überwältigen. Sie wankte, mühsam hielt sie sich aufrecht an dem breiten Marmorgeländer der Terrasse: ein Fieberschauer rüttelte an ihrem Leibe wie das Grauen der Verlassenheit an ihrer Seele.

«Aber mein Volk!» sprach sie zu sich selbst, «und meine Buße - ich will's vollenden.» Gekräftigt von diesem Gedanken eilte sie die Stufen der Treppe hinab und bog in den von Efeu überwölbten Laubengang ein, der quer durch den Garten führte und an dem Venustempel mündete. Rasch schritt sie voran, erbebend, wenn zu einem der Seitengänge das Herbstlaub wie seufzend hereinwirbelte.

Atemlos langte sie vor dem kleinen Tempel an und ließ ringsum die suchenden Blicke schweifen. Aber keine Sänfte, keine Sklaven waren zu sehen, rings war alles still: nur die Äste der Platanen seufzten im Winde.

Da schlug das nahe Wiehern eines Pferdes an ihr Ohr.

Sie wandte sich: um den Vorsprung der Mauer bog mit hastigen Schritten ein Mann. Es war Dolios. Er winkte, scheu umherspähend. Rasch eilte die Fürstin auf ihn zu, folgte ihm um die Ecke, und vor ihr stand Cassiodors wohlbekannter gallischer Reisewagen, die bequeme und vornehme Carruca, von allen vier Seiten mit verschiebbaren Gitterläden von feinem Holzwerk umschlossen, und mit dem raschen Dreigespann belgischer Manni beschirrt.

«Eile tut not, o Fürstin», flüsterte Dolios, sie in die weichen Polster hebend. «Die Sänfte ist zu langsam für den Haß deiner Feinde. Stille und Eile, daß uns niemand bemerkt.»

Amalaswintha blickte noch einmal um sich.

Dolios öffnete das Tor des Gartens und führte den Wagen vor dasselbe hinaus. Da traten zwei Männer aus dem Gebüsch: der eine bestieg den Sitz des Wagenlenkers vor ihr: der andere schwang sich auf eines der beiden gesattelt vor dem Tore stehenden Rosse. Sie erkannte die Männer als vertraute Sklaven Cassiodors, sie waren wie Dolios mit Waffen versehen. Dieser sperrte wieder sorgfältig das Gartentor und ließ die Gitterladen des Wagens herab. Dann warf er sich auf das zweite der Pferde und zog das Schwert: «Vorwärts!» rief er.

Und von dannen jagte der kleine Zug, als wär' ihm der Tod auf der Ferse.

Fünftes Kapitel

Die Fürstin wiegte sich in Gefühlen des Dankes, der Freiheit, der Sicherheit. Sie baute schöne Entwürfe der Sühne.

Schon sah sie ihr Volk durch ihre warnende Stimme gerettet vor Byzanz, vor dem Verrat des eignen Königs. Schon hörte sie den begeisterten Ruf des tapferen Heeres, der den Feinden Verderben, ihr aber Verzeihung kündete. In solchen Träumen verflogen ihr die Stunden, die Tage und Nächte. Unausgesetzt eilte der Zug vorwärts: drei-, viermal des Tages wurden die Pferde des Wagens und der Reiter gewechselt, so daß sie Meile um Meile wie im Fluge zurücklegten.

Wachsam hütete Dolios die ihm anvertraute Fürstin, mit gezogenem Schwert schützte er den Zugang zum Wagen, während seine Begleiter Speise und Wein aus den Stationen holten. Jene geflügelte Eile und diese treue Wachsamkeit benahmen Amalaswinthen einer Besorgnis, deren sie sich eine Weile nicht hatte erwehren können: ihr war, sie würden verfolgt.

Zweimal, in Perusia und in Clusium, glaubte sie, wie der Wagen hielt, ja in Clusium meinte sie, aus dem niedergelassenen Gitterladen zurückspähend, eine zweite Carruca, ebenfalls von Reitern begleitet, in das Tor der Stadt einbiegen zu sehen.

