»Es hangt meines Erachtens von der Anordnung ab, mein Freund. Wenn sie der Mittelpunkt des Stuckes ist, wenn sich alles um sie dreht - ja, dann kann sie ihre Rolle spielen. Ich bezweifle jedoch, ob sie einer kleineren Rolle im gleichen Ma?e gerecht wird oder ob sie uberhaupt das spielen kann, was man eine Charakterrolle nennt. Das Stuck mu? um sie und fur sie geschrieben sein. Ich halte sie fur den Frauentyp, der nur Interesse fur sich selbst aufbringt.« Er schaltete eine Pause ein, um ganz unerwartet hinzuzufugen: »Derartige Menschen laufen im Leben gro?e Gefahr.«
»Gefahr?« wiederholte ich erstaunt.
»Ich habe ein Wort gebraucht, das Sie uberrascht, mon ami. Gefahr, ja. Weil eine solche Frau nur eins sieht - sich selbst. Nichts sieht sie von den Gefahren und Zufallen, von denen sie umgeben ist - die Million widerstreitender Interessen und Beziehungen des Daseins. Und deshalb fruher oder spater, Unheil.«
Das Ungewohnliche dieses Gedankengangs fesselte mich um so mehr, als mir selbst ein solcher Einfall nie gekommen ware.
»Und die andere?« begehrte ich zu wissen.
»Miss Adams?« Wieder streifte Poirots Blick den Tisch der jungen Amerikanerin. »Nun, was wunschen Sie uber sie zu horen?« lachelte er dann.
»Nur, welchen Eindruck sie auf Sie macht.«
»Mon cher, bin ich heute abend vielleicht ein Wahrsager, der in der Handflache liest und den Charakter deutet?«
»Wer verstande das wohl besser als Sie!«
»Nett, da? Sie mir so viel zutrauen, Hastings. Es ruhrt mich tief. Wissen Sie nicht, mein Freund, da? jeder einzelne von uns ein dunkles Geheimnis ist? Ein Sammelsurium von sich widersprechenden Leidenschaften und Begierden und Nei-gungen? Mais oui, c'est vrai. Da fallt man so ein kleines Urteil, aber neunmal von zehn trifft man daneben.«
»Nicht, wenn man Hercule Poirot hei?t.«
»Ja, sogar Hercule Poirot! Oh, Sie meinen immer, ich sei eitel und eingebildet. Falsch, Hastings. Ich versichere Ihnen, da? ich in Wahrheit ein sehr bescheidener Mensch bin.«
»Sie - bescheiden!« lachte ich.
»Aber wirklich. Ausgenommen naturlich, da? ich - wozu es leugnen? - ein wenig stolz auf meinen Schnurrbart bin. Nirgendwo in London habe ich einen Bart gesehen, der sich mit meinem messen kann.«
»Das glaube ich gern«, sagte ich trocken. »Aber wollen wir nicht lieber von Carlotta Adams sprechen? Ihr Urteil uber sie, Poirot.«
»Sie ist Kunstlerin durch und durch«, erklarte er schlicht. »Deckt das nicht alles?«
»Mithin geht sie gefahrlos durchs Leben, wie?«
»So einfach liegen die Dinge nicht«, verwies mich Poirot ernst. »Auf uns alle kann unversehens Ungluck herabsturzen. Aber was Ihre Frage betrifft, so glaube ich, da? Miss Adams Erfolg beschieden sein wird. Sie ist schlau und noch etwas mehr. Zweifellos haben Sie bemerkt, da? sie Judin ist?«
Bisher hatte ich es zwar nicht bemerkt, aber nun, da mein Freund es erwahnte, sah ich auch die schwachen Spuren semitischer Vorfahren.
»Und da wir von Gefahren sprechen, so konnte fur sie die Liebe zum Geld gefahrlich werden. Liebe zum Geld lenkt solch einen Menschen oft von dem klugen und vorsichtigen Pfad ab.«
»Geld lenkt uns alle leicht ab.«
»Richtig, Hastings. Sie jedoch oder ich wurden die Gefahr sehen; wir konnten das Fur und Wider abwagen. Wenn Sie sich aber zuviel aus dem Geld machen, so sehen Sie nur das Geld -alles ubrige bleibt in Schatten gehullt.«
Sein tiefer Ernst reizte mich zum Lachen.
»Esmeralda, die Zigeunerkonigin, ist heute in guter Form«, hanselte ich.
»Psychologie ist ein ungemein fesselndes Gebiet«, gab Poirot unbewegt zur Antwort. »Man kann sich nicht mit Verbrechen befassen, ohne sich auch gleichzeitig mit Psychologie zu beschaftigen. Nicht um die eigentliche Mordtat, sondern um das, was hinter ihr liegt, geht es dem Sachverstandigen. Verstehen Sie mich, Hastings?«
Ich versicherte ihm, da? ich ihn voll und ganz verstunde.
