»Das ist ja alles schön und gut«, versicherte Edgar und hielt ein Blatt Papier hoch. »Allerdings haben sie das erste Experiment an den Arbeitern der Brotfabrik vorgenommen. Hier ist Ihr Bericht, erkennen Sie ihn? Danach hätten sie keinen Zucker mehr stehlen dürfen. Damit bleibt nur eine Möglichkeit: Sie haben die Operation mit Absicht in den Sand gesetzt.«
»Wollen wir nicht weitere Versionen in Betracht ziehen?«, sagte Arina kläglichen Tones. »Zum Beispiel…«
»Zum Beispiel die Aussagen Ihrer Freundin Luisa gegen sie«, schlug Edgar vor. »Darüber, dass sie zufällig beobachtet hat, wie Sie an den Tagen, an denen die Operation durchgeführt wurde, mit einem bislang noch nicht identifizierten Lichten Magier Kontakt gehabt haben, mit dem sie sich bei den Tribünen der Pferderennbahn getroffen haben. Darüber, dass sie beide lange miteinander gestritten und gefeilscht haben, bis der Lichte Ihnen schließlich ein Päckchen aushändigte und Sie nickten. Anschließend haben sie beide sich die Hand geschüttelt. Luisa konnte sogar einen Satz aufschnappen: »Ich mache es, und es wird kein Jahr vergehen…«Mir ist erinnerlich, dass es Ihnen während der Dauer des Experiments verboten war, mit Anderen Kontakt aufzunehmen. Das stimmt doch, oder? »
»Ja«, sagte Arina und senkte den Kopf. »Lebt Luschka noch?«
»Leider nicht«, antwortete Edgar. »Doch ihre Aussagen sind zu Protokoll genommen worden…«
»Schade…«, murmelte Arina. Worauf sie dieses»schade«bezog, erklärte sie nicht. Aber man brauchte nicht viel Phantasie, um darauf zu kommen, dass Luisa noch einmal Glück gehabt hatte.
»Können Sie uns sagen, mit welchem Lichten Sie in Kontakt gestanden haben, was Sie zu tun versprochen und was Sie von ihm bekommen haben?«
Arina hob den Kopf und lächelte mich bitter an. »Zu dumm…«, bemerkte sie. »In was für dumme Situationen ich immer gerate… wegen Kleinigkeiten. Wie mit dem Teekessel…«
»Arina, ich bin gezwungen, Sie zwecks weiterer Befragungen mitzunehmen«, erklärte Edgar. »Im Namen der Inquisition…«
»Versuch es doch mal, Zweitrangiger«, entgegnete Arina amüsiert. Und verschwand.
»Sie ist ins
Wir tauchten fast gleichzeitig in die erste Schicht ein. Leicht verängstigt sah ich zu Edgar hinüber. In wen er sich wohl in der
Gut, das ging. Nur minimale Veränderungen. Bloß weniger Haare.
»Tiefer!«Energisch fuchtelte ich mit der Hand. Edgar schüttelte den Kopf, hob die Hand vors Gesicht - die ihn förmlich aufzusaugen schien. Beeindruckend, diese Tricks der Inquisitoren.
In der zweiten Schicht, in der das Häuschen sich in eine Holzhütte verwandelt hatte, blieben wir stehen und sahen uns an. Arina war auch hier natürlich nirgends zu entdecken.
»Sie ist weiter in die dritte Schicht…«, flüsterte Edgar. Er hatte jetzt überhaupt keine Haare mehr, dafür einen lang gestreckten Schädel, der wie ein Entenei aussah. Sonst war alles in Ordnung, das Gesicht fast menschlich.
»Kannst du das auch?«, fragte ich.
»Einmal habe ich es schon geschafft«, antwortete Edgar ehrlich. Unser Atem wölkte auf. Obwohl es uns nicht sehr kalt vorkam, kroch ein eisiger Schauder heran…
»Ich habe es auch schon einmal geschafft«, gestand ich.
Wir drucksten herum wie selbstbewusste Schwimmer, denen plötzlich klar wird, dass der Fluss vor ihnen zu stürmisch und zu kalt ist. Keiner wollte den ersten Schritt machen. »Anton… hilfst du mir?«, fragte Edgar schließlich.
Ich nickte. Wozu hatte ich mich denn sonst ins
»Gehen wir…«, sagte der Inquisitor, wobei er konzentriert zu Boden sah.
