gelangen. Während des Marsches, der für Carl unendlich qualvoll war, schrie das Baby, bis es, von Hunger und Erschöpfung geschwächt, einschlief. Dave, der es trug, beobachtete wachsam die Umgebung nach etwaigen Überfällen. Die beiden Männer kamen nur langsam voran. Sie hielten sich zur Deckung im Gebüsch am Straßenrand, wenn immer sie dazu in der Lage waren. Das Gelände ober- und unterhalb der Straße war hügelig und so dicht mit undurchdringlichem Gestrüpp überwuchert, daß es nicht möglich war, dort entlangzuschleichen, schon gar nicht für Carl in seinem gegenwärtigen Zustand.

Carls Fieber war weiter angestiegen. Sein Hemd triefte vor Schweiß und er wurde mit jedem Schritt schwächer. Den letzten Kilometer legte er taumelnd und halb stolpernd zurück, weigerte sich aber, aufzugeben, während er gegen einen Anfall von Fieberwahn oder Bewußtlosigkeit ankämpfte. Sie hatten höllische Angst anzuhalten und taten es dennoch ein paarmal, damit Carl sich ein bißchen erholen konnte. Aber diese Ruhepausen halfen nicht. Es schien besser zu sein, wenn er in Bewegung blieb, und über die letzten achthundert Meter versuchte Dave, seinen Kollegen zu stützen und halbwegs zu tragen. Wenn sie das Farmhaus erreichten, sagte er sich, bestand eine gewisse Hoffnung auf Hilfe. Falls es ein Farmhaus gab. Falls die Jungenbande sie nicht angelogen hatte. Die Straße machte eine Kurve und sie entdeckten zwischen den Bäumen hindurch einen kleinen Schuppen. Gleichzeitig fanden sie ein totes Huhn auf der Straße. Kommentarlos setzten sie ihren Weg fort, und nachdem sie ein paar Meter an der Baumgruppe, die den Hühnerstall verdeckte, vorbeigegangen waren, sahen sie ein weißes Fachwerkhaus knapp vierzig Meter von der Straße entfernt. Instinktiv traten die beiden Männer in den Schutz eines gewaltigen Baumes. Sie lugten dahinter hervor und ließen den Blick prüfend über die baumbestandene Wiese vor dem Haus gleiten. Reglose, tote Gestalten lagen auf der Wiese, Überreste von Tieren und einige Humanoide, Leichenfresser, die offenbar überwältigt worden waren. Die Fenster waren mit Brettern vernagelt. Offenbar hatte das Haus einem Überfall standgehalten. Die beiden Männer schauten einander an und trafen wortlos eine gemeinsame Entscheidung. Sie traten hinter dem Baumstamm hervor. Ein Schuß krachte und Carl wurde zurückgeschleudert und stürzte tödlich getroffen zu Boden. Einen Augenblick lang rührte Dave sich nicht. Er starrte auf den erstaunten Ausdruck in Carls Gesicht und auf das Blut, das durch seine Hemdbrust sickerte. Dann erschallte eine Salve von Gewehrschüssen und Dave duckte sich und rollte sich in Deckung. Er landete in einer Vertiefung hinter einem niedrigen Gebüsch. Er hatte sich bemüht, das Baby dabei zu schützen, und es war ihm offenbar gelungen - das Neugeborene schrie aus vollem Halse, sein kleiner Körper wurde von Schluchzern geschüttelt, die so heftig waren, daß es aussah, als könne es das nicht durchstehen. Dave fürchtete, das Baby würde sterben. Er drückte sich, so tief er konnte, in die kleine Mulde und lugte vorsichtig über den Rand, dann zurück zu Carls Leiche neben dem Baum. Er sah jetzt, was er vorher noch nicht gesehen hatte: Außer der Schußwunde in der Brust war Carl ein Teil des Schädels weggefetzt worden, vermutlich von einem der Geschosse der Salve, die auf den ersten Schuß gefolgt war. Erleichtert, wenn auch mit Schuldgefühlen, stellte Dave fest, daß Carl nicht wieder aufleben würde. Er würde nicht einer von ihnen werden. Dann schauderte er, als ihm der Kummer über den Tod seines Freundes zutiefst bewußt wurde. Und alle diese Gefühle mischten sich mit dem Wissen, daß er und das Baby in der Falle saßen und daß er einen Ausweg finden mußte, um zu überleben. Die Leute in dem Farmhaus hatten Carl und ihn für angreifende Humanoide gehalten und hatten geschossen, ohne irgendwelche Fragen zu stellen. Das Baby schrie herzzerreißend. So laut, daß Dave überzeugt war, man müsse es vom Haus aus hören. » Hilfe! Bitte!« schrie er über die Wiese. »Ich habe ein Baby! Bitte helfen Sie mir!«

Ein weiterer Schuß krachte und traf ins Laub. Dann herrschte wieder Stille. Dave versuchte es noch einmal. Er legte die Hände als Trichter vor den Mund. »Ich habe ein Neugeborenes bei mir, das verhungert. Bitte! Sie brauchen mir nicht zu helfen - aber, um Himmels willen, nehmen Sie das Baby!« Dann wartete er. Es blieb still. Er wartete eine endlos scheinende Weile. Dann klang plötzlich eine Stimme aus dem verbarrikadierten Haus: »Sie da draußen! Zeigen Sie sich!« Dave zögerte. »Zeigen Sie sich in Gottes Namen!« befahl die Stimme wieder. »Wir müssen sicher sein, daß Sie nicht eins von diesen Dingern sind!«

