>Ja, ja<, erwiderte er, >ich kenne das; so richten sich alle die armen, unglücklichen Mädchen zugrunde; mach es, wie du willst, mein Kind, ich habe keine Gewalt über dich, doch wenn ich dein Vater wäre, wüßte ich, was ich tun würde.<

Ich erkundigte mich schließlich noch nach dem, was ich wissen wollte, und kehrte wieder nach Hause zurück. Ich konnte mir leicht ausrechnen: Gabriel hatte an seinen Vater geschrieben, nachdem er meinen Brief erhalten.

Ich wartete vergebens den nächsten Tag, den zweiten Tag, die ganze Woche, den ganzen Monat: Ich erhielt keine Nachricht von Gabriel.

Eine Hoffnung hatte mich aufrechterhalten; da er keine Zeit gehabt, mir von Paris aus zu schreiben, würde er mir wohl von dem Hafen aus schreiben, wo er sich einschiffte, oder wenn er nicht von diesem Hafen aus schreiben konnte, würde er mir wenigstens von Guadeloupe schreiben.

Ich verschaffte mir eine Karte und fragte einen unserer Matrosen, der mehrere Reisen nach Amerika gemacht hatte, welche Route die Schiffe fahren, wenn sie nach Guadeloupe wollen. Er zog mir mit dem Bleistift eine lange Linie, und ich hatte wenigstens den Trost zu sehen, welchen Weg Gabriel verfolgte.

Bevor ich auf Nachricht von ihm hoffen dürfte, würden mindestens drei Monate vergehen. Ich erwartete mit ziemlich viel Ruhe den Ablauf dieser drei Monate, doch es kam nichts, und ich blieb in dem furchtbaren Halbdunkel, das man Zweifel nennt und das noch viel schlimmer ist als die Nacht.

Die Zeit verging indessen; alle Empfindungen, die das Dasein und Wachsen eines Wesens ankündigen, regten sich in mir. Es sind gewiß köstliche Empfindungen, wenn das Kind in eine Familie hineinwächst, aber schmerzliche, bittere und gräßliche Empfindungen, wenn jede Bewegung an den Fehltritt und das Unglück erinnert.

Ich war seit sechs Monaten in anderen Umständen, bis dahin hatte ich meine Schwangerschaft glücklich vor aller Augen verborgen; doch ein furchtbarer Gedanke verfolgte mich: der Gedanke, daß ich, wenn ich fortführe, mich so zusammenzuschnüren, das Leben meines Kindes gefährden könnte.

Ostern stand kurz bevor. Das ist bekanntlich in unseren Dörfern die Zeit der großen Beichte. Auf ein Mädchen, das Ostern nicht wie die anderen feierte, würden alle ihre Kameradinnen mit dem Finger deuten.

Ich war im Grunde meines Herzens zu religiös, als daß ich hätte zum Beichtstuhl gehen können, ohne meinen Fehltritt ganz zu enthüllen; seltsamerweise aber sah ich die Zeit dieser Enthüllung mit einer gewissen Freude nahen, in die sich jedoch auch Furcht mischte.

Unser Geistlicher war ein frommer Greis mit weißem Haar und ruhigem, lächelndem Antlitz, bei dessen Anblick der Schwache, der Unglückliche oder der Schuldige fühlt, Unterstützung zu finden.

Ich war also fest entschlossen, ihm alles zu sagen und mich von seinen Ratschlägen leiten zu lassen.

Am Vorabend des Tages, an dem alle jungen Mädchen zur Beichte zu gehen pflegen, begab ich mich zu ihm.

Ich gestehe, mein Herz krampfte sich zusammen, als ich die Hand nach der Klingel des Pfarrhauses ausstreckte. Ich hatte die Nacht abgewartet, damit mich niemand dort eintreten sah, wohin ich in anderen Zeiten ganz offen zwei- oder dreimal wöchentlich kam; auf der Schwelle verließ mich der Mut, und ich war genötigt, mich an die Mauer zu lehnen, um nicht zu fallen.

Doch ich raffte meine Kräfte zusammen und läutete mit einer ungestümen Bewegung.

Die alte Haushälterin öffnete mir sogleich.

Der Pfarrer war, wie ich es mir gedacht hatte, allein in einem kleinen, abgelegenen Zimmer, wo er beim Schein der Lampe sein Brevier las.

Ich folgte der alten Katherine, die mir die Tür öffnete und mich meldete.

Der Pfarrer hob den Kopf. Sein schönes, ruhiges Antlitz befand sich nun ganz im Licht, und ich begriff: Wenn es in der Welt einen Trost für gewisse unwiderrufliche Unglücksfälle gibt, so ist es der, sein Unglück solchen Menschen zu bekennen.

