Zelle.
Da sie hier keine Beleuchtung hatten, hätten sie den Zettel nicht noch einmal lesen können, doch das war auch nicht nötig, da sich Pieter Kip seines Inhalts Wort für Wort erinnerte.
Ja, hier war eine Entweichung geplant, bei der es sich um O'Brien und Macarthy, sowie um den Aufseher Farnham handelte Dieser mußte die Flucht der anderen erleichtern, ihnen am Abend des 5. Mai, also nach sechsunddreißig Stunden, Gelegenheit vermitteln, nach der Saint-Jamesspitze zu gelangen. Hier sollte, wenn die Dunkelheit es gestattete, ein Boot ans Land kommen, das Boot des Schiffes, das von Hobart-Town kam. Hatte der Zustand des Meeres ein Verlassen der Reede vereitelt, so sollte bis zum nächsten, wenn nötig, bis zum übernächsten Tage gewartet werden, doch wer konnte im voraus wissen, ob die Flüchtlinge bis dahin nicht entdeckt, wieder eingefangen und in die Strafanstalt gebracht würden.
»Mag sein, erklärte Karl Kip, jedenfalls haben sie Aussicht, daß ihr Plan gelingt. Sie brauchen sich nicht in den Wäldern zu verstecken, wo sie Gefahr laufen, von Soldaten und Wächtern verfolgt zu werden. Sie brauchen auch nicht durch die Palissaden der Landenge zu dringen, auf die Gefahr hin, von den Wachthunden zerrissen zu werden. Nein, die Küste ist ja nur fünf Seemeilen entfernt, und ihr Arbeitsplatz ist jetzt in deren Nähe. Dann erscheint ein Schiff, ein Boot davon nimmt sie auf, binnen wenigen Stunden wird es das Kap Pillar umfahren haben, während wir, wir,
- Lieber Bruder, bemerkte Pieter Kip, du vergißt ganz, daß weder O'Brien oder Macarthy, noch Farnham selbst etwas von dem weiß, was du hier aussprachst.
- Das ist freilich wahr. Die armen Leute!
- Ich glaube, es wird ihnen bekannt sein, daß eine schriftliche Nachricht am Fuße eines Baumes niedergelegt worden ist, und ich erinnere mich auch, gesehen zu haben, daß Farnham auf jene Stelle zuging. Da hat er natürlich den Zettel nicht mehr gefunden und wird gefürchtet haben, daß dieser von einem anderen Aufseher aufgehoben und dem Gouverneur eingehändigt worden sei. Dann mußte er annehmen, daß Maßnahmen getroffen würden, die jede Flucht unmöglich machten.
- Der Zettel, rief Karl Kip, ist aber von niemand gefunden worden, als von dir, was er enthielt, das wissen nur wir zwei, und da liegt doch noch kein Hindernis vor, das die Flucht vereiteln müßte.
- Gewiß nicht, Karl, wenigstens wenn O'Brien und Macarthy von der Sachlage unterrichtet wären, das ist aber nicht der Fall.
- Sie werden jedoch Mitteilung erhalten, Pieter, es muß sein! Vergessen wir nicht, daß sie uns wiederholt verteidigt haben, denken wir daran, daß es sich darum handelt, glühende Patrioten diesem Bagno zu entreißen, zwei Männer, die weiter keine Schuld belastet als die, von der Unabhängigkeit ihres Heimatlandes geträumt zu haben!
- Morgen, Karl, morgen werden wir schon Mittel und Wege finden, ihnen den Zettel zu übergeben.
- Und warum, sagte Karl Kip, die Hände seines Bruders ergreifend, warum sollten wir nicht mit ihnen fliehen?«
Diese Frage hatte Pieter Kip schon erwartet. Ihm selbst war dieser Gedanke ja auch gekommen, er hatte darüber nachgedacht und das Für und Wider erwogen.
Ja ja, wenn sich die ersehnte Gelegenheit darbot, wenn er den beiden Irländern den Zettel zugesteckt hätte und diese dessen Inhalt kannten, wenn sie erfahren hatten, daß alles für ihr Entfliehen vorbereitet war, daß das Schiff sich der Saint-Jamesspitze nähern und ein Boot absenden sollte, das sie am Abend des 5. da erwartete, wenn nun dann Pieter Kip zu ihnen sagte: »Wir erwarten von euch, nur mit uns zu fliehen!«, hätten sie das wohl abschlagen können? Würden sie die beiden Holländer als unwürdig, ihnen zu folgen, zurückweisen?
In den Augen dieser Feniers waren die Gebrüder Kip freilich schwere Verbrecher, die kein Mitleid verdienten, und wenn sie diesen gestatteten, mit ihnen zu entfliehen, gaben sie damit nicht Mördern, den Mördern des Kapitäns Gibson, die verwirkte Freiheit wieder?
