchteten ihre Gipfel noch in rotlichem Licht, als seien sie gluhend, und erloschen nur allmahlich. Aber das Gebirge schien dem Land zu drohen. Die Menschen furchteten sich vor den Bergen, weil sie schweigend und leblos vor ihnen standen. Nur diejenigen, fur die unten kein Platz mehr war, wagten sich hinauf, beispielsweise zum Tode Verurteilte, wenn es ihnen gelang zu fliehen. Einst entkamen zwanzig Sklaven, die der Sonne geopfert werden sollten. Fur die Burger von Atlantis war die Sonne ein unersattlicher Gott und der Mond sein Bruder. Jene zwanzig Sklaven aber hatten wenig Lust, zu Ehren der fremden Gotter zu sterben. In der Nacht erdrosselten sie ihre beiden Posten und flohen ins Gebirge.
Sie liefen, bis der Morgen graute, hoher und hoher. Als die Sonne aufging, sahen die Atlantisburger nur noch zwanzig schwarze Punkte, die an den Felsen zu kleben schienen. Spater tauchten die Fluchtlinge im Schnee der Berge auf, ganz winzig schon. Dann verschwanden sie vollends. Keiner nahm die Verfolgung auf, denn es war bekannt, da? von dort niemand zuruckkehrte.
Zu Ehren der Sonne aber mu?ten zwanzig andere Menschen sterben.
In diesem wunderschonen und reichen Land gab es viele Sklaven. Zahlreich war die Nachkommenschaft der ersten Generationen, die den Atlantisburgern gedient hatten. Manche von denen, die als Sklaven geboren wurden, ahnten nichts von ihrem Schicksal, bis sie herangewachsen waren und ihr Rucken das Brandmal erhielt. Von diesem Zeitpunkt an mu?ten sie arbeiten wie alle anderen.