würde. Wirklich ein unglaubliches Glück. Außerdem schien der neue Angestellte eher zu den Schwachsinnigen zu gehören. Ich sagte in sehr nachlässigem Ton, er solle mich zu den Dicksteins hinauffahren. Die Dicksteins hatten die andere Wohnung in unserm Stock. Dann nahm ich meine Jagdmütze ab, um nicht verdächtig auszusehen, und ging betont eilig in den Lift.

Er hatte die Türen schon zugemacht und wollte gerade abfahren, aber plötzlich drehte er sich um und sagte: «Die sind nicht zu Hause. Sie sind im vierzehnten Stock eingeladen.»

«Ich weiß», sagte ich. «Ich soll oben auf sie warten. Ich bin ihr Neffe.»

Er warf mir einen mißtrauischen dummen Blick zu. «Warten Sie lieber in der Halle», sagte er.

«Das würde ich gern tun», sagte ich, «aber ich habe ein kaputtes Bein. Ich muß es immer in einer gewissen Stellung halten. Es ist wohl besser, wenn ich mich vor ihrer Tür auf den Stuhl setze.»

Da er nicht verstand, von was zum Teufel ich redete, sagte er nur «Ah» und fuhr mich hinauf. Nicht schlecht. Komisch, man braucht nur etwas daherzuschwätzen, was kein Mensch versteht, dann tun die Leute praktisch alles, was man von ihnen will.

Ich stieg schwer hinkend in unserem Stock aus und ging zur Wohnung der Dicksteins hinüber. Als ich hörte, daß er die Lifttür zumachte, kehrte ich um und ging auf unsere Seite. Das hatte ich gut gemacht. Ich war offenbar auch nicht mehr betrunken. Dann zog ich den Schlüssel aus der Tasche und machte leise wie ein Dieb die Tür auf. Dann schlich ich äußerst vorsichtig hinein und schloß hinter mir zu. Ich hätte wirklich Einbrecher werden sollen.

Drinnen war es stockdunkel, und natürlich durfte ich kein Licht andrehen. Ich mußte sehr achtgeben, daß ich nirgends anstieß und einen Höllenlärm verursachte. Aber ich fühlte gleich, daß ich zu Hause war. In unserem Gang ist immer ein sonderbarer Geruch, anders als irgendwo sonst. Ich weiß nicht, woher zum Teufel das kommt. Es ist weder Blumenkohl noch Parfüm - ich weiß nicht was -, aber man weiß immer sofort, daß man zu Hause ist. Ich wollte schon den Mantel ausziehen und in den Schrank hängen, aber dieser Schrank im Gang ist voll von Kleiderbügeln, die wie toll klappern, wenn man ihn aufmacht. Deshalb behielt ich den Mantel an. Dann ging ich ganz langsam zu Phoebes Zimmer. Das Dienstmädchen konnte mich nicht hören, das wußte ich, weil sie auf einem Ohr taub ist. Ihr Bruder hatte ihr einen Strohhalm durch das Trommelfell gestoßen, als sie noch klein war. Sie ist ziemlich schwerhörig. Aber meine Eltern hören so gut wie Bluthunde, besonders meine Mutter.

Ich nahm mich also wirklich sehr in acht, bis ich an ihrem Zimmer vorbei war. Ich hielt sogar den Atem an, großer Gott. Meinem Vater kann man mit einem Stuhl auf den Kopf hauen, ohne daß er aufwacht, während man für meine Mutter nur irgendwo in Sibirien zu husten braucht - das genügt schon, daß sie einen hört.

Nach ungefähr einer Stunde war ich endlich in Phoebes Zimmer angelangt. Sie war aber nicht da.

Das hatte ich ganz vergessen. Sie schläft nämlich in D.B.s Zimmer, wenn er in Hollywood oder sonst irgendwo ist, weil er das größte Zimmer von allen hat. Und auch, weil ein wahnsinnig großer Schreibtisch darin steht, den D.B. einer alten Alkoholikerin in Philadelphia abgekauft hat, und ein riesiges, ungefähr zehn Kilometer langes und zehn Kilometer breites Bett. Ich weiß nicht, wo er dieses Bett her hat. Jedenfalls schläft also Phoebe gern in D.B.s Zimmer, wenn er fort ist, und er erlaubt es ihr. Das muß man einfach gesehen haben, wie sie ihre Aufgaben an diesem verrückten Schreibtisch macht. Er ist fast so groß wie das Bett. Phoebe ist kaum mehr zu sehen, wenn sie an ihren Aufgaben sitzt. So etwas gefällt ihr. Ihr eigenes Zimmer hat sie nicht gern, weil es zu klein ist, sagt sie. Das haut mich jedesmal um. Für was braucht die gute alte Phoebe Platz? Für nichts.

