»Reise nicht ab«, drangte ich, »ziehe deine Platzbestellung zuruck und fahre spater mit mir gemeinsam fort.« Poirot erhob sich und sah mich vorwurfsvoll an. »Ach, das ist etwas, was du nicht verstehen kannst! Ich habe mein Wort gegeben, verstehst du das? - Das Wort von Hercule Poirot! Nichts konnte mich jetzt mehr abhalten, es sei denn eine Angelegenheit, bei der es um Leben oder Tod geht.«
»Und das durfte kaum in Betracht kommen«, murmelte ich resigniert, »es sei denn, eine Tur offnete sich in letzter Minute und ein unerwarteter Gast wurde eintreten. «Ich zitierte diese alte Redewendung mit einem leichten Lacheln, als wir, nach kurzem Stillschweigen, beide auf ein Gerausch aufmerksam wurden, welches aus dem Nebenzimmer kam. »Was ist das?« rief ich aus.
»Aber wie kann jemand dort hineinkommen? Au?er dieser Tur gibt es doch keinen anderen Zutritt zu deinem Schlafzimmer!«
»Dein Gedachtnis ist ausgezeichnet, Hastings. Jetzt hei?t es kombinieren.«
»Das Fenster! Aber dann handelt es sich um einen Einbrecher! Es mu? ein Fassadenkletterer sein - doch ich halte es beinahe fur unmoglich bei der Hohe.«
Ich hatte mich bereits erhoben und war auf die Tur zugegangen, blieb jedoch stehen, als ich horte, da? von innen an der Turklinke hantiert wurde.
Langsam offnete sich die Tur. Im Rahmen stand ein Mann. Er war von Kopf bis Fu? mit Staub und Stra?enschmutz bedeckt, sein Gesicht war hager und abgezehrt. Einen Moment starrte er uns an, schwankte und fiel zu Boden. Poirot eilte an seine Seite, sah dann zu mir auf und rief: »Brandy, schnell!«
Ich schuttete eilends etwas Brandy in ein Glas und brachte es ihm. Es gelang Poirot, dem Mann etwas einzuflo?en, und wir hoben ihn gemeinsam auf eine Couch. Nach einigen Minuten offnete er die Augen und schaute sich mit einem beinahe leeren Blick um.
»Was hat Sie hierhergefuhrt, Monsieur?« fragte Poirot. Der Mann offnete die Lippen und sprach in einem eigenartig mechanischen Tonfall: »Monsieur Hercule Poirot, Farraway Street 14.«
»Ja, ja, der bin ich.«
Der Mann schien nichts zu verstehen und wiederholte in genau derselben Weise: »Monsieur Hercule Poirot, Farraway Street 14.«
Poirot versuchte mehrmals Fragen an ihn zu richten, manchmal antwortete er uberhaupt nicht, zuweilen wiederholte er dieselben Worte.
»Ruf bitte Dr. Ridgeway an. Er soll unverzuglich hierherkommen.«
Glucklicherweise war Dr. Ridgeway daheim, und da sein Haus gerade um die Ecke lag, vergingen nur einige Minuten, bis er ziemlich au?er Atem eintraf. »Was ist denn los?« Poirot gab einige kurze Erklarungen, und der Doktor begann unseren seltsamen Besucher zu untersuchen, der weder seine noch unsere Anwesenheit wahrzunehmen schien. »Hm«, sagte Dr. Ridgeway, als er seine Untersuchung beendet hatte, »ein seltsamer Fall!«
»Gehirnentzundung?« fragte ich. Der Doktor schnaubte verachtlich.
»Gehirnentzundung! Gehirnentzundung! Keineswegs; der Mann hat einen Schock gehabt. Er kam von einer hartnackigen Idee getrieben hierher - namlich der, Monsieur Hercule Poirot aufzufinden, und er wiederholte mechanisch dieselben Worte, ohne im geringsten zu wissen, was sie bedeuten.«
»Gedachtnisschwund?« fragte ich forschend. Bei dieser Frage lie? der Doktor kein so emportes Schnauben mehr horen. Zwar antwortete er nicht, doch gab er dem Manne einen Bogen Papier und einen Bleistift. »Wir wollen einmal sehen, was er jetzt tun wird«, bemerkte er. Der Mann reagierte zuerst gar nicht, dann begann er plotzlich fieberhaft zu schreiben. Mit der gleichen Plotzlichkeit hielt er inne und lie? Papier und Bleistift fallen. Der Doktor hob beides auf und schuttelte nur den Kopf.
