Aus dem Haus kam Swetlana - die ich nicht sah, sondern spürte. Also musste Nadjuschka sich beruhigt haben und in den süßen Nachmittagsschlaf gefallen sein… Sweta kam auf mich zu, blieb hinter mir stehen, zögerte kurz und legte mir dann ihre kühle Hand auf die Stirn. »Geht es dir nicht gut?«, fragte sie.

»Hm«, brummte ich. »Ich kann hier nichts machen, Swetka. Nichts. Wie hältst du das aus?«

»Ich bin schon als kleines Mädchen in dieses Dorf gekommen«, antwortete Swetlana. »Ich erinnere mich noch an Onkel Kolja, wie er kein Trinker war. Jung und lustig. Er hat mich Krümel auf dem Traktor mitgenommen. War nüchtern. Und hat Lieder gesungen. Kannst du dir das vorstellen? »

»War es früher besser?«, fragte ich.

»Die Leute haben weniger getrunken«, meinte Swetlana bloß. »Warum remoralisierst du ihn nicht, Anton? Ich habe doch gespürt, dass du das vorhattest, denn durch das Zwielicht ist ein Zittern gegangen. Hier gibt es keine Wächter… außer dir.«

»Willst du das Pferd von hinten aufzäumen?«, erwiderte ich grob. »Entschuldige… aber ich müsste doch wohl nicht mit Onkel Kolja anfangen.«

»Stimmt«, pflichtete Swetlana mir bei. »Aber eine Einmischung in das Tun der Regierungsbehörden ist durch den Vertrag verboten. Dem Menschen, was des Menschen ist, den Anderen das Andere… «

Ich schwieg. Ja, es war verboten. Weil es die einfachste und sicherste Möglichkeit bot, die Menschenmasse zum Guten oder zum Bösen zu bekehren. Was eine Zerstörung des Gleichgewichts bedeutet hätte. Es hat in der Geschichte Könige und Präsidenten gegeben, die zu den Anderen zählten. Und auch das hat nur mit Kriegen geendet…

»Du gehst hier ein, Anton«, meinte Swetlana, während sie mir über die Haare strich. »Lass uns nach Moskau zurückfahren.«

»Aber Nadjuschka hat ihren Spaß«, widersprach ich. »Und du wolltest doch auch noch eine Woche länger bleiben, oder?«

»Aber du quälst dich… Vielleicht willst du allein fahren? In der Stadt würdest du keine Trübsal blasen.«

»Ich könnte fast glauben, du willst mich loswerden«, brummte ich. »Weil du hier einen Liebhaber hast.«

»Kannst du mir auch nur einen Kandidaten nennen?«, schnaubte Swetlana.

»Nein«, bekannte ich nach kurzem Nachdenken. »Aber vielleicht hat jemand, der hier eine Datscha gemietet hat…«

»Hier herrscht die reinste Weiberwirtschaft«, fiel Swetlana mir ins Wort. »Entweder sind sie alleinstehend, oder die Männer sind den ganzen Tag auf Arbeit, während die Frauen mit den Kindern hier die Landluft genießen… Übrigens, Anton, hier ist etwas Komisches passiert…«

»Was denn?«, fragte ich neugierig. Wenn Swetlana schon von»etwas Komischem«sprach…

»Gestern hat mich doch Anna Viktorowna besucht, nicht wahr?«

»Die Paukerin?«, sagte ich schmunzelnd. Anna Viktorowna war eine so typische Lehrerin, dass sie direkt aus dem Kinderprogramm im Fernsehen entsprungen zu sein schien. »Ich dachte, sie habe deine Mutter besucht.«

»Meine Mutter und mich. Sie hat zwei Kinder, Romka, ihren kleinen fünfjährigen Sohn, und Xjuscha, die schon zehn ist. »

»Sehr löblich«, pries ich Anna Viktorowna.

»Veräppeln kann ich mich selbst. Vor zwei Tagen haben sich ihre Kinder im Wald verlaufen.«

Mit einem Schlag war die Müdigkeit von mir gewichen, ich setzte mich in der Hängematte auf und hielt mich mit der Hand am Baum fest. Sah Swetlana an. »Warum hast du das nicht gleich gesagt? Vertrag hin oder her, aber wenn…«

»Du brauchst dich nicht aufzuregen, sie haben sich verlaufen, haben aber auch wieder herausgefunden. Am Abend waren sie wieder da.«

»Das kommt in der Tat nicht häufig vor«, platzte ich heraus. »Kinder, die ein paar Stunden im Wald bleiben! Sie mögen doch nicht obendrein auch noch Erdbeeren?«

»Nachdem ihre Mutter ihnen die Leviten gelesen hatte, fingen sie an zu erzählen, dass sie sich verlaufen haben«, fuhr Swetlana unerschütterlich fort. »Und einem Wolf begegnet sind. Der Wolf hat sie durch den Wald gejagt, direkt zu seinen Jungen hin…«

»Hm…«, murmelte ich. Ich spürte, wie etwas bedenklich in meiner Brust schlug.

