Was hatte sich auf der Welt verändert? War die Inquisition zur dritten Partei geworden? War sie nur noch eine der an diesem Spiel beteiligten Seiten? Die Dunklen, die Lichten und die Inquisition? Oder die Dunklen, die Lichten und das
In der Glaskanne brodelte das Wasser. Ich goss die auf dem Fensterbrett aufgestellten Tassen auf. Stellte Kaffeepulver, Zucker und ein Päckchen Milch bereit.
»Gorodezki, du weißt, dass heute der Große Vertrag verletzt worden ist?«, fragte Viteszlav plötzlich. Ich zuckte mit den Schultern.
»Du brauchst nicht zu antworten«, sagte Viteszlav. »Mir ist auch so klar, dass du es verstanden hast. Jemand aus der Nachtwache hat die Inquisition zu dieser unüberlegten Handlung gedrängt… Und danach hat die Wache das Recht bekommen, diesen einen Menschen auf ihre Seite zu ziehen. Ich glaube nicht, dass er der Nachtwache einen großen Vorteil bringen wird.«
Das glaubte ich auch nicht. Timur Borissowitsch würde nicht lernen, die Kraft des
»Gewissenlos«, sagte Viteszlav bitter. »Die Ausnutzung der beruflichen Stellung zu persönlichen Zwecken!«Unwillkürlich schnaubte ich. »Was ist daran so komisch?«, fuhr mich Viteszlav an.
»Ich glaube, Geser hat Recht. Sie sitzen wirklich schon zu lange hinter Ihrem Schreibtisch.«
»Willst du damit behaupten, für dich sei das alles ganz normal?«, fragte Viteszlav. »Es gebe keinen Grund, sich zu empören?«
»Ein Mensch, wenn auch nicht der beste auf der Welt, wird zum Lichten«, erwiderte ich. »Nun fügt er niemandem mehr etwas Böses zu. Im Gegenteil. Weshalb sollte ich mich darüber empören?«
»Lass es, Viteszlav«, riet Edgar mit leiser Stimme. »Gorodezki versteht das nicht. Er ist zu jung.«
Viteszlav nickte und nippte an seinem Kaffee. »Ich habe geglaubt, du würdest dich von dieser ganzen lichten Zunft unterscheiden«, sagte er dann finster. »Dass dir der Kern wichtig ist, nicht die Schale…«
»Ja, mir ist der Kern wichtig, Viteszlav!«, explodierte ich. »Und im Kern bist du ein Vampir! Und du, Edgar, bist ein Dunkler Magier! Ich weiß nicht, worin eurer Meinung nach die Verletzung des Großen Vertrages besteht, aber ich bin sicher, Sebulon wäre nichts zur Last gelegt worden!«
»Lichter Magier…«, brachte Viteszlav widerwillig hervor. »Adept des Lichts… Wir bewahren nur das Gleichgewicht, ist das klar? Und Sebulon müsste sich vor dem Tribunal verantworten, wenn er dergleichen getan hätte!«Doch ich ließ mich jetzt nicht mehr aufhalten.
»Sebulon hat schon viel angerichtet. Er hat versucht, meine Frau zu ermorden. Er hat versucht, mich zu ermorden. Er drängt die Menschen ständig zum Dunkel! Und du behauptest, irgendjemand von uns habe nicht ehrlich gehandelt, habe einen Falschspieler ausgetrickst? Kann schon sein, dass er nicht ehrlich gespielt hat. Aber den Regeln gemäß! Ihr regt euch die ganze Zeit darüber auf, wenn man euch auf euer Falschgeld entsprechend herausgibt… Warum? Das lässt sich doch leicht einwechseln. Lernt endlich, ehrlich zu spielen.«
»Deine und unsere Ehrlichkeit lassen sich nicht vergleichen«, bemerkte Edgar. »Gehen wir, Viteszlav…«
Der Vampir nickte. Stellte seine noch nicht ausgetrunkene Tasse ab.
»Vielen Dank für den Kaffee, Lichter. Ich gebe dir deine Einladung, deine Wohnung zu betreten, zurück.«
Daraufhin verschwanden die beiden Inquisitoren. Nur der schweigsame Kostja blieb noch, der jetzt auf einem Hocker saß und Kaffee trank.
