»Heiliger Strohsack aber auch!«, rief Arina und hüpfte von einem Fuß auf den andern.

Das klang absolut echt… Dennoch begriff ich mit unumstößlicher Sicherheit, dass die Hexe uns erwartet hatte.

»Guten Tag, Arina«, sagte Edgar ausdruckslos. »Die Inquisition. Ich bitte Sie, die Zauberei einzustellen.«

Behänd schob Arina den Topf in den Ofen. Erst danach drehte sie sich um. Sie wirkte jetzt wie eine vierzigjährige Frau, wie eine kräftige, korpulente schöne Bäuerin. Und wie eine sehr wütende. »Tagchen auch Ihnen, Herr Inquisitor!«, polterte sie bärbeißig los, die Hände in die Hüften gestemmt. »Die Zauberei stört Sie wohl, ja? Und ich? Ich darf mir dann meine Finken wohl noch mal fangen und den Adlern noch mal ein paar Federn ausrupfen?«

»Ihre Knittelverse sind nichts weiter als eine Stütze, um die Menge der Zutaten und die Abfolge der einzelnen Schritte im Gedächtnis zu behalten«, erwiderte Edgar ungerührt. »Ihren Trank der unbeschwerten Fortbewegung haben Sie schon längst gebraut, meine Worte konnten daran nichts ändern. Setzen Sie sich, Arina. Schließlich steckt die Wahrheit nicht in den Beinen, oder?«

»In den Beinen nicht, und weiter oben auch nicht«, antwortete Arina patzig und ging zum Tisch. Setzte sich und strich mit der Hand über die fröhlich mit Kamillen und Kornblumen bedruckte Schürze. Dann schielte sie zu mir hinüber.

»Guten Tag, Arina«, sagte ich. »Herr Edgar hat mich gebeten, ihn hierher zu bringen. Sie haben doch nichts dagegen?«

»Wenn ich etwas dagegen hätte, hättet ihr euch im Moor verlaufen!«, ließ sich Arina leicht beleidigt vernehmen. »Ich bin ganz Ohr, Herr Inquisitor Edgar. Was führt Sie denn zu mir?«

Edgar nahm Arina gegenüber Platz. Er griff mit der Hand unter sein Jackett und zog eine kleine Ledermappe hervor. Wo hatte er die denn versteckt gehabt?

»Ihnen wurde eine Vorladung zugesandt, Arina«, sagte der Inquisitor höflich. »Haben Sie die bekommen?«

Arina versank in Nachdenken. Edgar öffnete seine Mappe, um Arina einen schmalen Streifen gelben Papiers zu zeigen.

»Von 1931!«, stöhnte die Hexe. »Was für ein alter Wisch… Nein, den habe ich nicht bekommen. Ich habe schon dem Herrn von der Nachtwache erklärt, dass ich mich schlafen gelegt habe. Die Tschekisten wollten mir was anhängen…«

»Die Tscheka ist nicht das Schlimmste im Leben eines Anderen«, wandte Edgar ein. »Bei weitem nicht… Also, Sie haben diese Vorladung bekommen…»

»Nein«, widersprach Arina prompt.

»Sie haben sie nicht bekommen«, korrigierte sich Edgar. »Belassen wir es dabei. Der Bote ist nicht zurückgekehrt… Natürlich, dem angeheuerten Mitarbeiter kann in den finsteren Moskauer Wäldern alles Mögliche passiert sein.«Arina hüllte sich in Schweigen.

Ich stand an der Tür und beobachtete. Interessant. Die Arbeit des Inquisitors ließ sich zwar mit der eines x-beliebigen Wächters vergleichen, dennoch war die Situation nicht alltäglich. Ein Dunkler Magier verhörte eine Dunkle Hexe. Die obendrein weitaus stärker war als er - das musste Edgar klar sein.

Andererseits stand hinter ihm die Inquisition. Und damit konnte er auf die Hilfe»seiner«Wache verzichten.

»Nehmen wir einmal an, Sie bekämen die Vorladung jetzt«, fuhr Edgar fort. »Mir ist aufgetragen, mit Ihnen ein erstes Gespräch zu führen, bevor wir eine endgültige Entscheidung treffen. Also…«

Er holte ein weiteres Blatt Papier heraus. »Im März 1931 haben Sie im Ersten Moskauer Brotkombinat gearbeitet?«, fragte Edgar mit Blick auf das Blatt.

»Ja«, nickte Arina.

»Mit welchem Ziel?«

Arina sah zu mir herüber.