Ich blieb indessen an der Tür stehen und wagte nicht, weiter ins Zimmer hineinzutreten.

>Es ist gut, Katherine<, sagte der Pfarrer, >lassen Sie uns allein, und wenn jemand kommt und nach mir fragt .. .<

>... werde ich sagen, der Herr Pfarrer sei nicht zu Hause<, erwiderte die alte Haushälterin.

>Nein<, sprach der Pfarrer, >man darf nicht lügen, meine gute Katherine; Sie sagen, ich sei im Gebet begriffen.< >Gut, Herr Pfarrer<, erwiderte Katherine. Und sie ging hinaus und schloß die Tür hinter sich. Ich blieb unbeweglich stehen, ohne ein Wort zu reden. Der Pfarrer suchte mich mit den Augen in der Dunkelheit, die außerhalb des engen Lichtscheins der Lampe herrschte; er streckte mir dann die Hand entgegen und sagte zu mir: >Komm, meine Tochter . ich erwartete dich .<

Ich tat zwei Schritte, nahm seine Hand und fiel vor ihm auf die Knie.

>Sie erwarteten mich, mein Vater?< erwiderte ich. >Sie wissen also, was mich zu Ihnen führt?< >Ich vermute es<, antwortete der würdige Priester. >Oh, mein Vater, ich habe mich sehr strafbar gemacht!< rief ich, in Schluchzen ausbrechend. >Sag unglücklich, mein armes Kind.<

>Aber, mein Vater, vielleicht wissen Sie nicht alles, denn wie hätten Sie erraten können .<

>Höre, meine Tochter, ich will es dir sagen<, entgegnete der Priester. >Ich erspare dir damit ein Geständnis, das dir mir gegenüber peinlich wäre, nicht wahr?<

>Oh, ich fühle nun, daß ich Ihnen alles mitteilen kann; sind Sie nicht der Diener Gottes, der alles weiß?< >Sprich mein Kind<, sagte der Priester. >Sprich, ich höre dich.< >Mein Vater<, rief ich, >mein Vater .. .<

Und die Stimme stockte, ich hatte mir zuviel zugemutet und konnte nun nicht mehr.

>Ich vermute alles schon seit dem Tag der Abreise Gabriels<, sagte der Priester. >An diesem Tag, mein armes Kind, habe ich dich gesehen, ohne daß du mich sahst. Ich war in der Nacht gerufen worden, um die Beichte eines Sterbenden zu empfangen, und begegnete,

als ich morgens um vier Uhr zurückkam, Gabriel, von dem jeder glaubte, er wäre am Abend zuvor abgereist. Als er mich erblickte, versteckte er sich hinter einer Hecke, und ich stellte mich, als sähe ich ihn nicht; hundert Schritt weiter fand ich ein junges Mädchen, das, den Kopf in den Händen, an einem Grabenrand saß; ich erkannte dich, doch du schautest nicht empor.<

>Ich hörte Sie nicht, mein Vater<, erwiderte ich. >Denn ich war ganz in den Schmerz über die Trennung von Gabriel versunken!<

>Ich ging also vorüber. Obwohl ich zunächst stehenbleiben wollte, um mit dir zu sprechen, hielt mich doch der Gedanke zurück, du könntest dich, genau wie Gabriel, verbergen wollen; ich ging also meines Wegs. Als ich dann die offene Tür eures Hauses sah, begriff ich alles: Gabriel hatte die Nacht bei dir zugebracht.< >Ja, mein Vater, so ist es.<

>Als du dann nicht mehr in das Pfarrhaus kamst, wie du es früher getan, sagte ich zu mir: Die Arme, sie kommt nicht, weil sie in mir den Richter zu finden fürchtet.< Mein Schluchzen verdoppelte sich.

>Nun wohl!< sagte der Pfarrer. >Was kann ich für dich tun? Sprich, mein Kind.<

>Mein Vater<, sagte ich, >ich möchte wissen, ob Gabriel wirklich abgereist ist oder ob er sich noch in Paris befindet.< >Wie, du zweifelst?<

>Mein Vater, es ist mir ein furchtbarer Gedanke durch den Kopf gegangen: der Gedanke, Gabriel habe, nur um sich meiner zu entledigen, vorgegeben, er reise ab.<

>Und wie bist du auf diesen Gedanken gekommen?< fragte der Priester.

>Einmal sein Stillschweigen: so überstürzt die Abreise auch hätte sein können: soviel Zeit, mir wenigstens ein Wort zu schreiben, wäre immer gewesen. Und wenn nicht von Paris, so von dem Ort, wo er sich einschiffte oder wo er angekommen wäre. Hätte er mir nicht Nachricht geben müssen? Weiß er nicht, daß ein Brief von ihm mein Leben und vielleicht das Leben meines

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