daß McClellan einen anderen als Fahrer gewählt hätte, so war er klug genug, dies nicht zu erwähnen.
Mit aufblitzender Alarmleuchte und heulenden Sirenen näherten sie sich dem Unfallort, den sie in etwa zehn Minuten nach ihrer Abfahrt aus dem Polizeipräsidium erreichen
würden.
Der Bus war, nachdem er die steile Steigung der Landstraße überwunden und die abfallende Seite erreicht hatte, von der Fahrbahn geraten. Eine Polizeisperre war der Straße entlang errichtet worden. Ein Polizist dirigierte die Rettungsfahrzeuge zur Unfallstelle und winkte den übrigen Verkehr weiter. Glücklicherweise herrschte auf dieser ländlichen Route nur selten viel Verkehr, und falls es Überlebende gab, konnten sie schnell in ein Krankenhaus transportiert werden. Der Polizist ließ McClellans Wagen passieren, und Greene lenkte ihn behutsam über die Stelle, von wo aus sie die kurvenreiche Strecke oberhalb der Kreuzung bei der Brücke über den Fluß und dem Zusammentreffen von drei Landstraßen etwa zweihundert Meter weit überblicken konnten. Es gab keinerlei Hinweise darauf, warum der Bus außer Kontrolle geraten war. Möglicherweise war er von einem Fahrzeug, das, nachdem der Bus sich überschlagen hatte, seinen Weg fortgesetzt hatte, zum Ausweichen gezwungen worden.
Greene steuerte den Wagen an den Straßenrand, ließ die Alarmanlage weiterblinken, und er und der Sheriff stiegen aus. Sie waren bei weitem nicht zu spät eingetroffen. Im Gegenteil: Sie schienen unter den ersten zu sein, die den Unfallort erreicht hatten, was für Greene nicht besonders tröstlich war. Noch ein weiterer Streifenwagen war zur Stelle, so weit wie möglich von der Fahrbahn geparkt, die Alarmleuchte ebenfalls eingeschaltet. McClellan vermutete, daß der Polizist, der den Verkehr lenkte, mit diesem Wagen hergekommen war. McClellan schaute die Böschung hinunter zu dem abgestürzten Bus, doch er konnte niemanden sehen, der sich auf dem Weg dorthin befand. Aus der Entfernung war der Bus nicht sehr deutlich auszumachen; sein fataler Sturz hatte in einem dichten Gehölz geendet, das nun das Ausmaß der Katastrophe weitgehend verbarg.
McClellan machte Greene ein Zeichen, er solle mitkommen, und begann, sich einen Weg den Abhang hinunter zu dem
Unglücksbus zu bahnen. Sie sahen Rauch aus dem Gehölz aufsteigen, doch es war eindeutig nicht genug Rauch, um auf ein großes Feuer hinzudeuten. Aber dennoch machte McClellan sich keine große Hoffnung, eine größere Zahl von Überlebenden oder Unverletzten vorzufinden. Falls es welche gab, so sagte er sich, wäre ihr erster Impuls gewesen, aus dem Gehölz zu kriechen und Hilfe zu holen. Da niemand zu sehen war, war vermutlich niemand dazu imstande. Doch andererseits bemerkte er, daß das Gras niedergetrampelt war, und an verschiedenen Stellen waren Fußabdrücke im morastigen Boden zu erkennen, als habe sich aus unerfindlichen Gründen eine größere Anzahl von Leuten den Weg
zu dem Wrack gebahnt. McClellan fand dafür keine Erklärung. Wenn Leute dort hinuntergegangen waren, wer waren sie und wo waren sie geblieben?
Die sauber gewaschenen und sorgfältig gebügelten Kleider von Ann und Sue Ellen waren inzwischen zerschlissen, verdreckt und mit Blut besudelt. Sue Ellen stolperte, die Beine des toten Mannes, den sie zu tragen half, entglitten ihr, und sie schlug mit dem Gesicht gegen die Schuhe des Toten. Ein Schluchzen drang aus ihrer Kehle. Bert Miller hatte kein Wort des Mitgefühls oder der Ermutigung für sie. Sein strenger, zorniger Blick hieß seine Tochter aufstehen und weitermachen. Sue Ellen rappelte sich wieder hoch, packte die Beine der Leiche und machte weiter. Ihr Vater hielt die Leiche an den Armen und auch er war außer Atem. Aber er mußte weitermachen. Und sie ebenfalls. Bert wollte, daß seine Töchter lernten, wie hart das Leben war, daß es Pflichten gab, die erfüllt werden mußten, und daß Leute mit der richtigen moralischen Einstellung taten, was getan werden mußte, ohne zu klagen und ohne je auf Erden dafür Belohnung zu erwarten. Er hatte Ann und Sue Ellen die Wahl gelassen, ob sie lieber Leichen tragen oder Bolzen nageln wollten. Sie hatten sich aus ihrem eigenen, freien Willen entschieden, die Leichen tragen zu helfen. Also mußten sie es auch tun. Und sie mußten es schnell erledigen. Ehe die Autoritäten ankamen und sie daran hinderten. Die Autoritäten gaben nicht mehr gern zu, daß es notwendig war, die Toten zu pfählen, auch wenn es vor gar nicht langer Zeit noch absolut notwendig gewesen war. Sue Ellen und ihr Vater schafften den toten Mann in eine Lichtung im Wald, wo schon andere Leichen hingebracht worden waren. Dort legten sie den Mann nieder, und das Mädchen wandte sich ab, als dessen Kopf zur Seite kippte und das Loch im Schädel sichtbar wurde, das fast bis zum Nacken reichte. Sue Ellen verdeckte ihre Augen mit den Händen und erinnerte sich zu spät daran, daß sie voller Blut waren. Sie zog sie zurück, doch sie hinterließen auf jeder Wange einen frischen Blutfleck. Sie begann zu weinen. Sie konnte das Keuchen ihres Vaters hören, der einen Augenblick ausruhte und beobachtete, wie Ann die Leiche eines dreijährigen Kindes durch das Gras in die Lichtung schleppte. Ein großer Holzsplitter von einem abgerissenen Ast steckte in seiner Brust; sein Mund war geöffnet und seine Zähne von geronnenem Blut verkrustet. Bert Miller hatte Ann die Kinderleiche alleine tragen lassen, während er den toten Mann, eine weit schwerere Bürde, mit Sue Ellen übernommen hatte. Der Mann und das Kind waren die letzten Leichen, die aus dem Buswrack in die Lichtung geschafft werden mußten. Dort hatten andere schon damit begonnen, die Bolzen einzurammen.