»Sooft wir namlich einen Fall zusammen bearbeiten, habe ich stets die Wahrnehmung gemacht, da? Sie mich zu physischer Tatigkeit anstacheln. Ich soll Fu?spuren messen, ich soll Zigarettenasche analysieren, ja, mich sogar auf den Bauch legen, um irgendeine Einzelheit zu prufen. Sie vermogen sich einfach nicht vorzustellen, Hastings, da? man der Losung eines Ratsels naherkommen kann, wenn man sich mit geschlossenen Augen in einen Lehnsessel zurucklehnt. Dann sieht man mit den Augen des Geistes.«
»Ich nicht, Poirot. Wenn ich mich mit geschlossenen Augen in einen Sessel zurucklege, passiert mir unweigerlich nur eins!«
»Das habe ich bemerkt, mon cher. Seltsam! In solchen Momenten mu?te Ihr Hirn doch fieberhaft arbeiten und nicht in faulenzerhafte Ruhe versinken. Wie anregend ist diese Gehirntatigkeit! Das Benutzen der kleinen grauen Zellen ist geistiger Genu?. Ihnen und ihnen allein darf man sich anvertrauen, wenn man durch dichten Nebel zur Wahrheit gelangen will ...«
Ich furchte, da? ich die Gewohnheit angenommen habe, meine Aufmerksamkeit auf andere Dinge zu richten, sobald Poirot seiner kleinen grauen Zellen Erwahnung tut. Ist das verwunderlich, da ich das alles schon so haufig habe horen mussen .?
Diesmal fluchtete sich meine Aufmerksamkeit zu den vier Personen, die am Nachbartisch sa?en. Und als Hercule Poirots Selbstgesprach endlich zu einem Ende gelangte, warf ich schmunzelnd hin:
»Sie haben eine Eroberung gemacht. Die blonde Lady Edgware la?t Sie kaum aus den Augen.«
»Fraglos hat man sie daruber aufgeklart, wer ich bin«, sagte mein Freund, mit dem Versuch, sich ein bescheidenes Aussehen zu geben, was ihm grundlich mi?lang.
»Ich meine, es gilt Ihrem beruhmten Schnurrbart. Seine Schonheit hat sie berauscht.«
»Spotter!« Er streichelte ihn verstohlen. »Oh, diese Zahnburste, die Sie tragen, Hastings, ist abscheulich - ist eine Grausamkeit, ein willkurliches Verkummern der Gaben der Natur. Bekehren Sie sich zu einer besseren Einsicht - ich flehe Sie an.«
»Wei? Gott, Lady Edgware ist aufgestanden und will anscheinend mit uns sprechen«, sagte ich, ohne auf Poirots Beschworung zu achten. »Martin Bryan macht offenbar den Versuch, sie zuruckzuhalten, aber sie hort nicht auf ihn.«
Tatsachlich kam Jane Wilkinson jetzt mit raschem Schritt zu uns heruber. Poirot hatte sich erhoben, verbeugte sich, und ich tat dasselbe.
»Monsieur Hercule Poirot, nicht wahr?« sagte die weiche, heisere Stimme.
»Zu Ihren Diensten.«
»Monsieur Poirot, ich mu? mit Ihnen sprechen.«
»Bitte, Madame, wollen Sie nicht Platz nehmen?«
»Nein, nein, nicht hier. Privat mu? ich Sie sprechen. Wir wollen hinauf in mein Appartement gehen.«
Inzwischen war auch Martin Bryan ihr gefolgt, der nun mit mi?billigendem Lachen das Wort ergriff.
»Sie mussen sich ein wenig gedulden, Jane. Wir sowohl als auch Mr. Poirot haben gerade angefangen zu essen.«
Aber eine Jane Wilkinson lie? sich nicht so leicht von etwas abbringen.
»Was schadet das, Bryan? Man wird uns eben oben weiterservieren. Veranlassen Sie das Notige, ja? Und, Bryan ...«
Sie ging dem Schauspieler, der sich schon umgedreht hatte, nach und schien ihn zu irgend etwas uberreden zu wollen, das ihm widerstrebte. Wenigstens runzelte er die Stirn, bis er sich schlie?lich mit einem Achselzucken fugte.
Ein- oder zweimal hatte er wahrend ihres Drangens nach dem Tisch hinubergeschaut, an dem Carlotta Adams sa?, und ich uberlegte im stillen, ob vielleicht die junge Amerikanerin der Gegenstand von Janes Uberredungskunst sei.
Nach gewonnener Schlacht kehrte Jane Wilkinson strahlend zu uns zuruck. »Jetzt werden wir sofort nach oben gehen«, ordnete sie an und widmete mir ein betorendes Lacheln.
Ob uns ihr Plan genehm war oder nicht, daruber dachte sie gar nicht nach, sondern schleppte uns ohne den