Die Begegnung war so plötzlich, daß an Ausweichen nicht zu denken war. Wie angewurzelt hielt das Mädchen auf der ersten Stufe. Athalarich sprang auf und wandte sich rasch. Eine helle Röte flammte über sein marmorbleiches Gesicht. Doch faßte er sich zuerst von beiden und sprach:
«Vergib, Kamilla. Ich konnte dich nicht hier erwarten. Zu dieser Stunde. Ich gehe. Und lasse dich allein mit der Sonne.» Und er schlug den weißen Mantel über die linke Schulter.
«Bleib, König der Goten. Ich habe nicht das Recht, dich zu verscheuchen - und nicht die Absicht», fügte sie bei.
Athalarich trat einen Schritt näher. «Ich danke dir. Aber ich bitte dich um eins», setzte er lächelnd hinzu, «verrate mich nicht an meine Ärzte, an meine Mutter. Sie sperren mich den ganzen Tag über so sorgsam ein, daß ich ihnen wohl vor Tag entschlüpfen muß. Denn die frische Luft, die Seeluft tut mir gut. Ich fühl's. Sie kühlt. Du wirst mich nicht verraten.» Er sprach so ruhig. Er blickte so unbefangen.
Diese Unbefangenheit verwirrte Kamilla. Sie wäre viel mutiger gewesen, wenn er bewegter. Sie sah diese Unbefangenheit mit Schmerz. Aber nicht um der Pläne des Präfekten willen. So schüttelte sie nur schweigend das Haupt zur Antwort. Und sie senkte die Augen.
Jetzt erreichten die Strahlen der Sonne die Höhe, auf der die beiden standen. Der alte Tempel und das Erz der Statuen schimmerten im Morgenlicht. Und eine breite Straße von zitterndem Gold bahnte sich von Osten her über die spiegelglatte Flut. «Sieh, wie schön!» rief Athalarich, fortgerissen von dem Eindruck. «Sieh die Brücke von Licht und Glanz.»
Sie blickte teilnehmend hinaus. «Weißt du noch, Kamilla?» fuhr er langsamer fort, wie in Erinnerungen verloren und ohne sie anzusehen, «weißt du noch, wie wir hier als Kinder spielten? Träumten? Wir sagten: die goldne Straße, von Sonnenstrahlen auf die Flut gezeichnet, führe zu den Inseln der Seligen.» -
«Zu den Inseln der Seligen!» wiederholte Kamilla. Im stillen bewunderte sie, mit welcher Zartheit und edlen Leichtigkeit er, jeden Gedanken an ihre letzte Begegnung fernhaltend, mit ihr in einer Weise verkehrte, die sie völlig entwaffnete. «Und schau', wie dort die Statuen glänzen: das wundersame Paar, Äneas und Amala! Höre, Kamilla, ich habe dir abzubitten.» Lebhaft schlug ihr Herz. Jetzt wollte er der Ausschmückung der Villa, der Quelle gedenken. Das Blut stieg ihr in die Wangen. Sie schwieg in peinlicher Erwartung. Aber ruhig fuhr der Jüngling fort: «Du weißt, wie oft wir, du die Römerin, ich der Gote, an diesem Ort in Wettreden den Ruhm und den Glanz und die Art unserer Völker priesen. Dann standest du unter dem Äneas und sprachst mir von Brutus und Camillus, von Marcellus und den Scipionen. Ich aber, an meines Ahnherrn Amala Schild gelehnt, rühmte Ermanarich und Alarich und Theoderich. Aber du sprachst besser als ich. Und oft, wenn der Schimmer deiner Helden mich zu überstrahlen drohte, lachte ich deiner Toten und rief: «Das Heute und die lebendige Zukunft ist meines Volkes!»
«Nun, und jetzt?» - «Ich spreche nicht mehr so. Du hast gesiegt, Kamilla!»
Aber indem er so sprach, schien er so stolz wie nie zuvor. Und dieser überlegene Ausdruck empörte die Römerin. Sie war ohnehin gereizt durch die unnahbare Ruhe, mit welcher der Fürst, auf dessen Leidenschaft man solche Pläne gebaut, ihr gegenüberstand. Sie begriff diese Ruhe nicht. Sie hatte ihn gehaßt, weil er es gewagt, ihr seine Liebe zu zeigen. Und jetzt lebte dieser Haß auf, weil er es vermochte, diese Liebe zu verbergen. Mit der Absicht, ihm wehzutun, sagte sie langsam: «So räumst du ein, König der Goten, daß deine Barbaren den
Völkern der Menschlichkeit nachstehen?»