Ich schlich also geräuschlos in D.B. s Zimmer und drehte die Schreibtischlampe an. Phoebe wachte nicht auf. Ich betrachtete sie eine Weile. Sie lag da und schlief mit ihrem Kopf irgendwie auf einer Seite des Kissens. Den Mund hatte sie weit offen. Wenn Erwachsene schlafen und den Mund offen haben, sehen sie häßlich aus, aber Kinder nicht. Bei Kindern ist es ganz in Ordnung. Das Kissen kann sogar voll Speichel sein, und doch sehen sie noch nett aus.

Ich ging leise im Zimmer herum und schaute mir alles an. Zur Abwechslung fühlte ich mich einmal wohl. Sogar das Gefühl, daß ich Lungenentzündung bekommen könnte, war weg. Ich fühlte mich einfach nur wohl. Phoebes Kleider waren auf dem Stuhl am Bett. Für ein Kind ist sie sehr ordentlich.

Ich meine, sie wirft ihre Sachen nicht einfach herum wie andere Kinder. Sie ist gar nicht schlampig.

Die Jacke von einem braunen Kostüm, das meine Mutter ihr in Kanada gekauft hatte, hing an der Stuhllehne. Ihre Bluse und das übrige Zeug lag auf dem Sitz. Schuhe und Socken waren am Boden unter dem Stuhl, schön nebeneinander. Ich hatte die Schuhe noch nicht gesehen. Sie waren neu.

Dunkelbraune Halbschuhe, ähnlich wie meine. Sie paßten fabelhaft zu dem Kostüm, das meine Mutter ihr in Kanada gekauft hatte. Meine Mutter zieht sie immer nett an, das muß man sagen. Für manche Sachen hat meine Mutter wirklich Geschmack. Sie eignet sich nicht zum Schlittschuhe kaufen oder so, aber Kleider kann sie kaufen. Ich meine, Phoebe hat immer irgend etwas Tolles an.

Die meisten Kinder werden schrecklich angezogen, auch wenn die Eltern wohlhabend sind. Ich wollte, jedermann könnte Phoebe in dem Kostüm sehen, das meine Mutter ihr in Kanada gekauft hatte. Ganz im Ernst.

Ich setzte mich an D.B.s Schreibtisch und schaute mir alles an, was darauf lag. Das meiste gehörte Phoebe, Schulsachen und so. Hauptsächlich Bücher. Zuoberst lag eines mit dem Titel
Lerne spielend rechnen.
Ich schlug es auf und sah mir die erste Seite an. Phoebe hatte hingeschrieben:

Phoebe Weatherfield Caulfield

4B-I

Das warf mich um. Ihr zweiter Name ist Josephine, um Himmels willen nicht Weatherfield. Aber sie hat ihn nicht gern. Jedesmal, wenn ich sie sehe, hat sie sich einen neuen zweiten Namen zugelegt.

Unter dem Rechenbuch lag ein Geographiebuch und unter dem Geographiebuch ein Übungsbuch für Rechtschreibung. Sie ist in allen Fächern gut, aber am besten kann sie Rechtschreibung. Zuunterst waren ein paar Notizbücher. Sie hat gegen fünftausend Notizbücher. Sicher gibt es kein anderes Kind, das so viele hat. Ich nahm eines und las die erste Seite. Darauf stand:

Bernice kommt in der Pause ich muß dir etwas sehr wichtiges sagen.

Sonst nichts. Auf der zweiten Seite:

Warum sind im Süden von Alaska so viele
Konservenfabriken?

Weil es so viel Lachs gibt.

Warum gibt es so viele wertvolle Wälder? weil das Klima dafür gut ist.

Was hat unsere Regierung getan, um den Eskimos in
Alaska das Leben zu erleichtern?

für morgen nachsehen!!!

Phoebe Weatherfield Caulfield

Phoebe Weatherfield Caulfield

Phoebe Weatherfield Caulfield

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