Aber als sie Dolios davon sprach, jagte der spornstreichs nach dem Tore zurück und kam sogleich mit der Meldung wieder, daß nichts wahrzunehmen sei; auch hatte sie von da ab nichts mehr bemerkt, und die rasende Eile, mit der sie sich dem ersehnten Eiland näherte, ließ sie hoffen, daß ihre Feinde, selbst wenn sie ihre Flucht entdeckt und eine Strecke weit verfolgt haben sollten, alsbald ermüdet zurückgeblieben seien.

Da verdüsterte ein Unfall, unbedeutend an sich, aber unheilkündend durch seine begleitenden Umstände, plötzlich die helle Stimmung der flüchtenden Fürstin.

Es war hinter der kleinen Stadt Martula.

Öde, baumlose Heide dehnte sich unabsehbar nach jeder Richtung: nur Schilf und hohe Sumpfgewächse ragten aus den feuchten Niederungen zu beiden Seiten der römischen Hochstraße und nickten und flüsterten gespenstisch im Nachtwind. Die Straße war hin und wieder mit niedern, von Reben überflochtenen Mauern eingefaßt und, nach altrömischer Sitte, mit Grabmonumenten, die aber oft traurig zerfallen waren und mit ihren auf dem Wege zerstreuten Steintrümmern den Pferden das Fortkommen erschwerten.

Plötzlich hielt der Wagen mit einem heftigen Ruck, und Dolios riß die rechte Tür auf. «Was ist geschehen», rief die Fürstin erschreckt, «sind wir in des Feindes Hand?»

«Nein», sprach Dolios, der, ihr von je als verschlossen und finster bekannt, auf dieser Reise fast unheimlich schweigsam schien, «ein Rad ist gebrochen. Du mußt aussteigen und warten, bis es gebessert.»

Ein heftiger Windstoß löschte in diesem Augenblick seine Fackel, und naßkalter Regen schlug in der Bestürzten Antlitz. «Aussteigen? hier? Und wohin dann? Hier ist nirgend ein Haus, ein Baum, der Schutz böte vor Regen und Sturm. Ich bleibe in dem Wagen.» - «Das Rad muß abgehoben werden. Dort das Grabmal mag dir Schutz gewähren.»

Mit einem Schauer von Furcht gehorchte Amalaswintha und schritt über die Steintrümmer, die ringsum zerstreut lagen, nach der rechten Seite des Weges, wo sie jenseits des Grabens ein hohes Monument aus der Dunkelheit ragen sah. Dolios half ihr über den Graben.

Da schlug von der Straße hinter ihrem Wagen her das Wiehern eines Pferdes an ihr Ohr. Erschrocken blieb sie stehen.

«Es ist unser Nachreiter», sagte Dolios rasch, «der uns den Rücken deckt, komm.»

Und er führte sie durch feuchtes Gras den Hügel heran, auf dem sich das Monument erhob. Oben angelangt setzte sie sich auf die breite Steinplatte eines Sarkophags.

Da war Dolios plötzlich im Dunkel verschwunden, vergebens rief sie ihn zurück. Bald sah sie unten auf der Straße seine Fackel wieder brennen: rot leuchtete sie durch die Nebel der Sümpfe, und der Sturm entführte rasch den Schall der Hammerschläge der Sklaven, die an dem Rade arbeiteten.

So saß die Tochter des großen Theoderich, einsam und todesflüchtig, auf der Heerstraße in unheimlicher Nacht; der Sturm riß an ihrem Mantel und Schleier, der feine kalte Regen durchnäßte sie, in den Zypressen hinter dem Grabmal seufzte melancholisch der Wind, oben am Himmel jagte zerfetztes Gewölk und ließ nur manchmal einen flüchtigen Mondstrahl durch, der die gleich wieder folgende Dunkelheit noch düsterer machte.

Banges Grauen durchschlich fröstelnd ihr Herz.

Allmählich gewöhnte sich ihr Auge an die Dunkelheit, und umhersehend konnte sie die Umrisse der nächsten Dinge deutlicher unterscheiden. Da - ihr Haar sträubte sich vor Entsetzen - da war ihr, als säße dicht hinter ihr auf dem erhöhten Hintereck des Sarkophags eine zweite Gestalt: - ihr eigener Schatten war es nicht -: eine kleinere Gestalt in weitem faltigem Gewand, die

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