sauberen, bedruckten Kleider nicht zu verschmutzen, und gingen um den Laster herum, um Karen beim Aussteigen zu helfen. Bert Miller war schon zwanzig oder dreißig Schritte voraus auf das Farmhaus der Dorsays zugegangen. Niemand stand vor dem Eingang, woraus er schloß, daß die Zeremonie schon angefangen hatte. Bert zurrte seine Krawatte zurecht und versuchte im Weitergehen, mit der Handfläche eine widerspenstige Locke zu glätten. Karen machte, unterstützt von ihren Schwestern, einen zaghaften, ungeschickten Schritt vom Trittbrett, lichtete sich dann auf und strich sich den Umstandskittel über dem Bauch glatt. Sie fühlte sich beschämt und entwürdigt und wußte, daß alle Anwesenden im Dorsay-Haus erkennen würden, daß sie schwanger war, ohne verheiratet zu sein. »Ich wollte nicht mitkommen«, sagte sie. »Sie werden sich alle das Maul verreißen.«
»Früher oder später wirst du's ohnehin durchstehen müssen«, erwiderte Ann. »Wenn nicht jetzt, dann wenn das Baby...« Sie verstummte, als sie sah, daß ihr Vater sie verärgert anschaute, weil er auf sie wartete. Er war an der Haustüre stehengeblieben, damit sie zusammen als Familie hineingehen konnten.
Im Näherkommen konnten die Mädchen Leute drinnen weinen hören. Bert Miller öffnete die Tür und trat ein. Seine Töchter folgten ihm.
Der Wohnraum war vollgestopft mit Menschen, einige hatten sich auf Sofas und Stühle gequetscht, die übrigen standen. Der Sarg ruhte an der gegenüberliegenden Wand auf etwas, das aussah wie ein niedriger Tisch oder auch wie zwei Sägeböcke mit Brettern, über die ein weißes Laken gebreitet und Blumen gestreut worden waren. In dem Sarg lag die Leiche eines neunjährigen Mädchens, der jüngsten Dorsay-Tochter. Sie war an rheumatischem Fieber gestorben.
Ein Rumoren ging durch die Versammlung, als die Familie Miller das Zimmer betrat, eine verlegene Unruhe, die daher rührte, daß ein Gebet begonnen hatte und niemand wußte, ob man es unterbrechen sollte, um die Verspäteten zu begrüßen.
Und zudem sah man, daß Karen eindeutig schwanger war. Auf der anderen Seite neben dem Sarg fuhr Reverend Michaels fort, in seinem Gebetbuch zu blättern, als sei er sich der Störung nicht bewußt. Die Eltern des toten Kindes standen neben dem Reverend und starrten hilflos und mit verständnisloser Trauer in den kleinen Sarg. Reverend Michaels hatte das geeignete Gebet gefunden, wandte sich an die versammelte Trauergemeinde und gewahrte jetzt, daß Bert Miller mit seinen drei Töchtern angekommen war. »Bitte setzen Sie sich oder bleiben Sie still stehen«, ermahnte er sie. »Der Gottesdienst beginnt jetzt.« Er schaute Bert Miller scharf an, um ihm zu zeigen, daß seine Verspätung bemerkt worden war, und fixierte dann seinen mißbilligenden Blick auf Karen, sah ihr in die Augen, bis sie voller Scham und Verlegenheit den Kopf senkte. Mr. und Mrs. Dorsay starrten die ganze Zeit in den Sarg, unsicher, was sie sagen oder wie sie sich verhalten sollten, und im Grunde auch unfähig, sich um die Formalitäten des Gottesdienstes zu scheren. Der Kummer über den Tod ihrer kleinen Tochter war zu überwältigend.
»Ich bitte euch alle und jeden einzelnen von euch, mit mir zu beten«, forderte Reverend Michaels die Anwesenden auf. Er machte eine kleine Pause und begann dann das Beerdigungsgebet, das jeder der Trauergemeinde auswendig können sollte:
»Möge ihre Seele in Frieden ruhen. Möge ihre Seele den Leib verlassen. Möge der Leib zurückbleiben.
Möge der Leib zu Staub werden, wie der Herr es befahl. Möge der Leib nie wieder erstehen.
Möge ihre Seele in den Himmel kommen, möge alles andere zu Staub zerfallen.«
Während des Gebets rückten einige der sitzenden Trauergäste zusammen, um für Karen Platz zu machen. Ihr Vater und ihre Schwestern blieben indessen am hinteren Ende des Zimmers
stehen.
Nachdem das Gebet beendet war, klappte Reverend Michaels sein Gebetbuch wieder zu. Die Trauergemeinde verhielt sich außerordentlich still und ruhig. Es war nicht das geringste Rumoren oder Rascheln zu vernehmen, das sonst oft entsteht, wenn ein gemeinsames Gebet abgeschlossen ist. Außer leisem Schluchzen war nichts zu hören.
