Ich gab ihr einen Dollar, weil sie so freundlich war, aber sie wollte ihn nicht annehmen. Sie sagte immer nur, ich solle nach Hause gehn und mich ins Bett legen. Ich versuchte, mich mit ihr zu verabreden, sobald sie heute frei hätte, aber davon wollte sie auch nichts wissen. Sie sagte, sie sei ja alt genug, daß sie meine Mutter sein könnte. Ich zeigte ihr meine verdammten grauen Haare und sagte, ich sei zweiundzwanzig - natürlich aus Blödsinn. Sie war aber wirklich nett. Ich zeigte ihr meine verdammte rote Jagdmütze, und die gefiel ihr sehr. Sie sagte, ich müsse die Mütze aber jetzt aufsetzen, weil ich so nasse Haare hätte. Sie war wirklich anständig.

Draußen war ich nicht mehr so betrunken, aber es war wieder ziemlich kalt geworden, und die Zähne schlugen mir wie toll aufeinander. Ich konnte nichts dagegen tun. Ich ging bis zur Madison Avenue und wartete dort auf einen Omnibus, weil ich fast kein Geld mehr hatte und mit Taxis und so weiter sparen mußte. Aber ich hatte dann doch keine Lust, mich in einen verdammten Omnibus zu setzen. Ich wußte ja auch gar nicht, wohin ich fahren sollte. Deshalb machte ich mich auf den Weg zum Park. Ich wollte zu dem kleinen See gehen und nachsehen, was zum Teufel die Enten machten ob sie überhaupt noch da waren. Ich wußte immer noch nicht, was im Winter aus ihnen wurde. Der Park war nicht weit weg, und es fiel mir nichts ein, wo ich sonst hätte hingehen können - ich wußte ja überhaupt nicht, wo ich schlafen sollte. Ich war gar nicht müde oder so. Nur wahnsinnig deprimiert. Als ich im Park ankam, passierte etwas Schreckliches. Ich ließ Phoebes Schallplatte fallen. Sie zerbrach in hundert Stücke. Sie steckte zwar in einem großen Umschlag, aber sie zerbrach trotzdem. Ich hatte beinah wieder geheult, weil ich das entsetzlich fand, aber dann nahm ich nur die Stücke aus dem Umschlag und steckte sie in meine Manteltasche. Man konnte nichts mehr damit machen, aber ich wollte sie doch nicht einfach wegwerfen. Dann ging ich weiter in den Park hinein. Es war stockdunkel.

Ich bin in New York aufgewachsen und kenne den Central Park auswendig, weil ich als Kind immer mit den Rollschuhen oder mit dem Rad dort herumgefahren bin, aber in dieser Nacht hatte ich die größte Mühe, bis ich den See fand. Ich wußte ganz genau, wo er war - beim Central Park South und so weiter -, aber ich konnte ihn doch nicht finden. Offenbar war ich viel betrunkener, als ich selber dachte. Ich ging immer weiter und weiter, und es wurde immer dunkler und unheimlicher und unheimlicher. Auf dem ganzen Weg begegnete ich keinem Menschen. Das war mir nur recht.

Wahrscheinlich hätte ich einen Luftsprung gemacht, wenn mir jemand begegnet wäre. Dann fand ich den See endlich. Er war zum Teil zugefroren und zum Teil nicht. Aber Enten sah ich nirgends. Ich ging um den ganzen verdammten See herum -einmal wäre ich um ein Haar hineingefallen -, aber ich sah keine einzige Ente. Ich dachte, falls sie noch da wären, schliefen sie vielleicht nah am Ufer, auf dem Gras und so. Aus diesem Grund fiel ich fast hinein. Aber es war keine Ente da. Schließlich setzte ich mich auf eine Bank, wo es nicht so verdammt dunkel war. Ich schlotterte wie ein Verrückter, und am Hinterkopf hatte ich trotz der Jagdmütze kleine Eisklumpen in den Haaren. Das machte mir Sorgen. Ich dachte, ich würde wahrscheinlich Lungenentzündung bekommen und sterben. Ich stellte mir die Millionen Leute bei meiner Beerdigung vor. Mein Großvater aus

Detroit, der immer die Straßennummern ausruft, wenn man mit ihm in einem verdammten Omnibus fährt, und meine Tanten -ich habe gut fünfzig Tanten - und meine sämtlichen blöden Cousins. Eine riesige Menschenmenge. Als Allie gestorben war, rückte die ganze Herde vollzählig an. Eine besonders blöde Tante mit Mundgeruch sagte fortwährend, wie friedlich Allie daliege - das erzählte mir D. B.

Ich war noch im Spital. Jetzt machte ich mir also Sorgen, daß ich von diesen Eisklumpen in den Haaren Lungenentzündung bekommen und sterben könnte. Meine Eltern taten mir fürchterlich leid.