Ann und Sue Ellen ließen sich keuchend, einem Schock nahe, auf den Boden fallen. Sie schauten einander nicht an, weil jede die andere an die grauenvolle Erfahrung erinnerte, die sie gerade durchgestanden hatten. Jede fühlte sich allein, jenseits allen Verstehens verängstigt, und sie wären am liebsten davongerannt, um vor dem Anblick, der sich ihnen in der Lichtung bot, zu entfliehen, ein Anblick, der sie mit solcher Abscheu erfüllte, daß sie die Augen davor verschlossen. Aber sie konnten es hören, das Krachen von Holz auf Metall, das Splittern toter Schädel, das Keuchen und Rufen derer, welche die Bolzen und Hämmer handhabten. Es hatte keiner aus dem Bus überlebt. Reverend Michaels lief zwischen den Leichen, von denen die meisten entsetzlich zugerichtet waren, herum und blieb über einer jeden stehen, um eilig das Gebet zu sprechen, das dazu dienen sollte, der Seele den ewigen Frieden zu gewähren. Hin und wieder nahm er sich bei seiner fieberhaften Arbeit die Zeit, seine Gemeindemitglieder zu ermutigen und sie zu loben, daß sie die Kraft hatten, die Aufgabe des Herrn zu erfüllen.
»Schnell! Beeilung!« rief Michaels. »Wir müssen so viele wie möglich schaffen, bevor die Polizei ankommt!« Als die Leute die Polizeisirenen hörten, bekamen sie Angst. Sie wußten, daß sie sofort verschwinden mußten, auch wenn sie ihre Arbeit noch nicht zu Ende gebracht hatten. Von den vierunddreißig Leichen waren nur dreizehn mit den Bolzen durchbohrt worden. Reverend Michaels schüttelte den Kopf. Er hoffte, daß seine Gebete für die ungespießten Leichen ausreichen würden. Dann führte er die Mitglieder seiner Gemeinde aus der Lichtung des Waldes zurück in das Tal, aus dem sie gekommen waren. Leise und hastig folgten sie einem Weg, auf dem sie weder der Polizei noch irgendwelchen zufälligen Passanten begegnen würden, die mit der Art und Weise, wie die Toten behandelt worden waren, nicht einverstanden sein mochten. Der Reverend betete, als er sich den Weg durch den Wald bahnte, und erbat die Hilfe des Herrn für die einundzwanzig Leichen, die nicht gepfählt worden waren, flehte, daß Gott ihnen den ewigen Frieden gewähren möge. Er wußte, daß sie leichte Beute wären für Mächte unaussprechlichen Horrors.
Ungefähr zu dem Zeitpunkt, äs die letzten Leichen gepfählt werden konnten, bahnten sich Sheriff McClellan und der Adjutant Greene den Weg den Abhang hinunter zu dem verunglückten Bus. In der Ferne hörten sie das rhythmische Schlagen von Holz auf Metall und fragten sich, was das wohl zu bedeuten habe. Im Gehen suchten sie, halbwegs in der Erwartung, aus dem Bus geschleuderte Leichenteile zu finden, das Unterholz mit den Augen ab, doch sie sahen nichts dergleichen und fanden auch keinerlei Hinweise auf Überlebende.
Als sie den Bus erreichten, fanden sie ihn leer. Dünne Rauchfahnen schwebten über dem Wrack, doch es schien keine Explosionsgefahr zu bestehen. Das Innere des Busses bot einen entsetzlichen Anblick. Alles deutete auf ein grausiges Blutbad scheußlichster Ausmaße hin, doch kein Verwundeter oder Toter war zu sehen. Die Passagiere, tot oder lebendig, waren verschwunden. Greenes Blick fiel auf eine blutige Hand zwischen verbogenen Metallteilen und Glassplittern, und er mußte würgen. Er
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