Den fand sie fabelhaft. Ihr Lieblingsfilm ist aber
Neununddreißig Stufen
mit Robert Donat. Sie kann den ganzen verdammten Film auswendig, weil ich ihn ungefähr zehnmal mit ihr gesehen habe. Wenn Donat zum Beispiel in das schottische Bauernhaus kommt, als er auf der Flucht ist, sagt Phoebe laut -genau an der richtigen Stelle: «Können Sie den Hering essen?» Sie kann den ganzen Dialog auswendig. Und wenn der Professor, der eigentlich ein deutscher Spion ist, Robert Donat einen kleinen Finger hinhält, an dem ein Teil des Mittelgliedes fehlt, kommt ihm Phoebe zuvor: sie hält mir im Dunkeln ihren kleinen Finger vor die Nase. Sie ist in Ordnung. Man muß sie gern haben. Ihre einzige Schwäche ist nur, daß sie manchmal ein bißchen zu gefühlvoll ist. Für ein Kind ist sie sehr emotional.

Im Ernst. Übrigens schreibt sie die ganze Zeit über Bücher. Nur macht sie sie nie fertig. Alle handeln von einem Mädchen namens Hazel Weatherfield - Phoebe schreibt das allerdings «Hazle». Hazle Weatherfield ist Detektivin. Sie ist angeblich eine Waise, aber ihr Vater taucht fortwährend auf. Er ist ein «großer, sympathischer Herr von ungefähr zwanzig Jahren». Das wirft mich jedesmal um.

Diese gute alte Phoebe. Ich schwöre, daß sie jedermann gefallen würde. Schon als ganz kleines Kind war sie toll. Damals gingen Allie und ich manchmal mit ihr in den Park, besonders sonntags.

Allie hatte ein Segelboot, mit dem er sonntags gern spielte, und wir nahmen immer Phoebe mit. Sie hatte weiße Handschuhe und ging zwischen uns, ganz wie eine Dame. Und wenn Allie und ich über irgend etwas redeten, hörte Phoebe zu. Manchmal vergaßen wir sie, weil sie noch so klein war, aber sie machte sich bald bemerkbar. Sie unterbrach uns fortwährend. Sie stieß mich oder Allie an und fragte: «Wer? Wer hat das gesagt? Bobby oder die Dame?» Und dann erklärten wir es ihr, und sie sagte «Ach so» und hörte weiter zu. Allie hatte sie auch furchtbar gern. Jetzt ist sie zehn und nicht mehr so klein, aber immer noch sind alle begeistert von ihr - jedenfalls alle, die nicht vollkommen verblödet sind. Phoebe ist so eine, mit der man gern telefoniert. Aber ich war zu bange, meine Eltern könnten ans Telefon kommen und herausfinden, daß ich in New York war und von Pencey geflogen war und so. Deshalb zog ich mich nur fertig an. Dann fuhr ich mit dem Lift in die Halle, um zu sehen, was unten los war. Bis auf ein paar Zuhältertypen und ein paar hurenhaft aussehende Blondinen war die Halle ziemlich leer.

Aber da ich aus dem Lavendel-Saal Tanzmusik hörte, ging ich dorthin. Obwohl es nicht sehr voll war, gaben sie mir einen schlechten Tisch ganz weit hinten. Ich hätte dem Kellner eine Dollarnote vor der Nase herumschwenken sollen. In New York kommt es nur auf Geld an, im Ernst.

Die Kapelle war zum Kotzen. Buddy Singer, aber viel Blech, ohne Stil und kitschig. Außerdem sah ich nur wenige Leute in meinem Alter. Eigentlich überhaupt keine. Die meisten waren betagte Angeber mit ihren Damen. Nur am Nebentisch nicht. Am rechten Nebentisch saßen diese drei ungefähr dreißigjährigen Mädchen. Alle drei waren ziemlich häßlich und hatten diese Hüte auf, die verrieten, daß sie nicht in New York lebten, aber eine von ihnen, eine blonde, war nicht zu übel. Sie sah sogar ganz annehmbar aus, und ich fing an ihr Augen zu machen, aber dann kam der Kellner an meinen Tisch. Ich bestellte einen Whisky mit Soda und sagte, er solle ihn nicht mischen. Das sagte ich, so schnell ich nur konnte, denn wenn man herumzögert, meinen sie, man sei unter einundzwanzig, und wollen keinen Alkohol bringen. Aber er machte mir trotzdem Geschichten. «Ich bedaure, Sir», sagte er, «aber können Sie sich über Ihr Alter ausweisen? Vielleicht mit Ihrem Führerschein?»

Ich sah ihn eisig an, als ob er mich beleidigt hätte. «Sehe ich aus, als ob ich noch nicht einundzwanzig wäre?»