Hauptsächlich meine Mutter, weil sie immer noch nicht über Allie weggekommen ist. Ich stellte mir vor, wie sie gar nicht wüßte, was sie mit meinen Anzügen und den Sportsachen und so weiter anfangen sollte. Der einzige Trost war, daß ich sicher wußte, daß sie Phoebe nicht zu meiner verdammten Beerdigung mitnehmen würde, weil Phoebe noch zu klein war. Das war wirklich das einzige Gute an der ganzen Geschichte. Dann stellte ich mir auch vor, wie sie mich alle auf den gottverfluchten Friedhof schleppen würden und mein Name auf einem Grabstein stünde. Zwischen lauter anderen Toten. Großer Gott, wenn man tot ist, sperren sie einen regelrecht ein. Ich hoffe nur, daß irgend jemand soviel Vernunft hat, mich einfach in den Fluß zu werfen, wenn ich einmal wirklich sterbe. Mir ist alles recht, nur nicht ein gottverfluchter Friedhof. Wo die Leute dann kommen und einem am Sonntag einen Blumenstrauß auf den Bauch legen, und lauter solchen Mist. Wer will denn noch Blumen, wenn er tot ist? Niemand.

Bei schönem Wetter gehen meine Eltern oft zu Allies Grab und legen Blumen hin. Ich bin ein paarmal mitgegangen, aber dann hatte ich genug. Erstens ist es kein Vergnügen, ihn auf diesem blöden Friedhof zu sehen. Zwischen lauter Toten und Grabsteinen und allem. Wenn die Sonne schien, war es weniger schlimm, aber zweimal - zweimal - fing es an zu regnen.

Schrecklich. Es regnete auf seinen blöden Grabstein und in das Gras über seinem Bauch. Überallhin. Sämtliche Friedhofsbesucher rannten wie wild zu ihren Autos. Das machte mich fast verrückt. Alle diese Besucher konnten sich in ihre Autos setzen und das Radio andrehen und dann in irgendeinem guten Restaurant essen - nur Allie nicht. Ich konnte das nicht ertragen. Ich weiß wohl, daß nur sein Körper auf dem Friedhof liegt und daß seine Seele im Himmel ist - und der ganze übrige Mist -, aber ich konnte es trotzdem nicht aushaken. Ich möchte einfach, daß er nicht dort wäre. Wenn ihn jemand gekannt hätte, müßte er verstehen, was ich meine.

Bei schönem Wetter ist es weniger schlimm, aber die Sonne scheint ja nur, wenn sie dazu aufgelegt ist.

Um mich von der Lungenentzündung und dem allem abzulenken, versuchte ich unter der elenden Straßenlaterne mein Geld zu zählen. Es waren nur noch drei einzelne Dollars und fünf Vierteldollars.

Junge, seit Pencey hatte ich ein Vermögen ausgegeben. Dann ging ich ans Ufer hinunter und warf das Kleingeld in den See, wo er nicht zugefroren war. Ich weiß nicht warum, aber jedenfalls warf ich es hinein. Wahrscheinlich dachte ich, es würde mich von der Lungenentzündung und vom Sterben ablenken. Das war aber nicht so.

Ich fing an, mir vorzustellen, wie Phoebe es wohl aufnähme, wenn ich Lungenentzündung bekommen und sterben würde. Kindische Gedanken, aber ich konnte nicht damit aufhören. Es würde ihr ziemlich elend, wenn es dazu käme, dachte ich. Sie hat mich sehr gern. Ich meine, sie hängt wirklich an mir. Ich kam einfach nicht davon los, und schließlich dachte ich, es wäre am besten, wenn ich mich nach Hause schleichen und sie besuchen würde - falls ich sterben müßte und so. Ich hatte den Hausschlüssel bei mir und dachte, ich könnte mich ganz leise in die Wohnung schleichen und eine Weile mit ihr schwätzen. Nur unsere Wohnungstür machte mir Kummer. Sie kreischt wahnsinnig.

Das ganze Haus ist schon ziemlich alt, und der Verwalter ist ein fauler Hund; alles kreischt und knarrt. Ich hatte Angst, daß meine Eltern mich hören könnten. Aber ich wollte es wenigstens versuchen.

Ich lief also schnell aus dem Park und ging heim. Ich ging den ganzen Weg zu Fuß. Sehr weit war es nicht, und ich war überhaupt nicht mehr müde oder betrunken. Es war nur sehr kalt und ganz menschenleer.

21

Als ich zu Hause ankam, war der Liftboy, der sonst Nachtdienst hatte, nicht da. Das war das unglaublichste Glück, das ich seit Jahren gehabt habe. Irgendein neuer, den ich nicht kannte, stand am Lift, und falls ich also nicht gerade auf meine Eltern prallte, konnte es mir gelingen, Phoebe guten Tag zu sagen und mich dann davonzumachen, ohne daß überhaupt jemand von meinem Besuch erfahren

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