Die anderen Kajutenpassagiere, die beiden Manner und die Frau in Schwarz, lie?en sich kaum blicken. Ihr Essen nahmen sie in der eigenen Kajute oder zusammen mit Schelp und Hansen in der des Kapitans ein. Wenn die beiden Manner mal an Deck erschienen, blieben sie fur sich oder hielten sich an Schelp und Hansen.
Nur einmal sah Jacob, der auf dem Vorderdeck stand und sich angeregt mit dem aus dem Westfalischen stammenden Schiffszimmermann unterhielt, die von Kopf bis Fu? schwarze Gestalt auf dem Achterdeck stehen. Er bildete sich ein, da? die Frau zu ihm herubersah. Aber wegen des Schleiers blieb das eine blo?e Vermutung.
Jacob gab sich einen Ruck und durchma? das Deck der ALBANY mit den schnellen, gro?en Schritten, die er sich angewohnt hatte, als der junge Geselle Jacob Adler drei Jahre lang durch Deutschland streifte, um seine Fahigkeiten als Zimmermann bei verschiedenen Meistern in verschiedenen Stadten zu vervollkommnen. Ohne Rucksicht auf gesellschaftliche Konventionen wollte er die Frau ansprechen und fragen, ob sie sich kannten.
Aber als er um den Rettungsbootsdavit neben dem Besanmast herum war, sah er die Frau nicht mehr. Wie ein Phantom hatte sie sich in Luft aufgelost.
Dann erst fiel ihm ein, da? der Eingang zu ihrer Kajute auf dem Achterdeck lag, direkt hinter dem Platz des Steuermanns, wo zur Zeit Joe Weisman stand.
War sie vor Jacob geflohen?
Jacob fragte Weisman nach der Frau und ihrem Namen.
Der schuttelte den Kopf, auf dem fruhzeitig wei? gewordene Haare unter der zerknautschten Seemannsmutze hervorlugten.
»Ich habe keine Ahnung, wer das ist, Herr Adler«, antwortete der Zweite Steuermann der ALBANY in einem englisch gefarbten Deutsch. »Seit Schelp und die anderen an Bord sind, ist unser Kapten nicht mehr wiederzuerkennen. Als hatte etwas von ihm Besitz ergriffen und seine Seele umgestulpt.«
»Das sind dustere Worte«, sagte Jacob. »Konnen Sie die erlautern, Herr Weisman?«
»Nein.« Das leicht gerotete Gesicht des Zweiten Steuermannes verschlo? sich. »Hansen ist mein Kapten.«
Das hie?, Weisman wollte nicht mehr sagen. Jacob drang nicht weiter in ihn. Er konnte den Steuermann verstehen.
Aber er machte sich Sorgen.
Wegen Hansen.
Und wegen der Frau in Schwarz.
*
Die Ratten, die in Scharen an Bord ihr Unwesen trieben, angstigten die meisten Menschen oder riefen zumindest Ekel bei ihnen hervor.
Nicht so bei Timmy O'Faolain.
Nur gro?e Tiere machten ihm angst. Solche wie der wilde Grizzly, der seinen Vater vor seinen Augen zerrissen hatte.
Kleine Tiere aber liebte der Junge, egal, welcher Art sie waren. Auch die Ratten.
Besonders eine hatte es ihm angetan, die er an ihrem schon gemusterten Fell erkannte. Helle Streifen zogen sich in gleichma?igen Linien vom Kopf bis zu dem langen Schwanz. Timmy nannte sie deshalb die Gestreifte.
Der Junge verbrachte die Tage damit, der Gestreiften aufzulauern. Nicht um sie zu fangen oder ihr gar etwas anzutun. Seine Mutter hatte kein Verstandnis fur das Anschleppen einer Ratte aufgebracht, das wu?te er. Schlie?lich hatte sie aus ihm unerfindlichen Grunden schon etwas gegen den Skunk gehabt, mit dem er sich in Fogerty fast angefreundet hatte.
Nein, Timmy war nur neugierig und wollte mehr uber die Gestreifte herausfinden. Wie ein Forscher. Er verfolgte sie, machte ihre Schlupflocher ausfindig und verfolgte sie wieder. Bis in den gro?en Laderaum im Bauch des Schiffes.
Die Luke stand offen, weil ein Maat hinabgestiegen war, um die Festigkeit der Frachtvertauung und den Stand des eingedrungenen Wassers zu uberprufen.
Vorsichtig, damit ihn der Maat nicht bemerkte, schlich Timmy zwischen den Kisten hindurch. Aber die Gestreifte war schneller und tauchte in dem finsteren Gewirr unter.