Kurz darauf traten wir in die dritte Schicht ein, in die normalerweise nur Magier ersten Grades vordringen dürfen. Die Hexe war nirgends zu sehen.
»Ein komischer Sinn… für Humor…«, flüsterte Edgar, während er sich umsah. Die Hütte aus Zweigen war in der Tat beeindruckend. »Anton… sie hat es selbst gebaut… sie kann sich hier lange aufhalten…«
Langsam - der Raum um mich herum widersetzte sich abrupten Bewegungen - ging ich zur»Wand«. Bog die Zweige auseinander. Schaute hindurch. Das sah absolut nicht wie die Menschenwelt aus.
Am Himmel zogen gleißende Wolken - Stahlspäne, in Glyzerin getaucht. Statt der Sonne loderte weit, weit oben eine glutrote Feuerwolke, der einzige Farbfleck im grauen Höhenrauch. Um uns herum erstreckten sich bis zum Horizont jene knorrigen, flachen Bäume, aus denen die Hexe ihr Haus gebaut hatte. Doch ob das wirklich Bäume waren? So blattlos, nur mit diesem eigenartig verflochtenen Geäst…
»Anton, sie ist noch tiefer gegangen. Anton, sie steht außerhalb jeder Kategorie«, sagte Edgar hinter mir. Ich drehte mich um und sah den Magier an. Dunkelgraue Haut, ein kahler, langgezogener Schädel, eingefallene Augen… Immerhin Menschen augen. »Wie sehe ich aus?«Edgar bleckte die Zähne zu einem Lächeln. Was er nicht hätte tun sollen: Er hatte spitze kegelförmige Zähne. Wie ein Hai.
»Nicht sehr gut«, gab ich zu. »Aber vermutlich sehe ich auch nicht besser aus, oder?«
»Das ist nur äußerlich«, antwortete Edgar ungerührt. »Kannst du dich halten?«
Das konnte ich. Das zweite Abtauchen in diese Tiefe des
»Wir müssen in die vierte Schicht gehen!«, sagte Edgar. In seinen Augen - da konnten es hundertmal die eines Menschen sein - glühte das Feuer des Fanatismus.
»Stehst du außerhalb jeder Kategorie?«, fragte ich zurück. »Edgar, mir wird schon die Rückkehr schwer fallen! »
»Wir können unsere Kräfte vereinigen, Wächter!«
»Wie?«Ich war verwirrt. Sowohl Dunkle als auch Lichte kennen den Kraftkreis. Aber das ist eine gefährliche Sache, die mindestens drei oder vier Andere erfordert… Außerdem: Wie sollten lichte und dunkle Kraft vereinigt werden?
»Lass das meine Sorge sein!«Edgar schüttelte energisch den Kopf. »Anton, sie verschwindet! Sie verschwindet in die vierte Schicht! Vertrau mir! »
»Einem Dunklen?«
»Einem Inquisitor!«, fuhr mich der Magier an. »Ich bin Inquisitor, klar? Anton, vertrau mir, ich befeh…«Edgar verstummte, um dann in freundlicherem Ton hinzuzufügen: »Ich bitte dich!«
Keine Ahnung, was mich packte. Jagdeifer? Der Wunsch, diese Hexe zu erwischen, die Tausende von Menschen in den Tod getrieben hatte? Dass ein Inquisitor mich bat?
Oder vielleicht schlicht der Wunsch, die vierte Schicht zu sehen? Die geheimsten Tiefen des
»Was soll ich tun?«, fragte ich.
Auf Edgars Gesicht erstrahlte ein Lächeln. Er streckte mir die Hand entgegen - die Finger endeten in stumpfen, hakenförmigen Krallen. »Im Namen des Großen Vertrages, des Gleichgewichts, das ich bewahre… rufe ich das Licht und das Dunkel an… erbitte ich Kraft… im Namen des Dunkels!«
Auf seinen fordernden Blick hin streckte ich ebenfalls die Hand aus. »Im Namen des Lichts…«, sagte ich.
Das Ganze ließ sich in gewisser Weise mit einem Eid vergleichen, den ein Dunkler und ein Lichter sich schwören. Aber nur in gewisser Weise. In meiner Hand loderte kein Flammenzüngchen auf, auf Edgars ballte sich kein Krumen Dunkelheit. Alles lief ohne unser Zutun ab: Die graue, verschwommene Welt um uns herum gewann plötzlich an Schärfe. Nein, die Farben kehrten nicht zurück, wir befanden uns noch immer im