Pieter Kip hatte an alles das gedacht, gleichzeitig aber auch an die unablässigen Bemühungen des Herrn Hawkins, eine Wiederaufnahme ihres Prozesses herbeizuführen, nein, selbst wenn es ihm angeboten würde, zu entfliehen, er hätte das abweisen müssen!
Wenn er jedoch auch unerschüttertes Vertrauen auf die Zukunft hatte, so teilte Karl das doch keineswegs. Auf eine ungewisse und fernliegende Wiedereinsetzung in den vorigen Stand ruhig zu warten, dazu konnte sich dieser nun einmal nicht entschließen. Dennoch machte was Pieter gegen ihn äußerte, auf ihn doch einen sehr tiefen Eindruck. Bebenden Herzens und in der Seele erregt, lauschte er den Worten des Bruders und empfand, daß sein Widerstand erlahmte.
»Höre mich an, liebster Bruder!, Ich habe mir alles wohl überlegt. Ich gebe zu, ja, nach dem Dienste, den wir ihnen leisten werden, maß ich zugeben, daß O'Brien und Macarthy es gar nicht abschlagen könnten, uns gleichzeitig mit ihnen entfliehen zu lassen, selbst wenn sie uns als Mörder ansehen,
- Die wir nicht sind! warf Karl Kip dazwischen ein.
- Die wir aber in ihren Augen, wie in denen so vieler, wenn nicht aller anderen sind, vielleicht mit Ausnahme des Herrn Hawkins. Nun sage mir, wenn es uns gelänge, aus der Strafanstalt zu entfliehen, das bewußte Schiff zu erreichen und nach Amerika zu entkommen, sage mir: was würden wir damit gewonnen haben?
- Die Freiheit, Pieter, die Freiheit, die über alles geht!
- Nennst Du denn das schon Freiheit, Bruder, wenn wir genötigt sind, uns unter falschem Namen zu verbergen, sobald die Polizei aller Länder von unserer Flucht unterrichtet ist und wir überall von einer Auslieferung bedroht sind?, Nein, mein armer Karl, wenn ich mir vorstelle, welches Leben wir unter solchen Verhältnissen zu führen hätten, da frag' ich mich, ob es denn doch nicht besser wäre, im Bagno auszuharren, nicht ratsamer, hier zu warten, bis unsere Unschuld an den Tag kommt.«
Karl Kip erwiderte kein Wort. In seinem Innern tobte ein furchtbarer Kampf. Er erkannte gut genug das Gewicht und die Berechtigung der Gründe, die sein Bruder gegen einen Fluchtversuch ins Feld führte. Im Fall des Gelingens stand ihnen mit dem Kainszeichen des Verbrechens an der Stirne da draußen nur ein elendes Leben bevor. In den Augen der beiden Feniers und ihrer Genossen blieben die Gebrüder Kip doch wie bisher nur die Mörder des Kapitäns Gibson.
Die ganze Nacht sprachen sie in ähnlicher Weise über diese Angelegenheit weiter und Karl Kip mußte sich schließlich fügen. Für all und jeden, selbst für Hawkins, wäre eine Flucht gleich dem Eingeständnisse der Schuld gewesen.
Inzwischen wurden O'Brien, Macarthy und Farnham von einer leicht erklärlichen Unruhe verzehrt. Kein Zweifel, Farnham konnte sich nicht getäuscht haben: der Mann, der die Straße auf und ab ging, war jener Walter gewesen, durch den er die erste Mitteilung erhalten hatte. Ein in ein grünes Blatt gewickelter Zettel war am Fuße des betreffenden Baumes niedergelegt worden, doch wenn sich dieser nicht mehr vorfand, war er da etwa dem Kapitän-Kommandanten schon ausgehändigt worden? Dann wußte also Skirtle, daß unter den auf den Zettel angegebenen Umständen eine Flucht vorbereitet war, und daß es sich dabei um die beiden Irländer O'Brien und Macarthy, sowie um deren Landsmann Farnham handelte. Das hatte bestimmt die allerstrengsten Maßregeln gegen diese drei zur Folge, und sie konnten damit auf die Hoffnung verzichten, ihre Freiheit jemals wieder zu erlangen.
Bis zum Tagesanbruch warteten deshalb die Unglücklichen, daß bei ihnen Polizeisoldaten erscheinen würden, sie in die Kerkerzellen der Anstalt abzuführen.
Der nächste Tag war ein Sonntag, und an einem solchen wurden die Sträflinge nicht mit Arbeiten außerhalb der Anstaltsmauern beschäftigt. Die Hausordnung
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