»Unser Recht wird anerkannt…«, flüsterte Edgar, während er sich umsah. In seinem Gesicht spiegelte sich echtes Glück wider. »Sie erkennen unser Recht an, Anton! »

»Und wenn sie es nicht anerkannt hätten?«, hakte ich nach.

Edgar runzelte die Stirn. »Das hätte sein können… Aber schließlich haben sie es doch anerkannt, oder? Gehen wir!«

In diesem neuen, »kontrastreichen«Zwielicht fiel jede Bewegung entschieden leichter. Ich hob meinen Schatten genauso mühelos auf wie in der gewöhnlichen Welt.

Und gelangte dorthin, wo nur Magier außerhalb jeder Kategorie hindurften.

Bäume - wenn es denn Bäume waren - gab es hier nicht mehr. Die ganze Welt um uns herum war eben, flach, ganz wie im Mittelalter der Fladen der Erde, den drei Wale trugen. Kein Relief, bloß eine endlose Sandebene… Ich bückte mich, ließ eine Hand voll Sand durch meine Finger rieseln. Der war grau, wie im Zwielicht nicht anders zu erwarten. Doch in diesem Grau ließen sich die ersten Farben erkennen, ein rauchiges Perlmutt, bunte Funken, goldschimmernde Körner…

»Da läuft sie…«, sagte Edgar mir direkt ins Ohr. Und streckte die Hand aus, die überraschend lang und dünn war.

Ich schaute in die angezeigte Richtung. Und sah in der Ferne - nur in einer Ebene kann man so weit sehen - eine sich rasch entfernende graue Silhouette. Die Hexe bewegte sich mit riesigen Sprüngen vorwärts, schwang sich in die Luft auf, flog gut zehn Meter über die Erde hinweg, mit ausgebreiteten Armen und komisch schlenkernden Beinen, einem fröhlichen Kind gleich, das über eine Frühlingswiese hüpft.

»Sie hat ihr Elixier ausgetrunken?«, erriet ich. Sonst konnte ich mir diese Sprünge nicht erklären.

»Ja. Das hat sie nicht umsonst gebraut«, sagte Edgar. Er holte aus und schleuderte Arina etwas hinterher.

Eine Reihe kleiner Feuerbälle schoss auf die Hexe zu. Der Geschwader-Fireball, ein ganz gewöhnlicher Kampfzauber bei den Wachen, allerdings in einer besonderen Version der Inquisition.

Einige Kugeln platzten, bevor sie die Hexe erreichten. Eine beschleunigte enorm, traf sie aber dennoch, schnappte nach ihrem Rücken, explodierte und hüllte die Hexe in Feuer. Die Flamme erlosch jedoch augenblicklich wieder, während die Hexe ohne sich umzusehen etwas über ihre Schulter warf - worauf sich dort eine Pfütze aus funkelnder, quecksilbriger Flüssigkeit bildete. Sobald die übrigen Geschosse über diese Lache flogen, verloren sie an Tempo und Höhe, stürzten in die Flüssigkeit und verschwanden. »Hexentricks…«, presste Edgar angewidert hervor. »Anton!«

»Ja? Was?«, fragte ich, ohne die am Horizont verschwindende Arina aus den Augen zu lassen.

»Wir müssen zurückgehen. Uns war nur Kraft für die Festnahme der Hexe zugeteilt worden, aber die Jagd ist zu Ende…Wir haben sie nicht gekriegt.«

Ich sah nach oben. Die glutrote Wolke, die in der vorigen Zwielicht-Schicht geleuchtet hatte, gab es hier nicht. Der ganze Himmel strahlte in einem gleichmäßigen Rosaweiß. Wie seltsam. Hier gab es also wieder Farben…»Gibt es noch mehr Schichten, Edgar?«, fragte ich.

»Die gibt es immer.«Edgar machte sich offenbar langsam Sorgen. »Gehen wir, Anton! Gehen wir, sonst sitzen wir hier fest.«

Die Welt um uns herum verlor ihre Schärfe, hüllte sich in grauen Rauch. Doch nach wie vor gab es Farben, den perlmutt-farbenen Sand, den rosaweißen Himmel…

Während ich bereits das kalte Prickeln des Zwielichts auf meiner Haut spürte, folgte ich Edgar zurück in die dritte Schicht. Als hätte die Welt nur auf diesen Moment gewartet, blich sie endgültig aus, ergraute, füllte sich mit kaltem tosendem Wind. Wir packten uns bei den Händen - nicht, um Kraft auszutauschen, das ist hier praktisch unmöglich, sondern um uns auf den Beinen zu halten - und versuchten wieder und wieder, in die zweite Schicht zurückzukehren. Die»Bäume«um uns barsten mit einem kaum hörbaren Knistern, das Baumzelt der Hexe krachte seitwärts ein - doch wir konnten unsere Schatten einfach nicht finden. Ich erinnerte mich nicht einmal mehr an den Augenblick, als sich das Zwielicht vor mir öffnete und ich in die zweite Schicht trat - die fast gewöhnlich wirkte, überhaupt nicht schrecklich.

