Swetlana sammelte keine Kraft aus der Umgebung, wie ich es getan hätte. Ihr reichte die eigene, die sie so hartnäckig ignorierte, ungenutzt ließ - und von der sie dabei nur immer mehr anhäufte. Angeblich sollen weibliche Andere nach einer Geburt einen enormen Kraftzustrom verspüren, doch bei Swetlana hatte ich damals keine Veränderung gespürt. Alles war irgendwohin verschwunden, hatte sich verkrochen, angesammelt. Für einen schwarzen Tag - wie sich jetzt zeigte.
Die Welt verlor ihre Farbe. Ich begriff, dass ich ins
Ein weißes Leuchten hüllte Swetlana ein. Sie fuhr rasch mit den Händen auf und ab, als spinne sie unsichtbares Garn. Im nächsten Augenblick tauchte dieses»Garn«auf, dünne, spinnenwebartige Fäden lösten sich von ihren Fingern und flogen davon, getrieben von einem nicht vorhandenen Wind. Um Swetlana herum tobte ein Schneesturm. Der sich legte, sobald die funkelnden Fäden in alle Richtungen davongeweht waren. »Was tust da?«, schrie ich. »Sweta!«
Ich kannte den Zauber, den sie gerade eben gewirkt hatte. Selbst ich hätte das»Schneeige Spinnennetz«aufwerfen können, eventuell nicht so effektiv, nicht so schnell, aber trotzdem…
Swetlana antwortete nicht. Wie bei einem Gebet reckte sie die Arme zum Himmel. Dabei glauben wir weder an Götter noch an Gott. Wir sind unsere eigenen Götter und unsere eigenen Dämonen.
Von Swetlanas Hand riss sich eine regenbogenfarbige, über-ballgroße Kugel los, eine Seifenblase, die voller Grandezza am Himmel dahinsegelte. Die Blase vergrößerte sich und begann, sich langsam um die eigene Achse zu drehen. Ein dunkelroter Fleck auf der durchscheinenden regenbogenfarbigen Hülle gemahnte an den Planeten Jupiter. Als der rote Fleck mir bei einer Drehung gegenüberstand, nahm ich eine kalte sengende Berührung wahr, gleichsam als streife mich eisiger Wind.
Swetlana hatte das»Auge des Magiers«geschaffen. Abermals Magie ersten Grades. Und das sofort nach dem»Schneeigen Spinnennetz«!
Beim dritten Zauber, den sie so unfassbar schnell wirkte, dass ich vermutete, Swetlana habe ihn seit langer Zeit für ebensolche Fälle eingeübt, schickte sie eine Schar mattweißer, geisterhafter Vögel aus ihren Handflächen gen Himmel. Man hätte sie als Tauben bezeichnen können - wären die Schnäbel dieser Geistervögel nicht reichlich groß und spitz gewesen. Schnäbel von Raubvögeln. Diesen Zauber kannte ich nicht einmal.
Swetlana ließ die Arme sinken. Worauf sich das
Hier hatte sich nichts verändert. Selbst das zu Boden segelnde Buch, im Fallen aufgegangen, hatte sich noch nicht wieder geschlossen. Nur die Hunde winselten, kläfften, jaulten im ganzen Dorf.
»Sweta, was hast du gemacht?«, fragte ich, während ich auf sie zustürzte.
Sie drehte sich mir zu, mit verschleierten Augen. Ihre unsichtbaren magischen Abgesandten, die sich noch nicht in alle Winde zerstreut hatten, überbrachten gerade, Dutzende oder Hunderte Kilometer von uns entfernt, ihre Botschaften. Ich wusste, welche.
»Nichts…«, flüsterte Swetlana. »Überall Leere. Keine Nadjuschka… keine Hexe…«
In ihre Augen kehrte das Leben zurück. Was bedeutete: Das magische Spinnennetz löste sich auf, die weißen Vögel fielen zu Boden und schmolzen, am Himmel platzte die regenbogenfarbige Kugel.
»Überall Leere«, wiederholte Swetlana. »Anton… wir dürfen uns nicht verrückt machen.«
»Sie kann nicht weit sein«, erwiderte ich. »Und sie hat Nadja nichts Schlimmes getan, glaub mir!«
»Geiselnahme?«, fragte Swetlana. Auf ihrem Gesicht spiegelte sich Hoffnung wider.