«Ich bedauere, Sir, aber wir haben unsere -»

«O. K., O. K.», sagte ich. «Bringen Sie mir eine Coca!» Als er weggehen wollte, rief ich ihn wieder her. «Könnten Sie nicht ein bißchen Rum oder so etwas hineintun?» fragte ich sehr freundlich. «Ich kann doch nicht vollkommen nüchtern in so einer Bumsbude sitzen. Können Sie nicht ein bißchen Rum hineintun?»

«Tut mir leid, Sir...» sagte er und ließ mich sitzen. Ich nahm es ihm nicht übel. Sie verlieren die Stelle, wenn sie dabei erwischt werden, daß sie Minderjährigen Alkohol geben. Ich bin eben ein gottverdammter Minderjähriger.

Ich fing wieder an, den drei Hexen am andern Tisch Blicke zuzuwerfen - das heißt der Blonden. Ich machte es aber nicht aufdringlich. Ich fixierte sie nur sehr kühl. Alle drei fingen wie verrückt an zu kichern. Wahrscheinlich dachten sie, ich sei zu jung, um es mit einer zu machen. Das ärgerte mich wahnsinnig. Als ob ich sie heiraten wollte, oder was weiß ich. Daraufhin hätte ich sie schneiden sollen, das hätten sie verdient, aber ich war eben zum Tanzen aufgelegt. Manchmal tanze ich sehr gern, und gerade jetzt hatte es mich gepackt. Deshalb beugte ich mich näher zu ihnen und fragte: «Hätte eine von euch Mädels Lust zu tanzen?» Nicht grob oder so, sondern sogar sehr höflich. Aber verdammt noch mal, das fanden sie noch komischer.

Sie kicherten noch hysterischer und benahmen sich wie dumme Gänse. «Wie?» fragte ich. «Ich tanze mit jeder von Ihnen der Reihe nach. Einverstanden? Kommen Sie!» Ich wollte wirklich gern tanzen.

Schließlich stand die Blonde auf, weil es klar war, daß ich sie gemeint hatte, und wir gingen zur Tanzfläche. Die beiden andern platzten fast. Offenbar war ich damals sehr verzweifelt, daß ich mich überhaupt mit ihnen einließ. Aber es lohnte sich. Die Blonde tanzte prima. Sie war eine der besten Tänzerinnen, mit der ich je getanzt habe. Tatsächlich sind die blödesten Mädchen manchmal beim Tanzen umwerfend. Ein intelligentes Mädchen versucht zum Beispiel oft zu führen, oder sie tanzt so schlecht, daß man am besten nur mit ihr am Tisch sitzen bleibt und sich betrinkt.

«Sie tanzen wirklich gut», sagte ich zu ihr. «Sie sollten Berufstänzerin sein. Im Ernst. Ich habe einmal mit einer getanzt, und die war nicht halb so gut. Haben Sie schon von Marco und Miranda gehört?»

«Was?» fragte sie. Sie hörte überhaupt nicht zu. Sie schaute sich im ganzen Lokal um.

«Ich habe gefragt, ob Sie schon von Marco und Miranda gehört haben?»

«Mir nicht bekannt. Nein.»

«Das ist ein Tänzerpaar. Sie ist zwar nicht besonders. Sie macht alles richtig, aber besonders gut ist sie trotzdem nicht. Wissen Sie, wann eine Frau fabelhaft tanzt?»

«Was haben Sie gesagt?» fragte sie. Sie hörte mir überhaupt nicht zu. Alles andere im Lokal interessierte sie mehr.

«N-n.»

«Da, wo ich meine Hand auf Ihrem Rücken habe: wenn ich meine, daß nichts unter meiner Hand ist, kein Untergestell, keine Beine, keine Füße, überhaupt nichts - dann tanzt eine Frau wirklich fabelhaft.»

Sie hörte mir aber nicht zu. Deshalb stellte ich sie eine Weile kalt. Wir tanzten nur. Großer Gott, wie diese Gans tanzen konnte. Buddy Singer und seine Mist-Band spielten gerade
Just one of those things,
und selbst sie konnten diesen Song nicht ganz kaputtkriegen. Das ist ein toller Song. Ich versuchte keine schwierigen Schritte, weil ich es nicht leiden kann, wenn sich die Leute mit allen möglichen Kunststücken beim Tanzen wichtig machen, aber ich tanzte lebhaft herum, und sie paßte sich immer an. Komisch, ich hatte den Eindruck, daß es ihr selber auch Vergnügen machte, aber dann sagte sie wieder etwas Blödes. «Ich und meine Freundinnen haben gestern abend Peter Lorre gesehen. Den Filmschauspieler. In Person. Er hat eine Zeitung gekauft. Er ist toll!»

«Da haben Sie Glück gehabt», sagte ich. «Wirklich Glück. Wissen Sie das?» Sie war wirklich eine Gans. Aber wie sie tanzte! Ich konnte nicht anders, als sie auf ihren blöden Kopf zu küssen, oben auf den Scheitel. Sie wurde giftig.

«He! Was soll das bedeuten?»

«Nichts. Sie tanzen nur so gut», sagte ich. «Ich habe eine kleine Schwester, die erst in

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