Dann wurde sie wieder ernst und fragte: »Meinst du, da? die Witwe Fly uns Arger macht?«
»Keine Ahnung«, antwortete Jacob, zog die Jacke aus und klopfte die letzten Schneereste ab. »Ich wei? nicht, wie gut sie mit dem Burgermeister steht.«
Er stellte sich ans Fenster und sah hinaus auf die Main Street.
»Einer von uns sollte immer die Stra?e beobachten«, sagte er.
»Fur den Fall, da? es Arger gibt?«
»Ja. Und fur den Fall, da? der Sheriff zuruckkommt.«
»Und wenn er gar nicht kommt?«
Jacob runzelte die Stirn. »Wie meinst du das, Irene?«
»Vielleicht zieht er es vor, den Sturm auf der Kershaw-Farm abzuwarten.«
»Wir wollen es nicht hoffen. Menschen, die Steuern eintreiben, sind fur gewohnlich nicht sehr beliebt.«
»Du glaubst, die Kershaws werden ihn nicht auffordern, langer bei ihnen zu bleiben?«
Jacob nickte nur und beobachtete weiter die Stra?e. Als Irene mit ihrem Fruhstuck fertig war, loste sie ihn ab, und er a?.
»Was ist mit dem?« fragte Irene und zeigte auf das Bett. »Er wird auch Hunger haben.«
»Er kann auf seinem Knebel herumkauen«, antwortete Jacob gleichgultig.
In der Nacht, als Rohlfing ihn kaltblutig erschie?en wollte, war in Jacob jegliches Mitgefuhl fur den Mann gestorben.
Als Jacob wieder die Wache am Fenster ubernahm, erwachte die Stadt allmahlich zum Leben. Doch auf der wei?en Main Street war langst nicht soviel los wie an anderen Tagen. Nur wer etwas Unaufschiebbares zu erledigen hatte, wagte sich bei diesem Wetter hinaus.
Deshalb fielen Jacob die sechs Manner sofort auf, die auf das Haus der Witwe Fly zumarschierten. Die meisten waren mit Gewehren bewaffnet. Als er genauer hinsah, erkannte er unter ihnen Wallace Hood und zwei der Manner, gegen die er gestern in der engen Gasse gekampft hatte: den Knochigen und den Dickbauch.
»Es geht los«, sagte Jacob duster. »Der Burgermeister ruckt mit seinen Leuten an. Und sie sehen nicht so aus, als kamen sie zu einem Plauderstundchen.«
Einer der Manner postierte sich auf dem Vorbau des gegenuberliegenden Hauses, in dem ein Barbier seinen Laden hatte. Dort ging er hinter einer Regentonne in Deckung und legte sein Gewehr auf die Pension an. Offenbar sollte er verhindern, da? jemand das Haus gegen den Willen des Burgermeisters verlie?.
»Wie sind sie uns draufgekommen?« fragte Irene. »Ob Mrs. Fly uns verraten hat?«
»Kann sein. Oder der Alte aus dem Mietstall. Jedenfalls scheinen sie zu wissen oder zumindest zu ahnen, da? etwas nicht in Ordnung ist.«
Wallace Hood und die vier anderen Manner hatten inzwischen die Pension erreicht und waren aus Jacobs Blickfeld verschwunden.
Naturlich hatte er auf die Manner schie?en konnen, solange sie noch unten auf der Main Street waren.
Aber was hatte das gebracht?
Dann hatte sich der Burgermeister erst recht als befugt gesehen, mit allen Mitteln gegen die beiden Deutschen vorzugehen.
Au?erdem konnten es Jacob und Irene nicht mit der ganzen Stadt aufnehmen.
Sie horten laute Stimmen unten im Haus und dann das Getrampel von Schritten auf der holzernen Treppe.
Als die Manner das Obergescho? erreichten, hatte Jacob die Tur verschlossen und die schwere Eichenholzkommode davorgezerrt. Er legte den Tisch auf die Kante, um mit Irene dahinter in Deckung zu gehen.
Die Tur des Nebenzimmers wurde aufgesto?en. Es war das Zimmer des Reverends. Dann kamen Irenes und Jacobs Zimmer an die Reihe.
»Hier sind sie!« rief eine Mannerstimme vor Jacobs Tur.
»Reverend Driscoll!« sagte Wallace Hood laut. »Sind Sie da drin?«
»Der Reverend ist tot«, antwortete Jacob.
