Zweite Geschichte

Niemandsraum

Prolog

Schon immer machten im Umland von Moskau entweder arme oder reiche Menschen Urlaub. Dagegen bevorzugt die Mittelklasse türkische Hotels, bei denen »alles inklusive ist, Getränke frei Hahn«, entscheidet sich für die Siesta im brütend heißen Spanien oder für den sauberen Strand Kroatiens. In Mittelrussland verbringt die Mittelklasse ihren Urlaub jedoch nicht gern. Übrigens ist die Mittelklasse in Russland nicht zahlreich.

Ein Biologielehrer gehört, selbst wenn er an einem renommierten Moskauer Gymnasium unterrichtet, nicht dazu. Wenn der Lehrer dann noch eine Lehrerin ist, deren Schweinehund von Mann sie vor drei Jahren wegen einer andern hat sitzen lassen und die um ihre Pflicht als Mutter, die beiden Kinder zu erziehen, nicht herumkommt, dann kann sie von türkischen Hotels nur träumen.

Glücklicherweise hatten die Kinder das schreckliche Alter der Pubertät noch nicht erreicht und freuten sich aufrichtig, zu der alten Datscha zu fahren, begnügten sich mit dem kleinen Fluss und dem direkt hinterm Dorf beginnenden Wald.

Bedauerlicherweise legte die ältere Tochter jedoch zu viel Gewicht auf ihren Status als Ältere. Freilich, mit zehn Jahren kann man schon recht gut auf den fünfjährigen Bruder aufpassen, wenn er in dem Flüsschen herumplanscht, sollte aber immer noch nicht - womöglich im Vertrauen auf die aus dem Schulbuch Unsere Heimat erworbenen Kenntnisse - zu tief in den Wald hineingehen.

Bislang war der zehnjährigen Xjuscha freilich nicht einmal bewusst, dass sie beide sich im Wald verlaufen hatten. Fest hielt sie ihren Bruder bei der Hand und ging einen kaum zu erahnenden Pfad entlang. »Und dann haben sie wieder Kiefernpflöcke in ihn hineingehauen!«, erzählte sie. »Einen Pflock in die Stirn, einen in den Bauch! Er ist aus dem Grab auferstanden und hat gesagt: »Trotzdem werdet ihr mich nicht umbringen! Ich bin schon lange tot! Und ich heiße…«Ihr Bruder wimmerte leise.

»Schon gut, keine Angst, das war doch nur ein Spaß«, sagte Xjuscha ernst. »Er ist umgefallen und war tot. Man hat ihn begraben und ein Fest gefeiert.«

»Sch-sch-schrecklich«, gab Romka zu. Er stotterte nicht vor Angst, er stotterte immer. »So was er- erzählst du mir nie wie-wieder, ja?«

»Versprochen«, erwiderte Xjuscha und sah sich um. Hinter ihnen ließ sich der Pfad noch erkennen, vor ihnen verlor er sich indes unter abgefallenen Tannennadeln und verfaulten Blättern. Unmerklich war der Wald schummrig und dunkel geworden. Er glich hier nicht mehr dem hinterm Dorf, wo ihre Mutter eine Datscha gemietet hatte, ein altes, aufgegebenes Haus. Sie mussten umkehren, bevor es zu spät war. Als ältere und besorgte Schwester wusste Xjuscha das. »Gehen wir nach Hause, sonst schimpft Mama noch mit uns.«

»Da ist ein Hund«, sagte ihr Bruder plötzlich. »Guck mal, da ist ein Hund!« Xjuscha drehte sich um.

Hinter ihr stand tatsächlich ein Hund. Ein großer grauer Hund mit Fangzähnen. Der sie ansah und das Maul aufriss, als lächle er.

»So einen Hund möchte ich haben«, sagte Romka ohne zu stocken und sah seine Schwester voller Stolz an.

Xjuscha, ein Stadtkind, hatte Wölfe bisher nur auf Bildern gesehen. Und im Zoo, wo es allerdings nur irgendwelche seltenen Sumatrawölfe gab… Jetzt bekam sie es mit der Angst zu tun.

»Gehen wir, komm«, hauchte sie ganz leise und packte Romka fester bei der Hand. »Das ist ein fremder Hund, mit dem dürfen wir nicht spielen.«

Vermutlich erschreckte irgendetwas in ihrer Stimme Romka. Und zwar so, dass er nicht zu heulen anfing, sondern die Schwester von sich aus an der Hand fasste und ihr gehorsam folgte.