Reverend Michaels ließ seinen Blick durchs Zimmer schweifen, als erwarte er etwas, das er nicht zu erbitten hätte. Der Gottesdienst war eindeutig noch nicht zu Ende. Die Eltern des toten Kindes standen noch immer Arm in Arm neben dem offenen Sarg. Die Mutter schluchzte leise, der Vater zeigte seinen Kummer geräuschlos mit traurigem Blick. Neben Kummer und Trauer in dem Zimmer wurde plötzlich eine unterschwellige Spannung spürbar. Der Reverend schaute noch immer zum rückwärtigen Teil des Raumes. Augenpaare, die bislang auf die trauernden Eltern gerichtet waren, wandten sich eines nach dem anderen zur Türe. Nach einer Weile verstummte auch das Schluchzen der Mutter. Sie hob den Kopf und folgte dem Blick ihres Mannes über die Köpfe der versammelten Trauergemeinde hinweg. Das Weinen hatte aufgehört, und alle schienen die Luft anzuhalten. Es herrschte absolute Stille, als würden die Dutzende von Augenpaaren etwas geschehen lassen wollen. Ein Mann in der hintersten Ecke des Zimmer erhob sich, und sämtliche Augen starrten auf das, was er in den Händen hielt.
Der Mann war groß und schlank und mit einem abgetragenen, braunen Anzug angetan. Er kam aus der hinteren Ecke des Raumes und ging durch die Gasse, welche die Trauergäste für ihn gebildet hatten. Aller Blicke waren auf den großen Holzhammer geheftet, den er in der Hand hielt. Langsam durchquerte er das Zimmer, wobei er den Vater des toten Kindes nicht aus den Augen ließ. Er trat neben den Sarg und reichte Mr. Dorsay den Hammer. Gleichzeitig legte Reverend Michaels dem trauernden Vater die linke Hand auf die
Schulter und holte mit der rechten einen langen Bolzen hervor, wie man sie beim Bau von Eisenbahnschienen verwendete. Der Reverend reichte Mr. Dorsay den Bolzen. Die Gesichter der Trauergäste waren angespannt und erwartungsvoll auf den Sarg gerichtet. Außer einem rastlosen Scharren einiger weniger ungeduldiger Füße herrschte absolute Stille. Das Dämmerlicht im Zimmer schien die Stille noch zu unterstreichen.
Unter den wachsamen Augen der versammelten Trauergemeinde setzte Mr. Dorsay den langen Bolzen auf die Stirn seines toten Kindes. Dann hämmerte der Vater mit dem hallenden Geräusch von Holz auf Metall den Stift tief in den Schädel seiner Tochter.
Tränen rannen über das stille, ausdruckslose Gesicht des Mannes.
Mrs. Dorsay schrie auf, unfähig, ihre Kontrolle zu bewahren, und fuhr fort, in den Armen mehrerer Frauen, die hinzugeeilt waren, um sie zu trösten, verzweifelt zu schluchzen. Plötzlich flog die Eingangstüre auf und donnerte krachend gegen die Wand. Ein kleiner Junge stand auf der Schwelle, aufgeregt und außer Atem. Sein Blick fand Reverend Michaels als das Symbol der Autorität. »Er ist abgestürzt!« schrie er. »Der Bus! Er hat sich überschlagen! Ich war ganz in der Nähe! Er ist in den Abgrund gestürzt! Sie sind alle tot... glaube ich!« Die versammelten Trauergäste schrien alle gleichzeitig durcheinander. Ein Mann packte den Jungen bei den Schultern und schüttelte ihn, um mehr zu erfahren. »Wo ist es passiert? Wann?« brüllte er.
»An der Kreuzung. Vor ein paar Minuten. Der Bus geriet ins Schleudern und stürzte die Böschung hinunter«, erklärte der Junge atemlos.
Reverend Michaels machte ein strenges Gesicht. Er brüllte um Ruhe in der Versammlung. Die Trauergäste wandten sich ihm zu und erwarteten seine Anweisungen. Sie brauchten die Autorität seiner Stimme, auch wenn sie alle längst wußten, was er ihnen sagen würde. Wenn es Leichen bei dem Unfall gegeben hatte, und wenn andere ihren Verletzungen später erliegen würden, mußten ihnen die Bolzen in den Schädel getrieben werden, um sicherzugehen, daß der Frieden des Todes endgültig und vollständig sei, wie Gott, der Herr, es befohlen hatte.
»Ihr wißt alle, was zu tun ist«, verkündete Reverend Michaels feierlich. »Aber wir müssen uns beeilen. Es bleibt nicht viel Zeit.«
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