'Ja, Kamilla», antwortete er ruhig, «aber nur in einem: im Glück! Im Glück des Geschickes wie im Glück der Natur. Sieh dort die Gruppe von Fischern, die ihre Netze aufhängen an den Olivenbäumen am Strande. Wie schön sind diese Gestalten! In Bewegung und Ruhe, trotz ihrer Lumpen: lauter Statuen! Hier das Mädchen mit der Amphora auf dem Haupt! Dort der Alte, der den Kopf auf den linken Arm gestützt, im Sande liegt und hinaus träumt ins Meer. Jeder Bettler unter ihnen sieht aus wie ein entthronter König. Wie sie schön sind! Und in sich eins und glücklich! Ein Schimmer ungebrochenen Glücks liegt über ihnen. Wie über Kindern! Oder edlen Tieren! Das fehlt uns Barbaren!» - «Fehlt euch nur das?» - «Nein, uns fehlt auch Glück im Schicksal.
Mein armes, herrliches Volk! Wir sind hier herein verschlagen in eine fremde Welt, in der wir nicht gedeihen. Wir gleichen der Blume der hohen Alpen, dem Edelweiß, die vom Sturmwind vertragen ward in den heißen Sand der Niederung. Wir können nicht wurzeln hier. Wir welken und sterben.» -
Und mit edler Wehmut blickte er hinaus in die blaue Flut. Aber Kamilla hatte nicht die Stimmung, diesen weissagerischen Worten eines Königs über sein Volk nachzusinnen. «Warum seid ihr gekommen?» fragte sie mit Härte. «Warum seid ihr über die Berge gedrungen, die ein Gott als ewige Marken gesetzt hat zwischen euch und uns. Sprich, warum?»
«Weißt du», sprach Athalarich, ohne sie anzublicken, wie mit sich selber und für sich selber fortdenkend, «weißt du, warum die dunkle Motte nach der hellen Flamme fliegt? Wieder, immer wieder! Von keinem Schmerz gewarnt, bis sie verzehrt ist von der schönen, lockenden Feindin? Aus welchem Grund? Aus einem süßen Wahnsinn! Und solch ein süßer Wahnsinn ist es, ganz derselbe, der meine Goten aus den Tannen und Eichen hinweggezogen hat zu Lorbeer und Olive. Sie werden sich die Flügel verbrennen, die törichten Helden. Und werden doch nicht davon lassen. Wer will sie drum schelten? Sieh um dich her. Wie tief blau der Himmel! wie tief blau das Meer! und darin spiegeln die Wipfel der Pinien und die Säulentempel voll Marmorglanz! und fern da drüben ragen schön gewölbte Berge und draußen in der Flut schwimmen grüne Inseln, wo sich die Rebe um die Ulme schlingt. Und drüber hin die weiche, die warme, die kosende Luft, die alles erhellt. Welche Wunder der Formen, der Farben trinkt das Auge und atmen die entzückten Sinne! Das ist der Zauber, der uns ewig locken und ewig verderben wird.»
Die tiefe und edle Erregung des jungen Königs blieb nicht ohne Eindruck auf Kamilla. Die tragische Gewalt dieser Gedanken ergriff ihr Herz; aber sie wollte nicht ergriffen sein. Sie wehrte sich gegen ihre weicher werdende Empfindung. Sie sagte kalt: «Ein ganzes Volk gegen Verstand und Einsicht vom Zauber angezogen?» und kalt und zweifelnd sah sie ihn an.
Aber sie erschrak: denn wie Blitze loderte es aus den dunklen Augen des Jünglings, und die lang zurückgehaltne Glut brach plötzlich aus den Tiefen seiner Seele: «Ja, sag' ich dir, Mädchen!» rief er leidenschaftlich. «Ein ganzes Volk kann eine törichte Liebe, einen süßen, verderblichen Wahnsinn, eine tödliche Sehnsucht pflegen so gut wie - so gut wie ein einzelner. Ja, Kamilla, es gibt eine Gewalt im Herzen, die stärker als Verstand und Wille, uns sehenden Auges ins Verderben reißt. Aber du weißt das nicht! Und mögest du's nie erfahren. Niemals. Leb wohl!»
Und rasch wandte er sich und bog rechts vom Tempel in den dichten Laubgang von rankendem Wein, der ihn sofort vor Kamilla wie vor den Fenstern des Schlosses verbarg.
Sinnend blieb das Mädchen stehen.
Seine letzten Worte klangen seltsam fort in ihren Gedanken: lange sah sie träumend ins offne Meer hinaus, und mit wundersam gemischter Empfindung, mit verwandelter
Stimmung, kehrte sie endlich wieder dem Schlosse zu.
Achtes Kapitel
Вы читаете Ein Kampf um Rom