Der graue Hund blieb ein Weilchen stehen und lief den Kindern dann langsam hinterher.

»Er ff-folgt uns«, sagte Romka, als er sich einmal umdrehte. »Xjucha, ist da-das ein Wolf?«

»Das ist ein Hund«, erwiderte Xjuscha. »Du darfst nicht wegrennen, hörst du? Wölfe beißen diejenigen, die wegrennen!«

Der Hund stieß einen hüstelnden Laut aus, fast eine Art Lachen.

»Lauf!«, schrie Xjuscha. Und sie rannten los, quer durch den ganzen Wald, durch das dichte pikende Gebüsch, vorbei an einem fürchterlich hohen Ameisenhaufen, der groß wie ein erwachsener Mann war, entlang an einer Reihe moosbewachsener Baumstümpfe; irgendjemand musste hier ein Dutzend Bäume gefällt und abtransportiert haben.

Bald verschwand der Hund, bald tauchte er wieder auf. Hinter ihnen, rechts, links. Von Zeit zu Zeit hüstelnd. Oder lachend. »Er lacht über uns!«, schrie Romka unter Tränen.

Der Hund war jetzt irgendwohin verschwunden. Xjuscha blieb an einer mächtigen Eiche stehen und drückte Romka an sich. Normalerweise sträubte sich ihr kleiner Bruder seit einiger Zeit gegen solche Zärtlichkeiten, doch diesmal leistete er keinen Widerstand, presste sich mit dem Rücken gegen seine Schwester und bedeckte die Augen verängstigt mit den Händen. »Ich ha-habe kei-keine Angst«, beteuerte er immer und immer wieder mit kaum hörbarer Stimme. »Hier ist niemand.«

»Nein, hier ist niemand«, versicherte Xjuscha. »Nun heul doch nicht! Der Wol… Hund passt auf seine Jungen auf. Deshalb hat er uns weggejagt. Hast du das verstanden? Wir gehen jetzt nach Hause.«

»Ja«, stimmte Romka erleichtert zu und nahm die Hände vom Gesicht. »Oj, da sind die Jungen!«

Die Angst verschwand, sobald er die aus dem Gebüsch heraustretenden Jungen sah. Drei kleine graue Tiere mit hoher Stirn und dummen Augen. »Die Ju-Jungen…«, rief Romka begeistert.

Xjuscha wollte panisch zur Seite springen. Die Eiche, gegen die sie sich pressten, ließ sie jedoch nicht los - das Baumwollkleidchen klebte fest am Harz. Xjuscha zerrte heftiger, der Stoff knisterte, löste sich.

Dann sah sie den Wolf. Er stand hinter ihr und lächelte. »Wir müssen auf den Baum raufklettern…«, flüsterte Xjuscha. Der Wolf lachte auf.

»Ob er nur will, dass wir mit seinen Jungen spielen?«, fragte Romka hoffnungsvoll.

Der Wolf schüttelte den grauen, dunkel gefleckten Kopf. Antwortete gleichsam: nein, nein. Ich möchte, dass meine Jungen mit euch spielen.

Dann schrie Xjuscha, so laut und durchdringend, dass selbst der Wolf einen Schritt zurücktrat und die Schnauze verzog. »Hau ab! Hau ab!«, brüllte Xjuscha und vergaß, dass sie ja bereits ein großes und ein tapferes Mädchen war.

»Schreit doch nicht so«, erklang es da in ihrem Rücken. »Ihr weckt ja den ganzen Wald auf…«

Mit aufkeimender Hoffnung drehten sich die Kinder um. Neben den Wolfsjungen stand eine erwachsene Frau, eine schöne, schwarzhaarige Frau, barfuß und in einem langen Leinengewand. Der Wolf knurrte drohend.

»Ganz brav«, sagte die Frau. Sie beugte sich vor und packte eines der Jungen beim Fell, das so reglos in ihren Armen hing, als schlafe es. Die andern waren ebenfalls an ihrem Platz erstarrt. »Wen haben wir denn hier?«

Der Wolf achtete nun nicht mehr auf die Kinder, sondern steuerte finster auf die Frau zu. Die stimmte einen Singsang an:

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