Schwer atmend saßen wir auf dem sauberen, abgeschabten Fußboden. Uns beiden ging es gleichermaßen schlecht, uns, dem Dunklen Inquisitor und dem Lichten Wächter.

»Puh.«Edgar schob die Hand ungeschickt in die Tasche seines Jacketts und holte eine Tafel Schokolade der Marke Gardist heraus. »Iss…»

»Und du?«, fragte ich, während ich die Verpackung aufriss.

»Ich habe noch…«Edgar kramte lange in seinen Taschen, bis er schließlich eine weitere Tafel fand. Diesmal eine der Marke Inspiration, bei der jeder Riegel einzeln eingepackt war. Er wickelte sie einen nach dem andern aus.

Danach aßen wir bloß gierig. Das Zwielicht saugt einem alle Kräfte aus, und zwar nicht nur die magische Kraft, sondern auch ganz banal die Glukose im Blut. Das ist eines der wenigen Details, die mit Hilfe der modernen Wissenschaft bezüglich des Zwielichts festgestellt werden konnten. Der Rest ist nach wie vor ein Rätsel. »Edgar, wie viele Schichten hat das Zwielicht?«, fragte ich.

Edgar kaute einen weiteren Riegel Schokolade. »Ich weiß von fünf«, antwortete er. »In der vierten bin ich eben zum ersten Mal gewesen. »

»Und was ist dort? In der fünften?«

»Ich weiß nur, dass es sie gibt, Wächter. Mehr nicht. Ich habe auch über die vierte Schicht vorher nichts gewusst.«

»Dort gibt es wieder Farben«, sagte ich. »Sie… sie ist völlig anders, nicht wahr?«

»Hm«, murmelte Edgar. »Das ist sie. Aber darüber brauchen wir uns nicht den Kopf zu zerbrechen, Anton. Das geht über unsere Kräfte. Sei stolz, dass du in der vierten Schicht gewesen bist, das können nicht mal alle Magier ersten Grades von sich behaupten. »

»Ihr könnt also dahin?«

»Wenn die Arbeit es erfordert«, bestätigte Edgar. »Zur Inquisition kommen nicht unbedingt die stärksten Anderen. Und wir müssen doch einem durchgedrehten Magier außerhalb jeder Kategorie etwas entgegenzusetzen haben, oder?«

»Wenn Geser oder Sebulon durchdrehen, werdet ihr ihnen nichts entgegenzusetzen haben«, bemerkte ich. »Es hat ja nicht mal bei der Hexe geklappt…«

Nach kurzem Nachdenken pflichtete Edgar mir bei, dass das Moskauer Büro der Inquisition wenig gegen Geser oder Sebulon ausrichten könne. Allerdings nur in dem Falle, wenn beide gleichzeitig den Großen Vertrag verletzten. Sonst… sonst dürfte Geser wohl mit Freuden dabei helfen, Sebulon zu neutralisieren, und umgekehrt. Auch darauf gründet sich die Inquisition. »Was passiert jetzt mit der Hexe?«, fragte ich.

»Wir werden sie suchen«, antwortete Edgar geschäftig. »Ich habe mich schon mit meinen Leuten in Verbindung gesetzt. Der Bezirk wird abgesperrt. Kann ich auch in Zukunft auf dich rechnen?«Ich überlegte.

»Nein, Edgar. Arina ist eine Dunkle. Irgendwas hat sie bestimmt gemacht… damals, vor rund siebzig Jahren. Aber wenn die Lichten sie benutzt haben…«

»Du hältst also an deiner Seite fest«, konstatierte Edgar angewidert. »Verstehst du das denn wirklich nicht, Anton? Es gibt weder Licht noch Dunkel in reiner Form. Die beiden Wachen sind doch letzten Endes wie die Demokraten und die Republikaner in den USA. Sie streiten sich, hetzen gegeneinander - und treffen sich abends zur Cocktailparty. »

»Noch ist nicht Abend.«

»Es ist immer Abend«, entgegnete Edgar finster. »Glaube mir, ich bin ein gesetzestreuer Dunkler gewesen. Bis man mich in die Enge getrieben hat… bis ich zur Inquisition gegangen bin. Und weißt du, was ich jetzt denke? »

»Sag's mir.«

Вы читаете Wächter des Zwielichts
Добавить отзыв
ВСЕ ОТЗЫВЫ О КНИГЕ В ИЗБРАННОЕ

0

Вы можете отметить интересные вам фрагменты текста, которые будут доступны по уникальной ссылке в адресной строке браузера.

Отметить Добавить цитату