»Die Inquisition hat das Gebiet abgesperrt. Und die hat ihre eigenen Methoden. Selbst Arina wird nicht unbemerkt an ihnen vorbeikommen. »
»Also…«, flüsterte Swetlana. »Gut.«
»Um zu fliehen, braucht sie Hilfe von außen«, meinte ich -sei es zu Swetas Beruhigung, sei es zu meiner eigenen. »Freiwillig wird die ihr niemand anbieten. Also hat sie sich auf Erpressung verlegt.«
»Können wir ihre Forderung erfüllen?«, packte Swetlana den Stier gleich bei den Hörnern. Ohne auch nur darauf einzugehen, ob wir sie erfüllen wollten… Was blieb uns denn übrig? Wir würden alles erfüllen - wenn wir es konnten. »Wir müssen die Forderungen abwarten.«
Swetlana nickte. »Gut… warten wir. Worauf genau? Auf einen Anruf?«
Im nächsten Moment riss sie eine Hand hoch und visierte das Schlafzimmerfenster an. Prompt kam, die Scheibe zerschlagend, aus dem Schlafzimmer der Kamm angeflogen, den Arina ihr geschenkt hatte. Swetlana nahm ihn in die Hand, so angewidert, als handle es sich um ein ekliges Insekt. Ein paar Sekunden lang sah sie den Kamm an, bis sie die Stirn runzelte und sich damit durchs Haar fuhr.
Ein leises, gutmütiges Lachen ließ sich vernehmen. Und irgendwo um Swetas Kopf herum erklang Arinas Stimme: »Guten Tag auch, meine Liebe. So lernen wir uns also kennen. Ein nützliches Geschenk, nicht wahr?«
»Merk dir eins, du alte Kröte…«, setzte Swetlana an, während sie den Kamm vor sich hielt.
»Ich weiß, ich weiß, meine Schwester. Alles weiß ich, nichts vergesse ich. Wenn Nadenka nur ein Haar gekrümmt wird, verfolgst du mich bis ans Ende der Welt, ziehst mich aus der fünften Schicht, reißt mir jede Ader einzeln aus, hackst mich in Stückchen und verfütterst mich an die Schweine. Alles weiß ich, was du sagen willst. Und ich bin überzeugt, dass du genau das machen würdest.«
Arinas Stimme klang ernst. Sie machte sich nicht über Swet-lana lustig, sondern erklärte uns völlig ernsthaft, wie wir ihrer Meinung nach mit ihr verfahren müssten. Swetlana schwieg, hielt den Kamm jedoch in der Hand gepackt. Erst als die Hexe verstummte, sagte sie etwas. »Gut. Dann lass uns keine Zeit vergeuden. Ich möchte mit Nadjuschka sprechen. «
»Nadenka, sag deiner Mama Hallo«, bat Arina. Wir vernahmen ein ungetrübt lustiges Stimmchen. »Hallo! «
»Geht es dir gut, Nadjuscha?«, fragte Swetlana besorgt.
»Hm…«, antwortete Nadja.
Dann mischte sich Arina wieder ein. »Zauberin, ich werde deiner Tochter kein Leid zufügen. Wenn du keine Dummheiten machst. Ich brauche eine Kleinigkeit von euch: Bringt mich durch die Sperren, und ihr bekommt eure Tochter zurück. »
»Arina«, sagte ich, während ich nach Swetlanas Hand griff,
»die Inquisition hat den Bezirk abgesperrt. Du weißt, was das heißt?«
»Sonst hätte ich nicht um Hilfe gebeten«, blaffte Arina trocken. »Lass dir was einfallen, Zauberkundiger! In jedem Zaun gibt es eine lockere Latte, in jedem Netz ein Loch. Bring mich hier raus, dann gebe ich dir deine Tochter zurück. »
»Und wenn ich das nicht kann?«
»Dann ist mir alles einerlei«, drohte Arina. »Dann werde ich versuchen, mit Gewalt durchzubrechen. Und euer Mädchen werde ich ohne Diskussion umbringen.«
»Wozu?«, fragte ich mit äußerster Ruhe. »Was würde dir das bringen?«
»Wie, was würde mir das bringen?«, wunderte sich Arina. »Wenn ich durchbreche, ist jedem sofort klar, dass mit mir nicht zu spaßen ist. Außerdem… weiß ich genau, wer sich freuen würde, wenn jemand die Drecksarbeit für ihn erledigt. Für den Tod eurer Tochter würde er mich gut bezahlen.«
»Wir werden alles versuchen«, versicherte Swetlana und drückte mir fest die Hand. »Hörst du,