Dave spürte Wut in sich aufsteigen. Er wollte denjenigen, der da rief, wissen lassen, daß er seinen Kollegen schon umgebracht hatte, weil ihm der Finger zu locker am Abzug saß, aber er zog es vor, im Moment lieber ruhig zu bleiben. Wenn sie erfuhren, daß sie einen Menschen getötet hatten, würden sie vielleicht vorziehen, keine Zeugen übrigzulassen. Dave hielt sich wieder die Hände als Trichter vor den Mund und brüllte: »Ich komme heraus. Schießen Sie um Himmels willen nicht! Ich bin ein Mensch - und ich habe ein neugeborenes Baby bei mir!«

Aus unerfindlichen Gründen hörte das Baby plötzlich auf zu schreien. Dave schaute es an, um zu sehen, ob es noch am Leben war, aber, sagte er sich, selbst wenn nicht, würde er es benutzen, um sich Zugang zu dem Farmhaus zu verschaffen. Er stand auf und hielt das Neugeborene deutlich sichtbar hoch über seinen Kopf. Dann stieg er mühsam aus der Vertiefung und unter dem Schutz eines überhängenden Astes hervor, so daß man ihn vom Farmhaus deutlich erkennen konnte. Langsam ging er mit dem Baby im Arm auf das Haus zu. Er sah das Metall von Gewehrläufen aus den mit Brettern vernagelten Fenstern aufblitzen und versuchte sich bereitzuhalten, um in Deckung zu gehen, falls ein Schuß abgegeben würde.

Eine tote Ziege lag im Garten nahe bei dem Haus. Ihre Knochen waren teilweise so sauber, als hätten Geier sich daran gelabt. Die Ziege war von einem Schuß direkt neben dem rechten Auge getroffen worden. Die Augenhöhle war blutverkrustet und die teilweise sichtbare Pupille starrte daraus hervor.

Zwanzig Schritte vor dem Hauseingang blieb Dave stehen. Er hielt das Baby noch immer in die Höhe. »Dieses Baby wurde in der letzten Nacht geboren«, rief er in Richtung eines zersplitterten Fensters, aus dem ein Gewehrlauf ragte. »Die Mutter starb bei seiner Geburt. Sie hieß Karen Miller und war Ihre Nachbarin ein Stück weiter die Straße hinunter. Das Kleine hat noch nichts zu sich genommen. Würden Sie bitte so freundlich sein, ihm etwas Milch zu geben? « Dave ließ das Baby herunter und kuschelte es an seine Brust. Er spürte sein schwaches Atmen. Wenn die Leute da drin jetzt noch immer nicht begriffen hatten, daß er ein Mensch war, sagte er sich, dann würden sie es nie begreifen. Eine Männerstimme schallte hinter dem vernagelten Fenster hervor. »Wir haben keine Milch. Unsere Ziege ist tot, sehen Sie das nicht?«

Noch ehe Dave antworten konnte, dröhnte die Männerstimme wieder. »Woher sollen wir wissen, ob Sie nicht einer von diesen Plünderern und Vergewaltigern sind, die hier herumstreunen? Wir kennen Karen und ihre ganze Familie. Sie waren zur Beerdigung unserer Tochter hier. Vielleicht haben Sie sie ausgeraubt und umgebracht.«

»Mein Name ist Dave Benton und ich bin Beamter der Staatspolizei«, stellte Dave sich vor. Er wiegte das Baby, das wie auf Kommando wieder zu schreien anfing. Dave hoffte, das würde ihm ein bißchen Sympathie einbringen. Es wirkte. Hinter dem zersplitterten Fenster hörte er eine Frauenstimme. »Henry, das Baby! Um Himmels willen, laß den Mann doch herein!«

Der Gewehrlauf verschwand aus dem Loch in der Scheibe, und kurz darauf hörte Dave, wie drei Riegel an der Tür einer nach dem anderen zurückgeschoben wurden. Die Tür öffnete sich und Dave schaute ängstlich hinüber. Das Baby schrie noch immer. Ein Mann und eine Frau mittleren Alters standen auf der Schwelle. Der Mann hielt weiterhin seine Waffe auf Dave gerichtet und musterte ihn mißtrauisch. Die Frau wirkte freundlicher. Sie hatte ihr graues Haar zu einem Knoten aufgesteckt und trug ein ausgebleichtes Buntdruckkleid. Der Mann hatte einen Overall und ein Flanellhemd an. Sein wettergegerbtes Gesicht war hart und runzlig. Er hatte eine Glatze. Es waren Mr. und Mrs. Dorsey, die Eltern des toten Kindes, zu dessen Beerdigung Bert Miller mit seinen drei Töchtern erschienen war. Mrs. Dorseys Gesicht hellte sich auf, als sie das Baby sah. Dann warf sie ihrem Mann einen Blick zu und drückte den Gewehrlauf nach unten, so daß er nicht mehr auf Dave und das Baby zielte. »Also, dann machen Sie schon, daß Sie hereinkommen«, forderte sie Dave auf, als sie sein Zögern sah, und trat beiseite, um ihn einzulassen. Dave folgte den Eheleuten ins Haus und schaute zu, wie Henry Dorsey die Tür wieder verriegelte. Mrs. Dorsey nahm das Baby in den Arm und sah es liebevoll und besorgt an. »Wir müssen Milch

Вы читаете Untot
Добавить отзыв
ВСЕ ОТЗЫВЫ О КНИГЕ В ИЗБРАННОЕ

0

Вы можете отметить интересные вам фрагменты текста, которые будут доступны по уникальной ссылке в адресной строке браузера.

Отметить Добавить цитату