Enttauscht wollte Timmy umkehren. Etwas schepperte leise, als sein Fu? dagegenstie?. Ein kleiner, fast runder Gegenstand. Er hob ihn auf. Fast wie ein Munze, nur breiter und leichter. Vielleicht war es wertvoll. Eine Seite war glatt und leer, die andere beschriftet. Aber Timmy konnte die Schrift nicht lesen. Er konnte uberhaupt nicht lesen.
Er lie? seinen Fund in die Hosentasche gleiten und schlich leise aus dem Laderaum.
*
Als Jacob, der sich mit Irene und Jamie an Deck die Beine vertreten hatte, in die Kajute zuruckkehrte, hielt die Witwe O'Faolain ihm Timmys Fund unter die Nase.
Irene war mit dem Kind noch oben geblieben. Sie wollte versuchen, endlich einmal ausfuhrlich mit Piet Hansen zu sprechen, der am Ruder stand und ihr deshalb nicht so leicht entkommen konnte. Jacob ging nach unten. Moglicherweise hatte Irene mehr Erfolg bei Piet, wenn sie allein ihren Charme verspruhte.
»Vielleicht ist das Deutsch?« fragte Katie O'Faolain zweifelnd, wahrend Jacob die Plakette betrachtete. »Ich kann nicht sehr gut lesen, aber Englisch ist's bestimmt nicht.«
»Sie haben recht, Mrs. O'Faolain, das ist Deutsch!« stie? Jacob erregt hervor und las laut: »Wilger & Hartmann Waffen-& Sprengstoffwerke, Hamburg.«
Mit ernstem Gesicht sah er Timmy an und fragte:
»Und das hast du wirklich von ganz unten aus dem Laderaum?«
Der Junge nickte heftig und streckte den Zeigefinger in Richtung Fu?boden.
»Was bedeutet das, Mr. Adler?« erkundigte sich die Mutter des Jungen.
»Wenn es stimmt, was ich vermute, jedenfalls nichts Gutes!« brummte Jacob und sturmte auch schon hinauf aufs Deck.
Irene stand, Jamie auf dem Arm, bei Piet Hansen am Steuerrad und plauderte offenbar ungezwungen mit ihm.
Jacob fuhr rude dazwischen, zeigte die Plakette vor und fragte:
»Konnen Sie mir das erklaren, Piet?«
Trotz des Bartes konnten Jacob und Irene sehen, wie Hansen erbla?te.
»Wo. wo hast du das her, Junge?« fragte er, vergeblich um Fassung ringend.
»Aus dem Laderaum, ganz tief unten.«
»Hast du etwa rumgeschnuffelt?«
»Ich denke, nicht ich sollte hier Fragen beantworten, Piet, sondern Sie«, blieb Jacob stur. »Und erzahlen Sie mir nicht, diese Hamburger Waffenfabrik wurde nebenbei Minenbaugerate herstellen! Das pa?t namlich nicht in das Bild, das ich mir von Ihrem seltsamen Verhalten und den ebenso seltsamen Passagieren in der Nachbarkajute gemacht habe.«
»Sie sind noch genauso scharfsinnig wie fruher, Mr. Adler, mein Kompliment.«
Die Stimme einer Frau in seinem Rucken lie? Jacob herumfahren. Die Frau in Schwarz war aus der Kajute gekommen und bedrohte ihn mit einem vierlaufigen Derringer. Rechts und links von ihr standen ihre Begleiter. Die Waffen in ihren Handen waren gro?er und bestimmt nicht minder todlich.
»Captain McCord sagte mir, die deutsche Frau unterhalte sich mit dem Kapten«, fuhr die gesichtslose Frau fort. »Da wollte ich lieber nach dem Rechten sehen, glucklicherweise.«
Jacob uberlegte krampfhaft, wo er ihre Stimme schon einmal gehort hatte. Sie kam ihm seltsamerweise vertraut und fremd zugleich vor. Das Fremde lag vielleicht an der Kalte, mit der sie sprach.
Aber woher kannte er die Stimme und die Frau blo??
Um Zeit zu gewinnen, fragte er:
»Was fur ein Captain ist dieser McCord? Etwa einer der Konfoderierten Armee?«
»Mit Ihrem Scharfsinn hatten Sie es zu mehr als zum Zimmermann bringen konnen«, erwiderte die Frau. »Und jetzt hinunter in unsere Kajute, Adler. Sie, die Frau und das Kind. Denken Sie immer an das Kind, dann machen Sie bestimmt keinen Unsinn!«
Sie trat zur Seite und gab den Weg zum Kajuteneingang frei. Zogernd befolgte Jacob ihren Befehl, als ein unerwarteter Donner uber die ALBANY hereinbrach.