Hexe? Rühr das Kind nicht an, wir werden dich retten!«

»Abgemacht«, meinte Arina offenkundig erleichtert. »Denkt darüber nach, wie ihr mich durch die Sperren bringt. Ihr habt drei Stunden Zeit. Wenn dir früher etwas einfällt, Zaubermeisterin, dann nimm den Kamm und kämm dich.«

»Aber rühr Nadjuschka nicht an!«, schrie Swetlana mit bebender Stimme. Dann führte sie mit der linken Hand Passes aus.

Der Kamm überzog sich mit einer Eiskruste. Swetlana knallte ihn auf den Tisch. »Dieses blöde alte Ding…«, murmelte sie. »Anton?«

Eine Sekunde sahen wir einander an. Als würfen wir uns gegenseitig den Ball zu, um nicht selbst die Initiative zu ergreifen.

»Es ist sehr riskant, Sweta«, sagte ich schließlich. »In einem offenen Kampf zieht sie gegen uns den Kürzeren. Deshalb bringt sie sich in Gefahr, wenn sie Nadja zurückgibt.«

»Wir bringen sie durch die Sperre… finden einen Weg…«, flüsterte meine Frau. »Soll sie doch aus dem Sperrgebiet rauskommen und Nadenka irgendwo außerhalb zurücklassen. Ich finde sie sofort. Soll sie doch in irgendeine Stadt fahren und Nadja dort lassen! Ich bahne einen Weg… ich weiß, wie. Ich kann das! Und in einer Minute wäre ich dort!«

»Richtig«, nickte ich. »In einer Minute. Und dann? Die Hexe wäre noch nicht weit. Und sobald Nadja bei uns ist, würdest du Arina finden und sie dematerialisieren wollen.«

»Zerreißen, nicht dematerialisieren…«, meinte Swetlana nickend. »Genau das hätte diese Hexe verdient: Sie beansprucht unsere Hilfe, ermordet Nadja aber trotzdem. Was sollen wir bloß machen, Anton? Geser rufen? »

»Was, wenn sie das wittert?«, fragte ich zurück.

»Und ein Anruf?«, schlug Swetlana vor.

Ich überlegte. Nickte. Arina hatte sich zu lange aus dem Leben ausgeklinkt. Ob sie überhaupt wusste, dass wir uns mit Geser nicht nur auf magische Weise, sondern auch mit einem simplen Funktelefon in Verbindung setzen konnten?

Swetlana hatte ihr Handy im Haus gelassen. Sie beförderte es mit denselben beiläufigen Passes herbei wie den Kamm. Dann sah sie mich noch einmal an. Ich nickte.

Es war Zeit, um Hilfe zu bitten. Zeit, Hilfe zu fordern. Die gesamte Moskauer Nachtwache. Schließlich knüpfte Geser an Nadenka seine eigenen, uns nicht bekannten Hoffnungen…»Wartet!«, rief uns jemand von der Pforte her zu.

Wir drehten uns um, wobei wir - vermutlich überflüssiger Weise - die Hände abrupt hochrissen und Kampfstellung einnahmen. Die Welt war für uns nicht die normale Menschenwelt. Wir lebten jetzt in der Welt der Anderen, einer gefährlichen Welt, in der die Kraft der Zauber und das Reaktionsvermögen alles entscheiden.

Doch wir brauchten uns nicht in den Kampf zu stürzen.

An der Pforte stand ein junger Mann, hinter ihm drei Kinder, zwei Jungen und ein Mädchen. Sowohl der Mann wie auch die Kinder trugen eine grau-grüne paramilitärische Kluft, die an die Uniform einer zerschlagenen Armee erinnerte. Der Mann mochte fünfundzwanzig sein, die Kinder zehn. Ihr Vater konnte er nicht sein, ihr Bruder wohl auch nicht, dazu sahen die vier Gesichter zu unterschiedlich aus.

Nur eins verband sie: die dunkle Aura. Eine wilde, zottelige Aura, die in keiner Weise zu den freundlichen Gesichtern und den ordentlich geschnittenen Haaren passte. »Da hätten wir also auch unsere Werwölfe«, murmelte ich. Der Mann senkte kurz den Kopf und gab mir Recht. Was bin ich nur für ein Blödmann!

Ich suche einen Erwachsenen mit drei Kindern, denke aber nicht an das Pionierlager!

»Seid ihr gekommen, um euch zu stellen?«, fragte Swetlana kalt. »Dazu ist es zu spät!«

Wie schwach diese Anderen auch sein mochten, sie mussten den Kraftwirbel gespürt haben, der sich hier eben erhoben hatte. Und auch die von Swetlana ausgehende Kraft, die Tiermenschen, Vampiren und sonstigem magischen Kleinvieh keine Chance lässt. Mit einer einzigen Handbewegung könnte Swetlana die vier jetzt bis zum Hals in die Erde stampfen.