»Tot?« wiederholte der Burgermeister verblufft. »Wie ist das geschehen?«
»Das ist eine langere Geschichte. Ich werde sie Ihnen erzahlen, sobald der Sheriff wieder in der Stadt ist.«
»Lassen Sie mich herein und erzahlen Sie mir die Geschichte jetzt!« verlangte der Burgermeister. »Ich vertrete meinen Bruder, wenn er weg ist.« »Das mag sein«, erwiderte Jacob. »Ich mochte aber trotzdem lieber mit Ihrem Bruder sprechen.«
Sie horten Getuschel drau?en auf dem Gang.
Dann meldete sich Wallace Hood wieder: »Nichts zu machen, Adler. Wenn Sie uns nicht sofort hereinlassen, sturmen wir das Zimmer mit Waffengewalt!«
»Mit welcher Begrundung?«
»Sie stehen unter Mordverdacht, Adler.«
»Mordverdacht?«
»Yeah. Sie haben doch selbst gesagt, da? der Reverend tot ist.«
»Ich habe ihn nicht getotet, sondern ein Trapper.«
»Was fur ein Trapper denn? Ist ja auch egal. Das konnen Sie alles dem Richter erzahlen.«
»Wenn ich den jemals zu Gesicht bekomme«, knurrte Jacob.
»Meine Geduld ist zu Ende, Adler. Ich zahle jetzt bis funf. Wenn Sie dann die Tur noch nicht geoffnet haben, schicken wir Ihnen ein paar blaue Bohnen ins Zimmer.«
»Mi? Sommer ist bei mir.«
»Was kann ich dafur?«
»Die meinen es ernst«, sagte Jacob und erhob sich aus der Deckung. »Es hat keinen Zweck, Irene. Wir mussen uns ergeben.«
»Traust du dem Burgermeister etwa?«
»Nein. Aber wenn wir es auf einen Kampf ankommen lassen, ist das unser Ende.«
Allein hatte er es vielleicht auf einen Kampf ankommen lassen. Aber seine dringendste Sorge war, Irene zu beschutzen.
»Eins«, begann drau?en Wallace Hood laut zu zahlen.
»Ist gut, Hood«, rief Jacob. »Ich offne die Tur. Sagen Sie Ihren Mannern, sie sollen die Finger vom Abzug lassen. Ich komme ohne Waffen.«
»Beeilen Sie sich!«
Jacob legte Colt und Messer auf den Boden, und auch Irene trennte sich von dem Webley. Dann zog er die Kommode von der Tur und drehte den Schlussel im Schlo? herum.
Sofort wurde die Tur aufgesto?en, und Hoods bewaffneter Trupp drangte herein. Die Manner hielten Jacob und Irene mit ihren Waffen in Schach.
»Wer ist das?« fragte Hood, der vor dem Bett stand.
»Sie kennen ihn als Franz Pape«, antwortete Jacob. »Aber eigentlich hei?t er Alwin Rohlfing. Er schlagt sich mit Raub, Vergewaltigung und Mord durchs Leben. Er hat Randolph Haggard erschossen. Und er hat Haggards Frau vergewaltigt, zusammen mit seinem Freund und Ihrem Sohn. Aber ich schatze, das wissen Sie langst.«
Hood wurde bla?, aber er versuchte den Schein zu wahren.
»Ich wei? nicht, wovon Sie reden. Wenn Sie glauben, Ihre Lugengeschichten retten Sie vor dem Galgen, tauschen Sie sich, Adler!«
»Nicht so schnell, Wallace«, sagte eine Stimme auf dem Gang. »Mit dem Hangen sollte man sich nie zu sehr beeilen!«
Eine dick vermummte Gestalt trat ins Zimmer, die Kleidung uber und uber mit Schnee bedeckt, der hier im Warmen langsam zu schmelzen begann. Als die Gestalt den um Mund und Nase geschlungenen Schal wegzog, erkannten alle das schnauzbartige Gesicht von Eric Hood.
»Der Sheriff!« seufzte Irene erleichtert.
»Misch dich nicht ein, Eric«, sagte der Burgermeister barsch. »Wir kommen auch ohne dich klar!«
»Das bezweifle ich. Ich glaube, Mr. Adler hat uns eine interessante Geschichte zu erzahlen. Ich mochte sie gern horen!«