Meine Stimme klang genauso und auch so laut wie eben, als ich noch ein kleiner Junge war. «He, Bruno Jenkins!», rief ich. «Wo steckst du?»
Ich bekam keine Antwort.
So trippelte ich denn zwischen Stuhlbeinen herum und versuchte, mich daran zu gewohnen, dass ich so dicht uber dem Fu?boden war. Ich kam zu dem Ergebnis, dass mir das eigentlich gefiel. Ihr wundert euch wahrscheinlich schon, warum ich uberhaupt nicht verzweifelt war. Ich erwischte mich sogar bei dem Gedanken:
Wahrend ich uber all dies nachdachte, war ich im ganzen Ballsaal herumgewandert, und da sah ich plotzlich noch eine Maus. Sie sa? auf dem Boden, hielt ein Stuckchen Brot in den Vorderpfoten und knabberte mit gro?em Behagen daran herum.
Das musste Bruno sein. «Hallo, Bruno», sagte ich.
Er schaute ungefahr zwei Sekunden hoch, dann fra? er einfach weiter.
«Was hast du denn da gefunden?», fragte ich ihn.
«Eine von denen hat das fallen lassen», antwortete er. «Es ist ein Sandwich mit Sardellenpaste. Ganz gut.»
Er sprach auch mit einer vollkommen normalen Stimme. Man sollte eigentlich erwarten, dass eine Maus (wenn sie uberhaupt sprechen wurde) die feinste und piepsigste Stimme hatte, die man sich vorstellen kann. Es war irrsinnig komisch, die Stimme des eher etwas grolenden Brunos aus so einem winzigen Mausemaulchen ertonen zu horen.
«Hor mal, Bruno», sagte ich. «Jetzt wo wir beide Mause sind, finde ich, dass wir ein bisschen uber unsere Zukunft nachdenken sollten.»
Er horte mit dem Essen auf und starrte mich mit seinen kleinen schwarzen Knopfaugen an. «Was meinst du mit
«Aber du bist auch eine Maus, Bruno.»
«Quatsch doch nicht rum», sagte er. «Ich bin doch keine Maus!»
«Ich furchte doch, Bruno.»
«Aber uberhaupt nicht!», rief er. «Warum bist du so eklig zu mir? Ich hab dir doch gar nichts getan! Warum nennst du
«Wei?t du gar nicht, was mit dir passiert ist?», fragte ich.
«Verflixt nochmal, wovon redest du denn?», fragte Bruno.
«Ich muss dich davon unterrichten», antwortete ich, «dass dich die Hexen vor gar nicht langer Zeit in eine Maus verzaubert haben. Das haben sie mit mir dann auch gemacht.»
«Du lugst!», rief er. «Ich bin keine Maus!»
«Wenn du dich nicht so gefra?ig auf dieses Brotchen konzentriert hattest», sagte ich, «dann hattest du deine behaarten Pfoten bemerken mussen. Schau sie dir doch nur an.»
Bruno betrachtete seine Pfoten. Er machte vor Schreck einen Satz. «Hilf, Himmel!», schrie er. «Ich bin eine Maus! Na warte nur, wenn das mein Vater hort!»
«Vielleicht findet er das besser», entgegnete ich.
«Ich will aber keine Maus sein!», rief Bruno und sprang wie verruckt auf und ab. «Ich weigere mich, eine Maus zu sein. Ich bin Bruno Jenkins!» «Es gibt Schlimmeres, als eine Maus zu sein», sagte ich. «Du kannst in einem Loch wohnen.»
«Ich will aber nicht in einem Loch wohnen!»
«Und nachts kannst du in die Speisekammer huschen», fuhr ich fort, «und dich durch alle Tuten und Packungen durchfressen: Rosinen und Cornflakes und Schokoladenkeks, alles, was es gibt. Du kannst die ganze Nacht dort bleiben und fressen, bist du platzt. Das machen Mause immer.»
«Gar keine schlechte Idee», antwortete Bruno schon wieder etwas vergnugter. «Aber wie krieg ich die Tur vom Kuhlschrank auf, wenn ich das kalte Huhn und die anderen Reste essen will? Das mach ich namlich zu Hause jeden Abend.»
«Vielleicht lasst dir dein reicher Vater einen extra kleinen Mausekuhlschrank ganz fur dich allein bauen», sagte ich. «Einen, den du aufmachen kannst.»
«Du hast gesagt, eine Hexe hatte das mit mir gemacht», sagte Bruno. «Was fur eine Hexe?»
«Diejenige, die dir gestern in der Hotelhalle die Schokolade geschenkt hat», erklarte ich ihm. «Kannst du dich nicht mehr daran erinnern?»
«Die blode alte Kuh!», schrie er. «Die wird mir das bu?en! Wo ist sie? Wer ist sie?»
«Vergiss es», sagte ich. «Das ist hoffnungslos. Dein gro?tes Problem sind im Augenblick deine Eltern. Wie werden sie das aufnehmen? Wie werden sie dich behandeln? Freundlich und verstandnisvoll?»
Bruno dachte einen Augenblick nach. «Ich glaube», antwortete er, «mein Vater kriegt Zustande.»
«Und deine Mutter?»
«Sie hat Angst vor Mausen», sagte Bruno.
«Dann steckst du wirklich in Schwierigkeiten, oder?»
«Wieso nur ich?», fragte er. «Wie ist es denn mit dir?»
«Meine Gro?mutter wird alles vollkommen verstehen», entgegnete ich. «Sie wei? uber Hexen Bescheid.»
Bruno nahm noch einen Bissen von seinem Brotchen. «Und was schlagst du vor?», fragte er.
«Ich schlag vor, dass wir zuerst einmal zu meiner Gro?mutter gehen und sie um Rat fragen», antwortete ich. «Sie wird genau wissen, was zu tun ist.»
Ich trippelte zu den Turen, die sperrangelweit offen standen. Bruno, der immer noch ein Stuckchen Brot in einer Pfote hielt, folgte mir.
«Wenn wir auf den Korridor kommen», sagte ich, «dann mussen wir wie verruckt rennen. Halt dich immer dicht an der Wand und folge mir. Halt den Mund und pass auf, dass dich keiner sieht. Denk immer dran, jeder, der dich sieht, will dich umbringen.» Ich riss ihm das Brotchen aus der Pfote und warf es weg. «Hier entlang», sagte ich. «Halt dich hinter mir.»
Sowie ich den Ballsaal verlassen hatte, zischte ich ab wie ein Blitz. Ich flitzte den Korridor entlang, sauste durch die Halle und den Leseraum und die Bibliothek und den Rauchsalon und erreichte das Treppenhaus. Schon sprang ich die Treppe hinauf, wobei ich mit gro?ter Leichtigkeit von einer Stufe zur andern hupfte, indem ich mich immer so dicht wie moglich an der Wand hielt. «Bist du bei mir, Bruno?», wisperte ich.
«Genau hinter dir», flusterte er zuruck.
Das Zimmer meiner Gro?mutter und mein eigenes lagen im funften Stock. Das war ein ganz schoner Aufstieg, aber wir schafften ihn, ohne einer Menschenseele zu begegnen, weil naturlich alle den Aufzug benutzten.