»Er weiß Bescheid«, sagte Edgar. »Antworten Sie.«

»Sowohl die Leitung der Nacht- wie auch die der Tagwache Moskaus hatten sich an mich gewandt«, meinte Arina seufzend. »Die Anderen wollten sehen, wie sich Menschen verhalten, wenn sie in strenger Übereinstimmung mit den kommunistischen Idealen leben. Da beide Wachen dasselbe wollten und die Inquisition ihr Anliegen unterstützte, habe ich zugestimmt. Städte habe ich nie gemocht, da ist es immer…»

»Weichen Sie nicht vom Thema ab…«, bat Edgar.

»Ich habe meine Aufgabe erfüllt«, kam Arina kurzerhand zum Ende. »Ich habe ein Elixier gebraut, das ich in den folgenden zwei Wochen in den Brotteig gegeben habe. Das war's! Die Wachen haben mich ihrer Dankbarkeit versichert, ich habe die Brotfabrik verlassen und bin in mein Dorf zurückgekehrt. Und da sind die Tschekisten völlig…«

»Über ihre komplizierte Beziehung zur Staatssicherheit können Sie sich in Ihren Memoiren auslassen«, fuhr Edgar sie plötzlich an. »Ich will wissen, warum Sie sich nicht an das Rezept gehalten haben!«

Langsam erhob sich Arina. Ihre Augen funkelten wütend, ihre Stimme dröhnte, als stünde in dieser Hütte nicht eine Frau, sondern das Weibchen von King Kong. »Merken Sie sich eins, junger Mann! Arina irrt sich niemals bei einem Rezept! Niemals!«Edgar beeindruckte sie damit nicht im Mindesten.

»Ich habe ja nicht gesagt, dass Sie sich geirrt hätten. Sie haben sich absichtlich nicht an das Rezept gehalten. Mit dem Ergebnis…«Er legte eine Pause ein.

»Mit welchem Ergebnis?«, empörte sich Arina. »Der fertige Trunk ist getestet worden! Er hatte genau die Wirkung, die er haben sollte!«

»Mit dem Ergebnis, dass die Wirkung des Kräutertranks unverzüglich einsetzte«, sagte Edgar. »Die Nachtwache ist noch nie eine Sammelstätte für dumme Idealisten gewesen. Die Lichten haben genau gewusst, dass alle zehntausend Versuchspersonen, die mit einem Schlag die kommunistische Moral übernehmen, verloren sind. Die Wirkung des Kräutertranks hätte allmählich einsetzen müssen, damit die Remoralisation in vollem Umfang erst in zehn Jahren zum Tragen gekommen wäre, also im Frühjahr 1941.«

»Sicher«, erwiderte Arina vernünftig. »Mein Trank war ja auch entsprechend.«

»Der Kräutertrank hat praktisch sofort gewirkt«, widersprach Edgar. »Wir haben nicht gleich durchschaut, was da vor sich ging, doch bereits nach einem Jahr hatte die Zahl der Probanden um die Hälfte abgenommen. Weniger als einhundert Menschen haben bis 1941 überlebt, nämlich diejenigen, die die Remoralisation überwinden konnten… indem sie eine gewisse moralische Flexibilität an den Tag legten.«

»Och, wie betrüblich.«Arina hob bedauernd die Hände. »Schlimm, schlimm, schlimm… die armen kleinen Menschen…«Sie setzte sich wieder. Schielte zu mir herüber. »Was ist, Lichter?«, fragte sie. »Glaubst du auch, dass ich den Dunklen in die Hände gearbeitet habe?«

Sollte sie lügen, dann tat sie das ausgesprochen überzeugend. Ich zuckte mit den Achseln.

»Ich habe alles genau richtig gemacht«, meinte Arina stur. »Die Hauptzutaten wurden ins Mehl gemischt… Wissen Sie eigentlich, wie schwierig in jenen Jahren Sabotage gewesen ist? Als Verzögerungsmittel für das Elixier diente einfacher Zucker…«Abermals hob sie die Hände. Dann sah sie Edgar triumphierend an. »Daran muss es gelegen haben! Hungerjahre, die Menschen haben den Zucker geklaut… Deshalb hat das Elixier zu schnell gewirkt…«

»Eine interessante Version«, kommentierte Edgar, während er seine Papiere durchblätterte.

»Mich trifft keine Schuld«, erklärte Arina fest. »Der Operationsplan ist abgesegnet worden. Wenn die Weisen der Wachen derart simple Sachen nicht bedenken, wessen Schuld ist das dann?«

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