»Moralisten«, sagte ich wütend. »Oder glaubst du auch, dass sie Recht haben?«
»Nein, warum sollte ich?«, meinte Kostja lächelnd. »Sie haben es nicht besser verdient. Es war höchste Zeit, der Inquisition mal ihre Arroganz auszutreiben… Nur schade, dass es Geser war, der das gemacht hat, und nicht Sebulon.«
»Geser hat nichts gemacht«, widersprach ich. »Das hat er geschworen, das hast du doch gehört.«
Kostja zuckte mit den Achseln. »Ich habe keine Ahnung, wie er es geschafft hat. Aber das ist seine Intrige. Sebulon hatte gute Gründe, sich nicht einzumischen. Schlau ist er, der alte Fuchs, schlau… Weißt du, was ich mich frage?«
»Na?«, wollte ich angespannt wissen. Kostjas Unterstützung schmeckte mir irgendwie nicht.
»Was ist eigentlich der Unterschied zwischen uns? Wir intrigieren, ziehen die Leute, die wir brauchen, auf unsere Seite. Und ihr macht ganz genau dasselbe. Wenn Geser aus seinem Sohn einen Lichten machen will, dann tut er das. Alle Achtung! Von mir aus, bitte schön.«
Kostja lächelte.
»Was meinst du, wer hatte im Zweiten Weltkrieg Recht?«, wollte ich wissen.
»Was soll die Frage?«Jetzt spannte sich Kostja an, denn er vermutete nicht ohne Grund eine Falle. »Antworte.«
»Wir hatten Recht«, antwortete Kostja patriotisch. »Übrigens haben auch einige Vampire und Tiermenschen mitgekämpft! Zwei haben sogar den Stern des Helden bekommen!«
»Und warum haben ausgerechnet wir Recht? Stalin hätte doch auch am liebsten ganz Europa geschluckt. Wir haben friedliche Städte bombardiert, Museen geplündert, Deserteure erschossen…«
»Aber das waren doch unsere Leute! Deshalb waren sie im Recht!«
»Und jetzt sind unsere Leute im Recht. Und unsere Leute -das sind die Lichten.«
»Das heißt, du empfindest es so«, stellte Kostja klar. »Und deswegen erhebst du keine Einwände?«Ich nickte.
»Ha…«, meinte Kostja verächtlich. »Dann nenn mir wenigstens ein zündendes Argument dafür. »
»Wir trinken kein Blut«, entgegnete ich.
Kostja stellte die Tasse auf den Boden. Erhob sich. »Ich danke dir für die Gastfreundschaft. Ich gebe dir deine Einladung, deine Wohnung zu betreten, zurück.«
Dann blieb ich allein - in der großen leeren Wohnung, in trauter Zweisamkeit mit den nicht vollständig geleerten Tassen, der offenen Mikrowelle und dem verbliebenen Wasser im Kessel…
Warum hatte ich es in der Mikrowelle warm gemacht? Eine einzige Handbewegung - und das Wasser hätte direkt in den Tassen gebrodelt.
Ich holte das Handy heraus und wählte Swetlanas Nummer. Sie meldete sich nicht. Vermutlich ging sie gerade mit Nadjuschka spazieren, hatte das Handy aber wie üblich zu Hause liegen lassen…
In meinem Innern herrschte durchaus nicht diese Unbeschwertheit, die ich vorzutäuschen versucht hatte.
Was machte uns denn nun wirklich zu den besseren Anderen? Intrigierten, kämpften und täuschten wir etwa nicht? Ich brauchte eine Antwort. Wieder mal. Und nicht von dem Schlaukopf Ge-ser, der mich in ein Geflecht aus Worten einzuspinnen verstand. Und nicht von mir selbst, denn ich traute mir nicht mehr. Ich brauchte eine Antwort von einem Menschen, dem ich vertraute.
Und ich musste verstehen, wie Geser die Inquisition ausgetrickst hatte.
Denn wenn er etwas beim Licht geschworen hatte und das eine Lüge war… Wofür kämpfte ich dann?
»Soll doch alles…«, setzte ich an, verstummte dann aber. Du darfst nicht fluchen - das bringt man dir bereits in den ersten Tagen nach der Initiierung bei. Und jetzt hätte ich beinahe die Kontrolle verloren… Soll doch alles… Soll es doch einfach sein.