»Die Kinder hatten natürlich Angst. Dann ist plötzlich eine Frau aufgetaucht, die dem Wolf einen Vers aufgesagt hat, worauf dieser weggerannt ist. Dann hat die Frau die Kinder in ihr Häuschen gebracht, ihnen Tee gemacht und sie dann bis zum Waldrand begleitet. Sie hat behauptet, Botanikerin zu sein und Kräuter zu besitzen, vor denen Wölfe Angst haben…«

»Das sind kindliche Phantasien«, fiel ich ihr ins Wort. »Ist mit den beiden alles in Ordnung? »

»Absolut.«

»Ich habe schon irgendeine Gemeinheit befürchtet«, sagte ich und streckte mich wieder in der Hängematte aus. »Hast du sie auf Magie überprüft?«

»Sie sind absolut sauber«, informierte Swetlana mich. »Nicht die geringsten Spuren.«

»Phantasien. Oder sie haben tatsächlich vor jemandem Angst gehabt… vielleicht sogar vor einem Wolf. Und irgendeine Frau hat sie dann aus dem Wald herausgebracht. Die Kinder hatten wirklich Glück, auch wenn eine Tracht Prügel…«

»Der Kleine, Romka, hat gestottert. Ziemlich stark sogar. Jetzt spricht er absolut flüssig. Er plappert in einem fort, trägt kleine Gedichte vor…«

Ich dachte kurz nach. »Kann man Stottern heilen?«, fragte ich. »Durch Suggestion oder Hypnose… oder was es sonst noch so gibt.«

»Das ist nicht zu heilen. Im Unterschied zu Schnupfen. Und jeder Arzt, der dir verspricht, durch Hypnose sei das Stottern wegzukriegen, ist ein Scharlatan. Natürlich, wenn es eine reaktive Neurose wäre, dann…«

»Verschon mich mit diesen Begriffen«, bat ich. »Es lässt sich also nicht heilen. Und alternative Mittel?«

»Vielleicht könnten wilde Andere tatsächlich etwas ausrichten… Kannst du Stottern heilen?«

»Und nächtliches Bettnässen auch«, brummte ich. »Dito Einkoten. Aber du hast doch keine Magie gespürt, oder, Sweta? »

»Aber das Stottern ist weg.«

»Das kann nur eins heißen…«, räumte ich widerwillig ein. Ich seufzte und erhob mich nun doch aus der Hängematte. »Das sieht nicht gut aus, Sweta. Eine Hexe. Noch dazu von einer Kraft, die deine übersteigt. Und du stehst auf der ersten Kraftstufe!«

Swetlana nickte. Ich komme nur selten darauf zu sprechen, dass ihre Kraft meine übersteigt. Denn das ist das, was uns in erster Linie trennt - eines Tages vielleicht für immer.

Und Swetlana hatte extra die Nachtwache verlassen! Sonst… sonst wäre sie jetzt bereits eine Zauberin außerhalb jeder Kategorie.

»Aber den Kindern ist doch nichts passiert«, fuhr ich fort. »Kein widerlicher Zauberer hat sich an dem Mädchen vergriffen, keine böse Hexe hat aus dem Jungen Suppe gemacht… Also, wenn das eine Hexe ist, warum legt sie dann ein so gutes Verhalten an den Tag?«

»Hexen müssen nicht immer Menschen fressen oder zu sexueller Aggressivität neigen«, erwiderte Swetlana so ernst, als halte sie einen Vortrag. »Ihr ganzes Verhalten wird von normalem Egoismus bestimmt. Wenn eine Hexe sehr hungrig ist, dann könnte sie wohl in der Tat über einen Menschen herfallen. Einfach aus dem Grund, weil sie sich selbst nicht zu den Menschen zählt. Aber sonst… Warum hätte sie den Kindern nicht helfen sollen? Das kostet sie nichts. Sie hat sie aus dem Wald herausgebracht und das Stottern des Jungen geheilt. Womöglich hat sie selbst Kinder. Du würdest doch auch einen kleinen Hund füttern, der kein Zuhause mehr hat, oder?«

»Das gefällt mir nicht«, versicherte ich. »Eine Hexe von solcher Kraft? Sie erreichen doch nur selten

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