»Er hat nichts weiter als wiederholt die Zahl Vier hingekritzelt und jede Zahl gro?er als die vorangehende. Ich nehme an, da? er versuchte, 14, Farraway Street, zu schreiben. Es ist ein interessanter - ein sehr interessanter Fall. Konnen Sie ihn bis heute nachmittag hier in Ihrer Wohnung lassen? Ich bin jetzt gerade im Hospital beschaftigt, komme jedoch nachmittags zuruck und kummere mich inzwischen um seine Aufnahme. Der Fall ist zu interessant, um aus den Augen gelassen zu werden. «Ich erklarte, da? Poirot im Begriff sei, abzureisen, und ferner, da? ich ihn bis Southampton begleiten wolle. »Das ist ganz in Ordnung. Lassen Sie den Mann hier, er wird hier gut versorgt sein. Da er vollkommen erschopft ist, wird er wahrscheinlich acht Stunden ununterbrochen schlafen. Ich werde mit Ihrer vortrefflichen Mrs. Pearson sprechen und sie bitten, auf ihn zu achten.«
Als sich Dr. Ridgeway in seiner gewohnten Eile entfernt hatte, packte Poirot seine letzten Sachen zusammen, den Blick stets auf seine Uhr gerichtet.
»Die Zeit verstreicht unglaublich schnell. Komm, Hastings, du sollst nicht sagen, ich hatte nichts fur dich zu tun gehabt. Ein hochst sensationelles Problem, der Mann aus dem Dunkel. Wer ist er, und woher kommt er? Ah,
»Ich will mein moglichstes tun, Poirot«, versicherte ich, »und werde versuchen, dich nach besten Kraften zu unterstutzen. «Seine Erwiderung kam zogernd, als ob er einige Zweifel hegte. Ich nahm den Bogen Papier auf, den Dr. Ridgeway auf den Tisch gelegt hatte.
»Wenn ich daran dachte, einen Roman zu schreiben, so wurde ich deine Betrachtung uber die >Gro?en Vier< zum Anla? nehmen und ihn
Er machte den Eindruck eines Mannes, der unvermutet aus tiefem Schlaf erwacht war. Poirot gab mir einen Wink zu schweigen. Der Mann fuhr fort. Er sprach mit klarer, erhobener Stimme, und etwas in seiner Sprache lie? in mir das Gefuhl aufkommen, als ob er von einem Manuskript ablesen wurde.
»Li Chang Yen kann als das Gehirn der Gro?en Vier betrachtet werden. Er hat die Leitung und ist die treibende Kraft. Er wird daher als Nummer eins bezeichnet. Nummer zwei wird nur selten erwahnt. Seine Unterschrift ist ein S mit zwei senkrechten Strichen - das Zeichen des Dollars - oder auch durch zwei Striche quer durch einen Stern. Es liegt daher die Vermutung nahe, da? Nummer zwei ein Amerikaner ist und die Macht des Geldes reprasentiert. Ohne Zweifel ist Nummer drei eine Frau franzosischer Nationalitat. Es ist durchaus moglich, da? sie zur Halbwelt gehort, jedoch ist nichts Genaues daruber bekannt. Nummer vier...«
Seine Stimme stockte und brach ab. Poirot beugte sich vor. »Ja«, drangte er eifrig, »Nummer vier?«
Seine Augen waren auf die des Mannes gerichtet. Ein unaussprechliches Entsetzen schien aus dessen Blick zu sprechen, seine Zuge waren verzerrt und entstellt. »Der Zerstorer«, hauchte der Mann, dann fiel er in tiefe Bewu?tlosigkeit zuruck.
»Dann denkst du...?« Er unterbrach mich.
»Trage ihn auf das Bett, in mein Schlafzimmer. Ich habe keine einzige Minute mehr zu verlieren, wenn ich noch meinen Zug erreichen will. Nicht etwa, da? ich ihn zu erreichen wunsche, sondern da? ich ihn unbedingt erreichen mu?, denn ich habe mein Wort gegeben. Komm, Hastings!«
Wir uberlie?en unseren geheimnisvollen Besucher der Obhut von Mrs. Pearson und fuhren ab. Wir erwischten unseren Zug noch im letzten Moment.
Poirot war einmal gesprachig und dann wieder schweigsam. Er sa? da, starrte traumversunken aus dem Fenster und horte nicht ein einziges Wort von dem, was ich sagte. Dann, unvermutet wieder zum Leben erwacht, uberschuttete er mich mit Auftragen und sprach davon, da? es notwendig sei, in standigem Kontakt zu verbleiben.
Nachdem wir Woking passiert hatten, schwiegen wir lange Zeit. Bis Southampton hielt der Zug gewohnlich nie, jedoch dieses Mal wurde er auf der Strecke durch ein Signal aufgehalten.
»Ah!
Im nachsten Augenblick hatte er die Wagentur geoffnet und sprang auf den Bahndamm. »Wirf die Koffer