»Warten Sie!«, sagte der Mann rasch. »Hören Sie uns an! Ich heiße Igor. Ich bin… ich bin ein registrierter Dunkler sechsten Grades.«

»Stadt?«, fragte Swetlana knapp.

»Sergijew Possad. »

»Die Kinder?«, fuhr sie mit ihrem Verhör fort.

»Petja aus Swenigorod, Anton aus Moskau, Galja aus Kolomna…«

»Registriert?«, fragte Swetlana weiter. Ohne Zweifel wollte sie ein Nein hören - womit das Schicksal Igors besiegelt gewesen wäre.

Wortlos hoben die Jungen ihr Hemd hoch. Das Mädchen genierte sich ein wenig, öffnete dann aber doch den obersten Knopf. Alle hatten ihr Siegel.

»Das wird dir nicht viel nützen«, murmelte Swetlana. »Geht in den Schuppen und wartet dort auf die Einsatzgruppe. Du kannst dem Tribunal erklären, warum du deine Jungen Jagd auf Menschen machen lässt.«

Abermals schüttelte Igor den Kopf. Auf seinem Gesicht spiegelte sich unverfälschte Angst wider, und zwar - was erstaunlich war! - nicht um sich.

»Warten Sie! Ich bitte Sie! Das ist wichtig! Sie haben doch eine Tochter, oder? Eine Andere, eine Lichte von zwei oder drei Jahren?«

»Wir haben gesehen, wohin die Frau sie gebracht hat«, sagte mein kleiner Namensvetter leise.

Ich schob Swetlana zur Seite. Trat vor. »Was wollt ihr?«, fragte ich.

Wir wussten, was diese Tiermenschen wollten. Und die Werwölfe wussten, dass wir das wussten. Was am traurigsten war: Sie zweifelten nicht im Mindesten daran, dass wir uns auf den Handel einlassen würden. Doch es gibt immer Details, die besprochen werden müssen.

»Eine Anklage auf geringfügige Fahrlässigkeit«, brachte Igor schnell hervor. »Während eines Spaziergangs haben uns die Kinder zufällig entdeckt und sind erschrocken.«

»Du hast sie gejagt, du Tier!«, konnte Swetlana sich nicht verkneifen. »Du hast mit deinen Jungen Jagd auf Menschenkinder gemacht!«

»Nein!«Igor schüttelte den Kopf. »Die Kinder haben herumgetobt und wollten mit den kleinen Menschenkindern spielen. Als ich dazugekommen bin, habe ich sie weggezogen. Es ist meine Schuld, denn ich habe nicht richtig aufgepasst.«

Er hatte alles genau kalkuliert. Ich konnte die Augen nicht völlig vor dem verschließen, was geschehen war, selbst wenn ich das noch sehr wollte. Denn der Stein war bereits ins Rollen gebracht. Es blieb nur die Frage, wie man den Vorfall klassifizierte. Als Mordversuch - was mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit für Igor Dematerialisierung und für die Wolfsjungen strengste Kontrolle bedeutet hätte? Oder als Fahrlässigkeit im minder schweren Fall - was nur ein Protokoll, eine Strafe und eine»besondere Kontrolle«von Igors zukünftigem Verhalten nach sich ziehen würde?

»Gut«, sagte ich. Rasch, damit Swetlana mir nicht ins Wort fiel. »Wenn ihr uns helft, belassen wir es bei geringfügiger Fahrlässigkeit.«Und dafür werde ich auch geradestehen.

Igor entspannte sich. Vermutlich hatte er mit zäheren Verhandlungen gerechnet.

»Erzähl alles, Galja«, verlangte er. Uns erklärte er: »Sie hat sie gesehen… unsere Galja hat Hummeln im Hintern, nie kann sie stillsitzen…«

Swetlana ging zu dem Mädchen. Ich forderte Igor mit einer Geste auf, zu mir zu kommen. Abermals verkrampfte er sich, folgte mir aber gehorsam ein Stück zur Seite.

»Ich habe einige Fragen«, erklärte ich. »Und ich empfehle dir, ehrlich zu antworten.«Igor nickte.

»Wie hast du das Recht bekommen, drei fremde Kinder zu initiieren?«, wollte ich wissen, wobei ich den Wunsch runterschluckte, »du Schwein«an meine Frage anzuhängen.

»Alle drei waren zum Tode verdammt«, erklärte Igor. »Ich habe Medizin studiert. Mein Praktikum habe ich auf einer Station für krebskranke Kinder gemacht… Die drei wären an Leukämie gestorben. Ein Arzt dort war ebenfalls ein Anderer. Ein Lichter. Er hat mir vorgeschlagen… die drei zu beißen und sie in Tiermenschen zu verwandeln, damit sie gesund werden. Im Gegenzug würde er

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